Darin: Notiz der Politischen Abteilung II «Bilaterlae Beziehungen der Schweiz mit Libyen» vom 24.6.1992 (Beilage).
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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1992, doc. 24
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#1641* | |
Dossier title | Allgemeines (1991–1993) | |
File reference archive | B.15.21 • Additional component: Libye |
dodis.ch/61220Notiz der Politischen Abteilung II des EDA1
Libyen: Bilaterale Beziehungen, UNO-Sanktionen2
Die Beziehungen mit Libyen dürfen als korrekt bezeichnet werden. Im Zusammenhang mit dem Besuch von Jadalla Azouz Al-Talhi, libyscher Minister für Schwerindustrie, am 13. August 1991 in Bern hatte sich einmal mehr gezeigt, wie sehr Libyen am Ausbau dieser Beziehungen gelegen ist.3 Ein Treffen auf Aussenministerebene wird libyscherseits angestrebt.
Die Schweiz beteiligt sich an den gegenüber Libyen verhängten UNO-Sanktionen.4 Unser Land wurde libyscherseits auch angegangen, im Zusammenhang mit diesen Sanktionen ihre Guten Dienste zur Verfügung zu stellen.5
Die Schweizerkolonie in Libyen reduzierte sich in der Folge der UNO-Sanktionen von rund 60 Personen auf rund die Hälfte. Über die gegenseitige Visumspflicht hinaus beschloss der BR am 15. Juni 1992, u. a. auch libysche Flugpassagiere auf der Durchreise in der Schweiz der Visumspflicht zu unterstellen.6
Gemäss BAWI gibt es keine schweizerischen Investitionen in Libyen.7 Aktive, vor Ort präsente Schweizer Firmen sind u. a.: ABB, Swissair, Bühler. Im Ingenieur- und Bausektor sind einige Firmen aktiv. ABB hat einen uns nicht näher bekannten Grossauftrag mit Libyen in Bearbeitung. Erinnert sei an den Kauf der Raffinerie von Collombey durch Tamoil, eine libysche Firma, welche 65% des Kapitals besitzt. Migros hat einen Vertrag für die Verteilung des raffinierten Öls abgeschlossen. Die bis zur Übernahme der Raffinerie durch Tamoil rückläufigen Erdölimporte aus Libyen sind wieder angewachsen. 1991 hat die Schweiz aus Libyen für 469,1 Mio. Fr. Energieträger (Erdöl) importiert, was praktisch den Gesamtimport aus Libyen darstellt. Exportiert wurden im gleichen Jahr Güter für 93,2 Mio. Fr. Ein denkbares Erdölembargo im Zusammenhang mit den UNO-Sanktionen hätte Auswirkungen auf die Versorgung der Schweiz im Umfang zwischen 15 und 22% des Gesamtbedarfs von Erdöl und Erdölendprodukten.8
Mit Libyen wurde 1972 ein Luftverkehrsabkommen abgeschlossen.9 Swissair fliegt 3 Mal in der Woche nach Tripolis, und drängt auf zusätzliche Flüge in die libysche Hafenstadt Benghazi, bis heute ohne Erfolg.
Laut unseren Angaben gibt es mit Libyen weder eine Entwicklungszusammenarbeit noch humanitäre Hilfe, auch werden keine Stipendien abgegeben.
Die Schweiz nimmt seit 1984 die konsularischen Interessen Neuseelands in Libyen wahr.10 Kanada hat die Schweiz Ende Mai 1992 angefragt, ihre konsularischen Interessen an Stelle von Dänemark in Libyen zu wahren. Der BR hat sein grundsätzliches Einverständnis dafür gegeben. Praktische Abklärungen sind noch im Gange.11
Die Ausbildung libyscher Piloten durch die Swissair (auf Flugsimulatoren) erfolgte noch 1990 in drei Gruppen. Das zuständige BAZL wurde seinerzeit nicht konsultiert. Die Swissair wurde daraufhin gebeten, in politisch heiklen Fällen über Ausbildungspläne für ausländische Piloten vorgängig das BAZL zu orientieren, um seinerseits unser Departement begrüssen zu können. In allen übrigen Fällen von gewünschter Ausbildung libyscher Piloten hat unser Departement diese als neutralitätspolitisch bedenklich und zum jeweiligen Zeitpunkt als politisch unerwünscht bezeichnet.12
Im Falle von Libyen besteht seit 1955 ein schweizerisches Exportverbot für Kriegsmaterial.13 Nach den Sanktionsbeschlüssen des UNO-Sicherheitsrates haben wir hier jedoch eine eigene Rechtsgrundlage (Verordnung) geschaffen. Diese dehnt das Verbot für Kriegsmaterial auf Hilfsmittel, Ausrüstungen, Lizenzen und technische Unterstützung für die Herstellung von Kriegsmaterial aus. Für «dual-use»-Güter (ABC-Verordnung) werden Exportgenehmigungen nur erteilt, wenn der zivile Endverbrauch hundertprozentig feststeht. Seit dem Inkrafttreten der Notverordnung (18.2.1992) haben wir keine Gesuche für Libyen zu behandeln gehabt (aus Notiz PA III vom 23. Juni 1992 betreffend Non-Proliferation und Kriegsmaterial).14
In der Resolution 748 des UNO-Sicherheitsrates vom 31. März 1992 wurden alle Staaten, auch UNO-Nichtmitgliedstaaten, zur Mitwirkung an allen Zwangsmassnahmen aufgefordert.15 Dem UNO-Generalsekretär16 wurde am 15. Mai 1992 Bericht über die von der Schweiz getroffenen Massnahmen erstattet (Luftverkehrssperre, das Verbot der Ausfuhr von Waffen und Bestandteilen sowie zur Herstellung dieser Produkte, Reduktion zweier Einheiten des libyschen Volksbüros in Bern, Verbot der allgemeinen Geschäftstätigkeit der Büros der Libyan Arab Airlines in Zürich und Genf, zusätzliche Massnahmen im Visumbereich).17 Einzig die verlangte Bewegungsfreiheit des dipl. und kons. Personals wurde, wie übrigens von den meisten massgebenden Staaten auch nicht, nicht zuletzt aus praktischen Gründen, nicht angewendet. Im Zusammenhang mit einer Personalreduktion der libyschen UNO-Vertretung in Genf steht eine verlangte Stellungnahme der UNO in Genf noch aus.18
Der libysche Aussenminister Beshari hat am Rande einer Konferenz der blockfreien Staaten in Indonesien erklärt, Libyen werde die Resolution 73119 (welche der Resolution 748 zugrundeliegt) insofern erfüllen, als es jegliche Beziehungen zu Gruppen und Organisationen abbrechen werde, die in den internationalen Terrorismus verwickelt seien. Ferner könne sich eine UNO-Kommission davon überzeugen, dass es in Libyen keine Ausbildungslager für Terroristen gebe. Beshari bekräftigte gleichzeitig die Weigerung Libyens, die beiden für den Anschlag auf das PAN AM Flugzeug beschuldigten Libyer20 auszuliefern.
Am 9. Juni 1992 fand in Genf ein Treffen zwischen Libyen und Grossbritannien statt. Libyen händigte Grossbritannien Material im Zusammenhang mit der (von Libyen unterstützten) IRA aus. Wurde diese Geste von Grossbritannien als ein Schritt in die richtige Richtung interpretiert? Letzten Meldungen zufolge soll der libysche Allgemeine Volkskongress am 23. Juni 1992 eine Resolution verabschiedet haben, wonach die beiden als Attentäter im Fall Lockerbie verdächtigten Libyer vor ein «gerechtes und faires Gericht» unter Aufsicht der UNO oder der Arabischen Liga gestellt werden könnten. Die Forderung nach Auslieferung der beiden wurde damit nicht erfüllt, die Möglichkeit eines Prozesses in den USA oder in Grossbritannien aber nicht explizit ausgeschlossen.21
Eine Ausdehnung der bestehenden Sanktionen kann nicht ausgeschlossen werden, mit dem Ziel verbunden, allen Sanktionsforderungen Nachdruck zu verleihen.
Die verhältnismässig massvollen Reaktionen Libyens auf die ebenfalls relativ milden Sanktionen, lassen darauf schliessen, dass Oberst Gaddafi an einer Normalisierung seiner Aussenbeziehungen gelegen ist. Diese Haltung wurde erst kürzlich wieder durch Erklärungen des libyschen Aussenministers bestätigt. AM Beshari schlug dabei in einer Fernsehrede einen versöhnlichen Ton gegenüber dem Westen an. Er erklärte, Libyen wolle seine Beziehungen mit allen Staaten der Welt – die USA, Grossbritannien und Frankreich eingeschlossen – verbessern.
Bekanntlich hat Mitte Juni 1992 eine staatlich kontrollierte Zeitung und die offizielle Nachrichtenagentur Libyens den Revolutionsführer Gaddafi kritisiert; sie verlangten die Verfolgung der wahren Interessen des Landes anstelle der panarabischen Fata Morgana.
Beobachter spekulieren im Zusammenhang mit der vorgenannten Entwicklung in Libyen bereits mit einer Ablösung an der Spitze des Wüstenstaates. Die wahrscheinlich ungelöste Nachfolgefrage würde Libyen vor grosse Probleme stellen. Libyen ist Mitglied der Arabischen Liga und der Union du Maghreb Arabe (UMA), eine Vereinigung, welche bislang keine nennenswerten Resultate vorzeigen kann. Eine Radikalisierung der politischen Führung Libyens (militärisch ev. sogar fundamentalistisch), zusammen mit der Entwicklung in Algerien, aber auch jenen in Tunesien und Ägypten, wäre für die Region ein grosser Rückschritt. Die im Aufbau begriffene Zusammenarbeit der Maghrebstaaten mit den europäischen Mittelmeeranrainern (Gruppe 5 plus 5) d. h. die fünf UMA-Staaten zusammen mit Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und auch Malta litte unter einer Verschlechterung der politischen Situation in der Region. Nachdem in dieser Zusammenarbeit auch Sicherheitsfragen in der Mittelmeerregion besprochen werden sollen, wäre von britischer Seite interessant in Erfahrung zu bringen, was Grossbritannien von dieser Zusammenarbeit hält.
Eine baldige Lösung der UNO-Sanktionsfrage (namentlich eine verbindliche Garantie Libyens seiner Abkehr von jeglichem internationalen Terrorismus) dürfte m. a. W. vor allem im Interesse der europäischen Staaten, auch Grossbritanniens und der USA liegen (mehrere Tausend Briten und auch Amerikaner sollen in Libyen namentlich im Erdölsektor arbeiten). Die Aufhebung des amerikanischen Handelsembargos wäre für die wirtschaftliche Entwicklung Libyens von grosser Wichtigkeit.
Die Schweiz selbst ist daran interessiert, dass der Maghreb wirtschaftlich gesundet und entwickelt wird. Ein weiteres Abdriften einzelner Länder in der Region dürfte früher oder später zunehmende Emigration in den Norden, auch in unser Land, mit sich bringen.22
- 1
- CH-BAR#E2010A#2001/161#1641* (B.15.21). Diese Notiz wurde von André Brandel von der Politischen Abteilung II des EDA verfasst und vom Abteilungschef, Botschafter Pierre-Yves Simonin, unterzeichnet. Die Notiz wurde im Hinblick auf den Arbeitsbesuch des Direktors der Politischen Direktion des EDA, Staatssekretär Jakob Kellenberger, in London am 6. Juli 1992 an die Politische Abteilung I übermittelt. Für den Besuch von Staatssekretär Kellenberger bei der britischen EG-Präsidentschaft vgl. den Wochentelex 29/92 vom 13. Juli 1992, dodis.ch/61265, Punkt 1. Kopien der Notiz gingen an Staatssekretär Kellenberger, Botschafter Simonin, an den stv. Abteilungschef der Politischen Abteilung II, Denis Feldmeyer, an den Verfasser selbst sowie an das Politische Sekretariat des EDA.↩
- 2
- Für eine ausführliche Übersicht über die bilateralen Beziehungen der Schweiz mit Libyen vgl. die Notiz in der Beilage, Faksimile dodis.ch/61220.↩
- 3
- Vgl. dodis.ch/58900.↩
- 4
- Vgl. dazu das BR-Prot. Nr. 674 vom 15. April 1992, dodis.ch/60776, sowie die thematische Zusammenstellung, dodis.ch/T2192. Vgl. ferner DDS 1992, Dok. 16, dodis.ch/58969, Punkt V.↩
- 5
- Vgl. dazu die Notiz der Direktion für internationale Organisationen vom 7. April 1992, dodis.ch/63312, sowie die Notiz der Politischen Abteilung II des EDA vom 25. Mai 1992, dodis.ch/63304.↩
- 6
- Vgl. das BR-Prot. Nr. 1144 vom 15. Juni 1992, dodis.ch/60707, Punkt 8.↩
- 7
- Zu den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und Libyen vgl. die Notiz des Bundesamts für Aussenwirtschaft (BAWI) des EVD vom 7. August 1991, dodis.ch/58901.↩
- 8
- Vgl. dazu die Notiz des BAWI vom 2. Dezember 1991, dodis.ch/58025.↩
- 9
- Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Arabischen Republik Libyen über den regelmässigen Luftverkehr vom 11. Juni 1971, AS, 1973, S. 276–285.↩
- 10
- Vgl. dazu das Dossier CH-BAR#E2023-01A#2003/332#1891* (f.841.44).↩
- 11
- Vgl. dazu das BR-Prot. Nr. 1129 vom 15. Juni 1992, CH-BAR#E1004.1#1000/9#1020* (4.10prov.).↩
- 12
- Vgl. dazu das Dossier CH-BAR#E2010A#2001/161#681* (A.16.41.1.10).↩
- 13
- Vgl. das BR-Prot. Nr. 1854 vom 8. November 1955, dodis.ch/10961, sowie DDS, Bd. 20, Dok. 36, dodis.ch/10920.↩
- 14
- Für die Verordnung über die Aus- und Durchfuhr von Waren und Technologien im Bereich der ABC-Waffen und Raketen vom 12. Februar 1992 vgl. AS, 1992, S. 409–441 sowie das BR-Prot. Nr. 241 vom 12. Februar 1992, dodis.ch/60810. Für die Notiz der Politischen Abteilung III des EDA vgl. dodis.ch/63606.↩
- 15
- Resolution Nr. 748 des UN-Sicherheitsrats vom 31. März 1992, UN doc. S/RES/748.↩
- 17
- Vgl. dodis.ch/63395.↩
- 18
- Vgl. dazu die Dossiers CH-BAR#E2023A#2003/421#3476* (o.713.60.Libye) und CH-BAR#E2210.5#1998/8#123* (370.1).↩
- 19
- Resolution Nr. 731 des UN-Sicherheitsrats vom 21. Januar 1992, UN doc. S/RES/731.↩
- 21
- Vgl. dazu die Dossiers CH-BAR#E2200.165A#2013/36#34* und CH-BAR#E2200.165A#2013/36#35* (364.0).↩
- 22
- Vgl. dazu die Ergebnisse der Arbeitsgruppe Mittelmeerraum an der Botschafterkonferenz im August 1992, dodis.ch/55900. Zu den Folgen der politischen Situation Algeriens auf die Migration in die Schweiz vgl. DDS 1992, Dok. 44, dodis.ch/61255.↩
Tags
UN Sanctions against Libya (1992)