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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E8001D#1997/5#4410* | |
Dossier title | Europäische Integration (1993–1993) | |
File reference archive | 371.0 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2005/342#1883* | |
Dossier title | Allgemeines (1993–1996) | |
File reference archive | B.15.21 • Additional component: Belgique |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E7001C#2001/86#1071* | |
Dossier title | Schlussbericht von Tscharner über seine Mission als schweiz. Botschafter bei der EG (1993–1993) | |
File reference archive | 2520-34 |
dodis.ch/64664
Schlussbericht des Chefs der schweizerischen Mission bei den Europäischen Gemeinschaften in Brüssel, Botschafter von Tscharner1
Teil II: Die Schweiz und die EG
[...]2
Meine Brüsseler Mission umfasste die Zeitspanne zwischen dem 1987 in eine konkrete Phase tretenden Aufbau der Folgearbeiten zum EG–EFTA Ministertreffen in Luxemburg von April 19843 und dem Versuch der Schweiz, an Stelle des in der Abstimmung vom 6. Dezember 1992 gescheiterten Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR)4 eine Politik bilateraler Sektorabmachungen mit der Europäischen Gemeinschaft zu verwirklichen. Die Integrationspolitik der Schweiz in diesen sechs Jahren als Erfolg zu bezeichnen, verbietet sicher die Ehrlichkeit. Zu behaupten, sie sei überhaupt nicht weitergekommen, wäre indessen ein zu harsches Urteil und würde namentlich dem beachtlichen Zuwachs an Interesse, das die EG und ihre Politiken in der Schweiz gefunden haben, und der mittlerweile weitverbreiteten Einsicht in die auch für die Schweiz hohe Relevanz des ganzen Prozesses nicht entsprechen.
Eine möglichst breite Beteiligung an den durch die Vollendung des Binnenmarkts gekennzeichneten gesamt-westeuropäischen Liberalisierungsbemühungen, grenzüberschreitender Wettbewerb, Dialog und Zusammenarbeit in einem breiten Spektrum von Bereichen und schliesslich auch konkrete Solidarität sind zu festen Pfeilern der schweizerischen Europapolitik geworden. Die Entwicklung und auch die Debatte sind nicht abgeschlossen; das Problem bleibt der Schweiz gestellt. Wenn der europäische Integrationsprozess nicht einer krisenhaften Stagnation oder gar dem Zerfall anheim fällt, wird auch die Schweiz ihren Weg in die Gemeinschaft und in die Mitverantwortung für das Schicksal dieses, unseres Kontinents finden müssen.
Als ich 1987 meine Arbeit in Brüssel aufnahm, oblag es mir als Missionschef des EFTA-Präsidiallandes, die damals in eine aktive Phase tretenden Verhandlungen zwischen den EFTA-Ländern und der EG-Kommission im Nachgang zum gemeinsamen Ministertreffen vom April 1984 in Luxemburg zu koordinieren. Der Schwerpunkt lag eindeutig auf verschiedenen Verbesserungen des Freihandelsregimes, während die Öffnung im Bereich der übrigen Binnenmarktfreiheiten sehr bescheiden war. Wer spricht heute noch von jenem Versuch, den EG–EFTA Beziehungen in einem multilateralen Rahmen etwas mehr Breite, etwas mehr Tiefe einzuflössen? Galt es 1987 nicht bereits als grosser Erfolg, dass zwischen den beiden Gruppen ein einheitliches Verzollungsformular eingeführt werden konnte?6
Im Mai, an einem Treffen mit den EFTA-Ministern in Interlaken liess die EG durch den Mund von Kommissär Willy De Clercq verkünden, die Zusammenarbeit mit den EFTA-Ländern dürfe weder die Beschlussfassungsautonomie der EG, noch das Funktionieren der EG-Institutionen und auch nicht die Homogeneität des Binnenmarktrechts («acquis communautaire») beeinträchtigen.7 Die Fortschritte waren langsam, ein klares Konzept fehlte. Die Schweiz zeigte sich aktiv, interessiert, insistierte aber gleichzeitig mit einer Prise Misstrauen gegenüber der Multilateralisierung und der ansatzweisen Globalisierung darauf, dass für sie der «bilaterale Weg» Ebenbürtigkeit bewahre.
Ein von mir im Frühjahr 1988 ausgearbeiteter Vorschlag eines umfassenden «Accord de coopération européenne (ACE)» zwischen der EG und den EFTA-Ländern erschien den Lesern in Bern wohl als zu kühn, deshalb als naiv (in der Schweiz eine Todsünde).8 Als Delors einige Monate später mit seiner Evokation eines «partenariat plus structuré» wesentlich weiter ging und die volle Beteiligung der EFTA-Länder am Binnenmarkt auf der Grundlage des Assoziierungsartikels des EG-Vertrags vorschlug, erwiesen sich allerdings die EFTA-Länder sofort zum Aufbruch zu neuen Horizonten bereit.9 (Quod licet Jovi, non licet bovi!)
Dies ist nicht der Platz, um die Geschichte der Verhandlungen zur Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsraumes zwischen der EG und den Staaten der EFTA nachzuzeichnen. Was in der Erinnerung haften bleibt, ist der eigenartig defensive Verhandlungsstil der Schweiz. Während für die übrigen EFTA-Länder die Aussicht auf den ungehinderten Zugang zum EG-Binnenmarkt alle übrigen Gesichtspunkte verdrängte, machte sich die Schweiz zur Verteidigerin einer Reihe von dogmatischen Positionen, die die rechtliche Natur des künftigen EWR-Abkommens und die zu schaffenden Institutionen betrafen.11 Beispielsweise hielt sie lange, u. a. unter Berufung auf einen Hinweis Delors auf «gemeinsame Beschlussfassung», an der Fiktion fest, dass das künftige EWR-Recht als Völkerrecht den EG-internen Normen übergeordnet sein müsse.12 Daher die Forderung nach einer eigenständigen EWR-Rechtsprechung und nach formaler Gleichberechtigung der EFTA-Länder mit der EG im Rechtsetzungs- und Rechtsprechungsprozess. Negoziatorisch im klassischen Sinn und nicht partizipativ war auch die zunächst erhobene Forderung nach permanenten Ausnahmen und nach umfassenden Schutzklauseln. Dieses von dem, was die EG anbieten konnte und wollte, abweichende Grundmuster führte dazu, dass der Fortgang der Verhandlungen begleitet war von einer langen Serie schweizerischer Rückzüge.13
Diese Feststellung ist nicht als Kritik zu verstehen. Der ganze EWR-Prozess stellte für die schweizerische Europapolitik stets etwas dar, was leicht jenseits dessen lag, was jeweils innenpolitisch noch gerade nachvollziehbar erschien. Somit musste sich die Schweiz stets unter Druck setzen lassen: von der EG, von den übrigen EFTA-Ländern, vom eigenen Wunsch, den Prozess nicht zum Stillstand zu bringen und überhaupt von der «Logik der Dinge». Die volle Akzeptanz des EWR-Konzepts erschien erst erreicht, als es darum ging, das Verhandlungsergebnis, so wie es schliesslich schwarz auf weiss und von der Schweiz mitunterzeichnet vorlag, und damit die seit drei Jahren verfolgte Politik im Parlament und in der Öffentlichkeit zu verteidigen. Im Bundesrat selbst konnte offenbar das Unbehagen mit dem EWR am Ende nur durch die Festlegung des Zieles der EG-Vollmitgliedschaft überwunden werden.14 Damit war zwar eine konzeptionelle Zweideutigkeit beseitigt; sie wurde jedoch ersetzt durch die mindestens ebenso schwerwiegende Vermutung, dass in der Schweiz (noch) keine Mehrheit für eine Beitrittspolitik zu finden war.
Persönlich teilte ich meist die Einsicht in die intellektuelle und juristische Schlüssigkeit der schweizerischen Verhandlungspositionen und bemühte mich, sie wo immer nötig und möglich zu erläutern und zu verteidigen. Es war allerdings oft die Mission, die in ihren Brüsseler Kontakten die negoziatorische Aussichtslosigkeit gewisser Argumentationslinien oder Forderungen der Schweiz festzustellen hatte.
Der «schwarze Sonntag» (Bundesrat Delamuraz) des 6. Dezember 199215 stellte auch für die Arbeit dieser Mission einen tiefen Einschnitt dar. Über Nacht war die Schweiz, die vorher in der EFTA-Gruppe und in den gemeinsamen Verhandlungen mit der EG eine führende Rolle gespielt hatte und unter den EG-Beitrittskandidaten das grösste wirtschaftliche Gewicht auf die Waagschale legen konnte, zum Aussenseiter, zu einem einsameren und kleineren Land geworden. Man sprach damals in der Schweiz gerne vom «Verständnis», das das Ausland dem direkt-demokratischen Entscheid von Volk und Ständen entgegenbrachte.16 Das ist indessen eine diplomatische Floskel. Die Reaktionen, die wir hier registrieren konnten, reichten von der Gleichgültigkeit bis zur Irritation oder Bestürzung; am häufigsten, namentlich unter unseren besten Freunden, waren jedoch Ausdrücke des aufrichtigen, grossen Bedauerns.17
Nach den Referendumskampagnen in Dänemark, Irland und Frankreich anerkannte zwar jedermann gerne, dass sich in letzter Zeit unter anderem – aber nicht nur – im Gefolge der Rezession in Europa neue Formen der Euroskepsis oder Europhobie entwickelt hatten,18 dass alte Ängste und neue Unsicherheiten Abwehrreflexe auszulösen vermochten, dass die Mediatisierung der Politik ihren Beitrag zur Verwirrung der Bürger leistet. Aber diese Fakten anerkennen, heisst nicht, für diese Tendenzen Verständnis zeigen oder sie gewissermassen als neue politische Realitäten hinzunehmen. Hier in Brüssel jedenfalls geht man davon aus, dass Europa seine eigenen Dämonen unbedingt wird bezwingen müssen, wenn es als Kontinent im kommenden politischen Chaos überleben will.
Was die Schweiz anbelangt, so gehen unsere Freunde davon aus, dass trotz des 6. Dezembers der Weg der Schweiz in die EG-Mitgliedschaft vorgezeichnet ist, es somit nur eine Frage der Zeit sein kann, bis unser Land die ihr angemessene Formel für eine umfassende Beteiligung am Wirtschaftsraum Europa – zu dem sie de facto ohnehin längst gehört – finden wird. Die Mission hatte sich natürlich an die offizielle These von den drei Optionen zu halten,19 die sich die Schweiz offen halten will.
Wichtig war, dass der Bundesrat die inhaltliche Kontinuität unserer Integrationspolitik klarmachte: Streben nach «Eurokompatibilität» unserer Rechtsordnung, interne Reformen im Sinne der Marktöffnung und des Wettbewerbs – das Interesse der EG konzentriert sich zur Zeit auf den schweizerischen Arbeitsmarkt –,20 andauerndes Interesse an einem Abbau der innereuropäischen Schranken und an einer breiten Zusammenarbeit, Bereitschaft zur innereuropäischen Solidarität. Jeder Verdacht, die Schweiz strebe den Alleingang an, suche Profit aus einer Art von quasi-off-shore-Status zu ziehen – ein Verdacht, der uns grossen Schaden zufügen müsste – konnte widerlegt werden.
Zuerst ein Wort zum Versuch der Schweiz, nach dem 6. Dezember 1992 die Fäden wieder anzuknüpfen und auf einer Reihe von Gebieten bilaterale Abmachungen mit der EG zu treffen.22 Anlässlich eines Besuches, den die Bundesräte Delamuraz und Cotti der EG-Kommission Ende Juni 1993 abstatteten,23 plädierten die beiden Vertreter der Schweiz einerseits für einen raschen Beginn konkreter Verhandlungen, machten gleichzeitig aber auch klar, dass sie in einer Politik der punktuellen Problemlösung keinen Ersatz für eine umfassende, multilaterale Beteiligung der Schweiz an der europäischen Integration erblickten; der EG-Beitritt bleibe das Ziel der Schweiz.
Im Augenblick, da ich diese Zeilen niederschreibe, ist es noch sehr schwierig, die Aussichten der verschiedenen schweizerischen Anträge auf sektorielle Verhandlungen oder deren Zeitbedarf zu beurteilen. Ich pflege auf entsprechende Fragen zu antworten, es lohne sich gewiss, ja sei unumgänglich, diesen einzigen im Augenblick offenstehenden Weg gewissermassen im Masstab eins zu eins zu erkunden. Passivität wäre nicht zu verantworten. Der Prozess dürfte jedoch zähflüssig und zeitaufwendig sein.
Die Gründe hierfür sind nicht nur, dass die EG im Augenblick andere Prioritäten hat, dass ihr die personellen Ressourcen fehlen oder dass das EWR-Abkommen, an das sich inhaltlich auch künftige Abmachungen zwischen der Schweiz und der EG werden anlehnen müssen, noch gar nicht in Kraft steht.24 Wesentlicher dürfte die Einsicht sein, dass zumindest einige Mitgliedstaaten dem Versuch der Schweiz, sich die Rosinen aus dem verschmähten EWR-Kuchen zu picken, wenig Sympathie abgewinnen können und selbst mit Gegenkonzessionen, etwa auf dem Gebiet des Agrarhandels oder der Freizügigkeit der Arbeitskräfte, nur schwer zu ködern sein werden.
Die von der Kommission entwickelte Idee, diesen Schwierigkeiten durch die Ausarbeitung einer «Gesamtschau» der Beziehungen Schweiz–EG zu begegnen, muss ihre Bewährungsprobe erst noch bestehen. Ein strukturiertes Verhandlungspaket – das auch leicht zur Zwangsjacke werden könnte – soll es jedenfalls nach Aussagen der Kommission nicht sein. Es wird sich auch erweisen müssen, wie im Rahmen einer von der Schweiz angestrebten bilateralen Beteiligung an EG-Freizügigkeitsregelungen die Überwachung, die Sicherstellung der Wettbewerbsregeln und die Beteiligung an der legislativen Weiterentwicklung befriedigend zu lösen sind, ohne eine im Vergleich zum EWR mit seinem Zwei-Säulen-Modell noch viel ausgeprägtere Satellitisierung zu akzeptieren.25 In einigen Monaten wird man nüchtern Bilanz ziehen.26
Es gibt übrigens nicht wenige Funktionäre der EG-Kommission, die offen zugeben, ihre Lust, der Schweiz entgegenzukommen, sei gering; sie wollen angeblich nicht mit raschen Konzessionen die von den EWR-Gegnern in die Welt gesetzte Illusion nähren, es gehe auch mit ein paar bilateralen Abkommen. Die Mission versuchte, dem entgegenzuhalten, wie wichtig gerade auch für den späteren Erfolg von globaleren Optionen in der schweizerischen Öffentlichkeit das Bild einer EG sei, mit der man sprechen, verhandeln, Lösungen suchen und finden könne.
Mit grosser Skepsis erfüllt mich die in der Schweiz hier und da geäusserte Meinung, die Antwort auf unser Dilemma liege in einem bilateralen «Gesamtabkommen», womit gleichzeitig auch die Optionen EWR und EG-Mitgliedschaft vom Tische wären. Was 1987 oder 1988 vielleicht noch sinnvoll gewesen wäre, erscheint mir heute als wenig realistisch. Gewiss kann man gewisse Abmachungen bündeln, und auch wir müssen stets die Frage nach dem Gesamtgleichgewicht stellen. Sobald man jedoch über punktuelle Einzelvereinbarungen hinausgreifen will, ist namentlich im zentralen Binnenmarktbereich die Problematik der Multilateralität und der Globalität nicht zu umgehen; die Antwort war und ist der EWR und mittelbar die EG-Mitgliedschaft. Es gibt da kein integrationspolitisches «Ei des Kolumbus» zu entdecken.
Ich gehörte, wie bereits erwähnt, zu jenen, die sich zwar von Anfang an für den EWR einsetzten, allerdings die gewählte Form einer tel quel-Übernahme des Binnenmarktrechts und einer durch den sogenannten EFTA-Pfeiler kaum gemilderten Unterordnung unter die gemeinschaftlichen Rechtsetzungs-, Rechtsüberwachungs- und Rechtsprechungsverfahren von Anfang an als problematisch und nur als Übergangsregime zur EG-Mitgliedschaft mit vollen Rechten und Pflichten verantwortbar empfanden.28 Dementsprechend begrüsste ich auch die Stellung eines Gesuchs der Schweiz um Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Der 26. Mai 1992, als ich, begleitet von meinem ersten Mitarbeiter und dem Diplomatenstagiaire,29 dem Vertreter des EG-Präsidiallandes Portugal30 das entsprechende Schreiben des Bundesrates übergeben durfte, bleibt mir als grosser Tag in Erinnerung.31
Den Zeitpunkt dieses Antrags hielt ich – ausdrücklich aus der Perspektive der Aussenfront – insofern als richtig, als im Sommer 1992 die Weichen für Verhandlungen mit den an einem Beitritt interessierten EFTA-Länder gestellt wurden.32 Die Führung von Beitrittsverhandlungen parallel zu den übrigen EFTA-Länder und der synchrone Beitritt hätten zweifellos die Verteidigung spezifischer schweizerischer Anliegen erleichtert. Dazu kommt, dass die Teilnahme der Schweiz an der in Maastricht grundsätzlich beschlossenen weiteren Regierungskonferenz von 1996 zur Überprüfung zentraler institutioneller Elemente der Union nach ihrer Erweiterung auf 16 oder 17 Mitgliedstaaten in hohem Masse erwünscht erschien.
Es kann meines Erachtens dem Bundesrat nicht zum Vorwurf gereichen, dass er die Beteiligung am EWR in die strategische Perspektive einer Mitgliedschaft und damit einer vollen politischen Mitverantwortung der Schweiz im künftigen Integrationsprozess stellte. Andere Verhaltensweisen oder Sprachregelungen, also etwa den EWR als dauerhafte Integrationsform sui generis darzustellen oder ernsthafte Beitrittsabsichten kurz nach einer gewonnenen EWR-Schlacht zu «enthüllen», hätten wohl kaum ein besseres innenpolitisches Klima hinterlassen als die Offenlegung der Gesamtstrategie bereits im Oktober 1991 in Luxemburg an einer Pressekonferenz der Bundesräte Delamuraz und Felber.33
Wenn man das Problem nicht unter taktischen Gesichtspunkten betrachtet, sondern sich ernsthaft die Frage stellt, wie es kommt, dass sich eine gute Hälfte der Mitbürger mit dem Integrationsprozess immer noch so schwer tun, kommt man doch wohl zum Schluss, dass die Abwehrhaltung vieler Schweizer mit ihrer Grundeinstellung zum Staat Schweiz etwas zu tun hat. Demokratie bedeutet für sie Verantwortung tragen für das unmittelbare Gemeinwesen. Übergeordnete Strukturen – und das beginnt bereits beim Kanton! – mögen notwendig sein, sollen sich aber auf das Notwendigste beschränken. Eine Ausnahme bildet da wohl die Armee für jene, die die Erstellung der Verteidigungsbereitschaft gegen äussere Bedrohung während des letzten Krieges noch als Schlüsselerlebnis mit sich tragen. Diese Epoche war nicht weniger prägend, weil es ja schliesslich gar nicht zum Äussersten, zum Abwehrkampf oder gar zur Besetzung des Landes kam, wie dies in EG-Gründerstaaten wie Frankreich oder den Benelux-Ländern der Fall war.
Aus dieser Sicht war das Ausland stets schon der Inbegriff des ganz Anderen. Wo Könige in Palästen residieren, wo Diktatoren Massenparaden abhalten, wo Beamtenheere Untertanen verwalten, da fühlt sich der freie Schweizer nicht zuhause; er suchte und fand in der Vergangenheit oft auch Identität in der Abgrenzung. Die richtigen Schlussfolgerungen aus den innereuropäischen Kriegen ziehen sollen jene, die sie verschuldet haben. Von fremden Machthabern privilegierten Marktzugang für die eigenen Erzeugnisse zu erhoffen, wäre naiv; für Qualitätsware und mit Fleiss erbrachte Sonderleistungen wird eh noch eine Nachfrage übrig bleiben. Die Schweiz soll sich nicht selber als «quantité négligeable» betrachten. Ganz besonders misstrauisch bleibt der Schweizer gegenüber anderen politischen Kulturen in Nachbarländern, die dem gleichen Sprachraum wie der eigene schweizerische Landesteil angehören; die Ähnlichkeit mahnt zur Vorsicht, löst oft Irritationen, aber auch schlecht getarnten Neid aus.
Die direkte Demokratie schweizerischer Prägung macht es ausserordentlich schwierig, Überreste dieser Mentalität zu überwinden, denn der Schweizer Bürger will keine Magistraten oder Beamten, die ihn belehren, ihn für neue Politiken zu begeistern suchen, auch keine, die allzu häufig in der Welt umherreisen.34 Der Mann seines Vertrauens soll vielmehr so sein und so sprechen, wie man selber ist und spricht, oder wie der Nachbar ist und spricht, den man seit eh und je kennt; der Regierungsmann soll den Bürger vertreten, ihn nicht beherreschen.
Man wird daraus die Schlussfolgerung ziehen müssen, dass die emotionale und politische Bewältigung der Interdependenz, d. h. die Akzeptanz der Betroffenheit und der Notwendigkeit einer die Nationen übergreifenden politischen Gestaltung in der Schweiz ein ungewöhnlich langsamer Prozess sein wird. Die an sich uralte und auch in der privaten Sphäre gültige Einsicht, dass Integration, Kommunikation, Teilhabe und letztlich Mitverantwortung und Hingabe die Wahrung der eigenen Identität erleichtern können und nicht bedrohen müssen, wird nicht so bald breite Kreise erfassen. Die Versuchung, Integration vor allem unter wirtschaftlichen Nützlichkeitserwägungen zu beurteilen und nicht als grosses politisches Projekt zu begreifen, wird stets gegenwärtig sein. Damit neue Aufbrüche möglich erscheinen, müssen wohl zwei Grundvoraussetzungen erfüllt sein:
Man wird erstens davon auszugehen haben, dass sich die Schweiz nie an die Spitze des Integrationsprozesses setzen wird. Sie wird vielmehr auf das Geschehen reagieren, sie wird – mit einer Prise lehrerhafter Kritiklust – sehen wollen, ob das Ganze und seine Bestandteile auch wirklich funktionieren. Es werden deshalb an die Gemeinschaft, später an die Union, hohe Anforderungen gestellt werden. Es wird nicht genügen, darauf hinzuweisen, es handle sich eben um Menschenwerk, und Kompromisse wie auch Halbheiten seien unvermeidlich. Die Schweiz wird erst zu einer aktiven Integrationspolitik finden, wenn (und falls) von den Brüsseler Institutionen wieder eine starke Ausstrahlung und Dynamik ausgeht, wie dies in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre der Fall war.
Zu dieser neuen Attraktivität wird neben der Inkraftsetzung der Unionsverträge namentlich der Erfolg der laufenden Erweiterungsverhandlungen gehören. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Regierung und Parlament der Schweiz eine globale Lösung, den EWR- und/oder den EG-Beitritt politisch wieder zur Debatte stellen, bevor klar geworden ist, ob namentlich Österreich und wohl auch Schweden tatsächlich EG-Mitglieder werden können. Der Umstand, dass in allen kandidierenden EFTA-Ländern Volksabstimmungen und vorher natürlich breite öffentliche Debatten stattfinden werden, lässt die Vermutung zur Gewissheit werden, dass vor diesen Entscheiden in der Schweiz keine entscheidenden Weichenstellungen möglich sein werden.35
Die zweite Voraussetzung wird sein, dass die Verwaltung, die Wirtschaft und ihre Interessenvertreter, die politischen Parteien und staatsbürgerlichen Organisationen, die Universitäten und die Medien das Thema «Europa» nicht fallen lassen, sondern es mit einer Intensität und einer Seriosität weiter bearbeiten, wie sie fast nur in der Schweiz denkbar ist. In dieser Hinsicht ist in den Jahren 1991 bis 1993 viel geleistet worden. Entgegen einem häufig auftauchenden Klischee verdient die Informationsarbeit des Bundes insgesamt gute Noten.36 Aber auch hier wird es wichtig sein, jetzt in den Anstrengungen nicht nachzulassen. Auch die überaus gründliche Aufarbeitung der EWR-Materie durch alle angesprochenen Zweige der Bundesverwaltung und der kantonalen Verwaltungen war bemerkenswert. Es handelt sich hier um einen Gewinn, der nicht vertan werden darf.
Die vertiefte Auseinandersetzung mit den Implikationen der EG-Mitgliedschaft wird namentlich Sachbereiche erfassen müssen, die in offiziellen Verlautbarungen bisher mit grosser Diskretion abgehandelt wurden. Dazu gehören die sicherheitspolitischen Aspekte der Politischen Union, die Perspektiven einer gemeinsamen Währung oder die finanziellen und fiskalischen Implikationen der EG-Mitgliedschaft. Die Aufarbeitung dieser Themen darf nicht defensiv, nicht als Reaktion auf Einwände und Angriffe der EG-Gegner erfolgen.
Die Hauptverantwortung für die weiteren Schritte liegt eindeutig bei der Regierung. Es wäre fatal, wenn die EG-Mitgliedschaft allzu lange lediglich als «Option» im integrationspolitischen Instrumentarium mitgeschleppt würde. Ein solches Verhalten käme einer Negation des Strategiebedarfs gleich und müsste die Schweiz unweigerlich und innerhalb relativ kurzer Zeit in die Isolation führen. Der Bundesrat wird nicht darum herum kommen, auch gegenüber Parlament und Öffentlichkeit zur klaren Aussage zurückzukehren, diese Mitgliedschaft bleibe das eigentliche Ziel unserer Bemühungen. Nur unter dem Eindruck dieses Führungswillens der Regierung kann der mit der EWR-Episode unterbrochene politische Prozess der Reifung und der Selbstfindung weitergehen.
[...]37
- 1
- CH-BAR#E7001C#2001/86#1071* (2520-34). Dieser Schlussbericht wurde vom Chef der schweizerischen Mission bei den Europäischen Gemeinschaften in Brüssel, Botschafter Benedikt von Tscharner, verfasst und unterzeichnet. Dieser Schlussbericht, der nicht dem Standard der Schlussberichte schweizerischer Vertretungen im Ausland entsprach, wurde am 24. September 1993 an die Vorsteher des EDA und des EVD, die Bundesräte Flavio Cotti und Jean-Pascal Delamuraz, versendet. Die hier edierte Kopie ist diejenige, die Bundesrat Delamuraz erhalten hat. Der Bericht wurde in Kopie auch an alle anderen Mitglieder des Bundesrates, die Staatssekretäre sowie zahlreiche Botschafter und Direktoren weitergeleitet. Für die vollständige Versandliste und das Begleitschreiben von Botschafter von Tscharner vgl. das Dossier CH-BAR#E7001C#2001/86#1071* (2520-34).↩
- 2
- Für das vollständige Dokument vgl. das Faksimile dodis.ch/64664. Der Teil I des Berichts beschäftigt sich mit der Geschichte der Europäischen Gemeinschaften zwischen 1987 und 1993 bes. mit Blick auf das neue internationale Umfeld, den Binnenmarkt, die Landwirtschaftspolitik, die Erweiterung sowie die Transformation der Gemeinschaft zur Union.↩
- 3
- Vgl. dazu die Notiz des Integrationsbüros EDA/EVD vom 10. April 1984, dodis.ch/50767.↩
- 4
- Vgl. dazu DDS 1992, Dok. 58, dodis.ch/60622, sowie die thematische Zusammenstellung Abstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum (1992), dodis.ch/T2163.↩
- 5
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Luxemburger Treffen und Folgen (1984), dodis.ch/T2063.↩
- 6
- Vgl. dazu die Zusammenstellung dodis.ch/C2554↩
- 7
- Für die EFTA-Ministertagung vom 19. und 20. Mai 1987 in Interlaken vgl. die BR-Prot. Nr. 768 vom 6. Mai 1987, dodis.ch/59705, sowie Nr. 944 vom 27. Mai 1987, dodis.ch/59701.↩
- 8
- Vgl. dazu die Dossiers CH-BAR#E2210.1-02#1998/350#115* und CH-BAR#E2210.1-02#1998/350#116* (777.150).↩
- 9
- Für die Rede von EG-Kommissionspäsident Jacques Delors vor dem Europäischen Parlament vom 17. Januar 1989 vgl. die Zusammenstellung dodis.ch/C2025. Für die schweizerische Reaktion darauf vgl. die drei BR-Prot. vom 13. März 1989: Nr. 444, dodis.ch/55843; Nr. 445, dodis.ch/55844; und Nr. 446, dodis.ch/55845. Vgl. auch die Verhandlungsprotokolle der 4. bzw. 5. ausserordentlichen Sitzung des Bundesrats vom 30. August 1989, dodis.ch/66186, bzw. 18. Oktober 1989, dodis.ch/59853.↩
- 10
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Verhandlungen EFTA–EWG über das EWR-Abkommen (1989–1991), dodis.ch/T1713.↩
- 11
- Vgl. dazu DDS 1990, Dok. 8, dodis.ch/54934; Dok. 23, dodis.ch/55262, und Dok. 52, dodis.ch/55288.↩
- 12
- Vgl. dazu DDS 1991, Dok. 9, dodis.ch/57510; Dok. 13, dodis.ch/57331, und Dok. 20, dodis.ch/57748.↩
- 13
- Zu den institutionellen und rechtlichen Fragen vgl. die Zusammenstellung dodis.ch/C1886.↩
- 14
- Vgl. DDS 1991, Dok. 13, dodis.ch/57331, und Dok. 20, dodis.ch/57748. Vgl. auch die thematische Zusammenstellung Beitrittsgesuch der Schweiz zur EG (1991–1993), dodis.ch/T1955.↩
- 15
- Vgl. DDS 1992, Dok. 58, dodis.ch/60622, sowie die Erklärung der Fraktionen und des Bundesrates zum Ergebnis vom 6. Dezember 1992, dodis.ch/61182.↩
- 16
- Vgl. DDS 1992, Dok. 60, dodis.ch/60956.↩
- 17
- Für ein Überblick über die Reaktionen der verschiedenen Partner der Schweiz vgl. dodis.ch/66778, sowie das Dossier CH-BAR#E2210.1-02#1998/351#132* (777.230).↩
- 18
- Zu den Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Referendum um dem Vertrag von Maastricht vgl. DDS 1992, Dok. 54, dodis.ch/60741, sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C2513. ↩
- 19
- Vgl. dazu DDS 1993, Dok. 10, dodis.ch/64545.↩
- 20
- Vgl. dazu auch die Botschaft über das Folgeprogramm nach der Ablehnung des EWR-Abkommens vom 24. Februar 1993, dodis.ch/64684.↩
- 21
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Aufnahme von bilateralen sektoriellen Verhandlungen mit der EU, dodis.ch/T2239.↩
- 22
- Vgl. DDS 1993, Dok. 60, dodis.ch/65349.↩
- 23
- Vgl. DDS 1993, Dok. 32, dodis.ch/64936.↩
- 24
- Vgl. die Notiz von Botschaftsrat Marc-André Salamin von der schweizerischen Mission bei den Europäischen Gemeinschaften in Brüssel vom 28. April 1993, dodis.ch/64674.↩
- 25
- Zur Verwendung des Begriffs der Satellitisierung vgl. DDS 1992, Dok. 33, dodis.ch/60997.↩
- 26
- Vgl. dazu DDS 1993, Dok. 57, dodis.ch/65349.↩
- 27
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Beitrittgesuch der Schweiz zur EG (1991–1993), dodis.ch/T1955.↩
- 28
- Zur Frage, ob der EWR-Beitritt nur ein Zwischenschritt zu einer EG-Mitgliedschaft sei, vgl. das Schreiben von Botschafter von Tscharner an den Mitglied des Bundesrats vom 20. April 1991, dodis.ch/58585.↩
- 29
- Marc-André Salamin und Roberto Balzaretti.↩
- 30
- José César Paulouro das Neves.↩
- 31
- Vgl. dazu DDS 1992, Dok. 18, dodis.ch/58958, sowie dodis.ch/64048 und dodis.ch/64049.↩
- 32
- Vgl. die thematische Zusammenstellung Vierte Erweiterung der EG: Österreich, Finnland, Schweden (1995), dodis.ch/T1878.↩
- 33
- Zum Luxemburger Treffen zwischen den EFTA-Staaten und der EG vgl. DDS 1991, Dok. 48, dodis.ch/57671, und Dok. 56, dodis.ch/58525, sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C1933.↩
- 34
- Vgl. dazu DDS 1993, Dok. 3, dodis.ch/61431.↩
- 35
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Vierte Erweiterung der EG: Österreich, Finnland, Schweden (1995), dodis.ch/T1878.↩
- 36
- Vgl. dazu DDS 1993, Dok. 16, dodis.ch/64861, sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C2022.↩
- 37
- Für das vollständige Dokument vgl. das Faksimile dodis.ch/64664. Der Teil III des Berichts konzentriert sich auf die schweizerische Mission bei den Europäischen Gemeinschaften in Brüssel und ihre Kontakt mit anderen schweizerischen und europäischen Institutionen.↩
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European Economic Area (EEA) Belgium (Politics) Organizational issues of the FPD/FDFA Luxembourg Conference and Follow-up (1984) Negotiations EFTA–EEC on the EEA-Agreement (1989–1991) Vote on European Economic Area (EEA) (1992) Switzerland's Application for Accession to the EC (1991–1993) Start bilateral Negociations (1993–1994)