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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 22, doc. 130
volume linkZürich/Locarno/Genève 2009
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2804#1971/2#142* | |
Old classification | CH-BAR E 2804(-)1971/2 109 | |
Dossier title | Chefbeamtenbesprechungen 1962 (1962–1962) | |
File reference archive | 023.18 |
dodis.ch/30316 Protokoll der Besprechung der Chefbeamten des Politischen Departements1
1. Fragen der europäischen Integration
Minister Jolles zu den Wirkungen des Scheiterns der Verhandlungen mit Grossbritannien3 auf unser Verhandlungsgesuch4. Wir sollten uns vorläufig passiv verhalten. Der nächste Schritt liegt ohnehin in Brüssel. Unsere Erklärung vom 24. 9.5 lässt sich auch im neuen Licht sehen. Einzig den Wunsch nach einer möglichst umfassenden Assoziation hätten wir vielleicht abgeschwächt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Frankreich gegenüber uns Erklärungen abgibt, ähnlich denjenigen gegenüber Dänemark. Sie hätten wenig zu bedeuten, da es, ausser bei negativen Entscheiden, nicht auf Frankreich allein ankommt. Die Möglichkeit einer Assoziation mit der EWG sollten wir nicht von vornherein ausschliessen. Wenn die EWG uns zum Eintritt in Verhandlungen auffordert, werden wir darauf einsteigen müssen. Wir werden aber doppelt vorsichtig sein. Das Scheitern der britischen Verhandlungen zeigt, dass Frankreich die EWG zu machtpolitischen Zwecken benutzt. Dies braucht aber nicht zu einer Politisierung der EWG zu führen. Vielmehr kann sich eine Verlagerung der politischen Auseinandersetzung in andere Gremien (Westeuropäische Organisation, neue Organisationen) daraus ergeben.
Botschafter Micheli wünscht, dass die bedeutenderen Papiere, die vom Integrationsbüro an die Mitglieder der ständigen Wirtschaftsdelegation gehen, wie z. B. dasjenige vom 1.2.6, auch an die Chefbeamten des EPD verteilt werden.
Minister Jolles sagt dies zu und bittet Botschafter Micheli, ihm jeweils die Papiere zu nennen, die eine solche Verbreitung erfahren sollen.
Botschafter Micheli: Eine Assoziation mit der EWG scheint unter den heutigen Umständen kaum möglich und wünschbar. Die geistigen Voraussetzungen fehlen dazu. Auf eine Entpolitisierung der EWG kann man erst für eine weitere Zukunft hoffen. Trotzdem brauchen wir das Verhandlungsgesuch nicht zurückzuziehen. Es ist an der EWG, sich nunmehr zu ihrem Verhältnis zu den andern europäischen Staaten zu äussern. Wenn wir über unsere Haltung sondiert werden, können wir antworten, wir halten an unserem bisherigen Programm fest.
Botschafter Lindt: Wir sind in eine neue Phase eingetreten, deren Richtung wir vorläufig nicht kennen, weshalb wir keine eindeutige Haltung einnehmen können. Die Spaltung innerhalb der EWG betrifft nur die politischen Fragen. In den wirtschaftlichen Fragen ist die EWG nicht geschwächt. Es ist möglich, dass die 5 gegen eine Ausweitung ohne Grossbritannien sind.
Minister Bindschedler: Das Problem, das England stellt, ist nicht so sehr im Konflikt mit de Gaulle zu sehen als in der Denaturierung der ursprünglichen Integrationstendenz föderalistischer Natur. Eine EWG mit stark supranationalen Tendenzen ist für England untragbar. Das Problem wird unabhängig von der Person de Gaulle’s bestehen bleiben, wenn sich England nicht wandelt. Ein Rückzug des Verhandlungsgesuchs wäre eine politische Demonstration und deshalb unopportun. Sollten wir zu Verhandlungen aufgefordert werden, so müssen wir sie aufnehmen, aber mit Zurückhaltung (mit dem Ziel, dass sie scheitern), denn die EWG ist ein technischer Apparat im Dienste der französischen Hegemonie-Bestrebungen. Mit der Westeuropäischen Organisation können wir nichts zu tun haben; sie ist ein militärisches Bündnis. Die sauberste Lösung für die nächsten 10 Jahre wäre eine Regelung unserer Probleme durch klassische Handelsverträge.
Minister Jolles: Wenn nicht mit Entgegenkommen der EWG auf wirtschaftlichem Gebiete gerechnet werden kann, dann gilt dies für eine Assoziation so gut wie für Handelsverträge. In diesem Falle ist die Kennedy-Runde unsere beste Hoffnung. Eine andere Entwicklung ist aber nicht ausgeschlossen. Zwar werden die bisherigen Ergebnisse der EWG nicht in Frage gestellt werden. Aber es könnte sich ein verstärkter Widerstand der 5 gegen den französischen Protektionismus geltend machen. Die Entwicklung der EWG braucht nicht im bisherigen Tempo weiterzugehen. Wenn diese (nicht sehr wahrscheinliche) Entwicklung eintritt, sollte eine lockere Assoziation möglich sein. Die Kommission wird kaum in nächster Zeit einen Vorstoss unternehmen können und ein baldiger Beschluss des EWG-Ministerrates ist nicht zu erwarten. Auf Sondierungen könnten wir mit der Gegenfrage antworten. Bundesrat Wahlen stellt Einigkeit fest, dass wir das Gesuch hängig lassen. Es hängt formell nicht vom Ausgang der britischen Verhandlungen ab.
Minister Jolles zu den Rückwirkungen des Verhandlungs-Abbruchs auf die EFTA-Politik: Anfänglich stand eine gewisse Erziehungsfunktion der EFTA und die Erleichterung des Anschlusses ihrer Mitglieder an die EWG im Vordergrund. Heute hat die Funktion einer Ersatzlösung als grösserer Markt an Bedeutung zugenommen. Die statistischen Zahlen für 1962 zeigen, dass unsere Exporte nach den EFTA-Staaten, wenn auch langsam, stärker steigen als diejenigen nach der EWG (z. Z. 17,9%). Es fragt sich, ob und wie die EFTA zu aktivieren ist. Dies kann geschehen durch Aufnahme neuer Mitglieder: Jugoslawien (politisch interessant, wirtschaftlich nicht), Spanien (wird von Frankreich umworben), Irland (hat nur Interesse, wenn Landwirtschaft nicht ausgeklammert wird), Island, oder, mit weitreichenden Folgen, die Länder des Commonwealth und USA, was für uns neutralitätspolitische Probleme stellen würde. Die Aktivierung kann auch durch eine Intensivierung erfolgen: Schärfere Erfüllung der bestehenden Verpflichtungen, etwa bei den Fiskalzöllen und den Monopolgebühren (es besteht eine lange schweizerische Sündenliste, die bisher nur langsam abgebaut wurde). Ausdehnung der EFTA-Tätigkeit auf den Landwirtschafts-Sektor: dänische, norwegische, portugiesische Initiativen in diesem Sinne sind wahrscheinlich. Der von uns zu bezahlende Preis würde in Zoll- und Kontingents-Abbau bestehen und in der Einräumung von Präferenzen.
Bundesrat Wahlen: Ist es denkbar, die französischen Kontingente zu reduzieren?
Minister Jolles: Eine Aufspaltung der Kontingente für französische Ware wird wegen Algerien nötig sein. Die Kontingente für Wein sollen total um 200’000 hl erhöht werden, wobei der Zuwachs für Frankreich prozentual weniger stark ist als für andere Länder. Portugal erhält einen höheren Zuwachs.
Bundesrat Wahlen: Ist die österreichische Wirtschaft tatsächlich so auf einen Anschluss an die EWG angewiesen, wie das Minister Bock behauptet?
Minister Jolles: Es ist eine Studie hierüber im Gange. Nicht so sehr der Zollabbau innerhalb der EWG, als die Zollerhöhung auf den gemeinsamen Aussentarif hin scheint die Befürchtung ausgelöst zu haben. Wir studieren auch die Verwundbarkeit Österreichs gegenüber allfälligen russischen Retorsions-Massnahmen. Die Zusammenarbeit mit den Neutralen geht nur so weit, als sie sich in einer gleichen Lage befinden. Das war bei der Vorbereitung der Eröffnungserklärungen der Fall. Es wurde nicht versucht, die Politiken der Neutralen einander anzugleichen, sondern Gegenstand der Konsultationen waren verhandlungstechnische Probleme. Die Gefahr, dass die Österreicher aus der EFTA-Front ausbrechen, kann kaum durch unsern Einfluss beschworen werden. Die Beamten Tagung vom 15. 2. wird vielleicht nähere Aufschlüsse über Österreichs Absichten bringen. Schweden ist nach wie vor an einer Zusammenarbeit mit der Schweiz interessiert.
Botschafter Micheli: Die EFTA ist beizubehalten, schon um nicht Frankreich diesen Triumph zu geben. Sie sollte aber nicht zu einem Instrument gegen die EWG werden. Ihr unpolitischer Charakter ist zu betonen. Eine Ausdehnung auf neue Mitglieder ist kaum opportun. Die Solidartätserklärung von London7 ist nicht Angelpunkt der EFTA-Politik. Es ist zu prüfen, wie weit sie uns heute noch bindet.
Botschafter Lindt: Für die Amerikaner ist die Einigung Europas im Vordergrund. Der Fehlschlag der britischen Verhandlungen wird sie von dieser Politik nicht abbringen. Alles was der Einigung Europas entgegensteht, wird von ihnen unfreundlich angesehen. Sie werden gegen eine Aufbauschung der EFTA sein. Übrigens auch die Engländer, die ja den Beitritt in die EWG nach wie vor wollen. Allerdings hat England ein Interesse, dass die EFTA bis auf weiteres zusammenbleibt. Es wird sich für die EFTA darum handeln, die Schwierigkeiten einzelner ihrer Mitglieder zu mildern. Die EFTA-Solidarität verpflichtet uns in unserem Verhalten zur EWG zur Zurückhaltung. Ob wir mit der EWG verhandeln sollen, hängt von der politischen Konstellation ab. Wir sollten insgeheim jene Tendenzen unterstützen, die gegen die französischen Hegemonie-Bestrebungen gerichtet sind. In unserer EFTA-Politik sollten wir im Auge behalten, dass diese Organisation von einer Grossmacht abhängig ist. Die Zusammenarbeit mit Schweden und Österreich hat dem Ansehen unserer Neutralität nicht gut getan. Auch hier sollen zwar die Konsultationen weitergeführt werden, aber mit Distanz.
Minister Jolles: Politische Überlegungen sprechen für Zurückhaltung auf der ganzen Linie, wir haben aber auch die wirtschaftlichen Realitäten zu berücksichtigen. Wir stehen in einer Entwicklung, wo regionale Präferenz-Zonen geschaffen werden. Unsere Wirtschaft ist verwundbar, unsere Ausweichsmöglichkeiten sind gering. 66% unserer Ausfuhr gehen nach EWG- und EFTA-Ländern, 23% (wenn wir von den USA absehen) ausser Europa. Hier ist eine Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen kaum möglich, ein Rückgang sogar wahrscheinlich. Die meisten dieser Länder können nur noch auf Kredit importieren. Sie haben ihre Einfuhrmöglichkeiten überspannt und ihre Kreditwürdigkeit strapaziert. Es fragt sich, ob wir uns aus politischen Gründen in eine Igel-Stellung zurückziehen sollen. Handelsverträge bekommen wir nur bei Gewährung entsprechender Vorteile. Als Niedertarif-Land ohne Importkontingente können wir nur noch bei Landwirtschaft und Gewerbe Konzessionen machen.
Bundesrat Wahlen: Die amerikanische Politik ist in einer Sackgasse. Das Bestreben, es in Europa nur noch mit einem einzigen Partner zu tun zu haben, führte zu einem Fiasko. USA kann es sich auf die Dauer auch nicht leisten, wirtschaftliche Nachteile der Einigung Europas in Kauf zu nehmen, wozu es ursprünglich bereit war. Auch in Bezug auf die Methoden tut Besinnung not (Verzicht auf Kraftäusserungen und Diktate). Die Solidaritätserklärung von London hat eine gewisse Abhängigkeit geschaffen, doch sollte dieses Moment nicht übertrieben werden. Dagegen würde eine Ausdehnung der EFTA auf USA starken Bedenken rufen. Eine gemeinsame Front der Neutralen ist problematisch. Wir müssen unsern guten Willen zeigen, die Probleme der andern EFTA-Staaten studieren und ihnen wenn möglich entgegenkommen.
Minister Bindschedler: Die EFTA wird auf die Dauer für uns nicht sehr nützlich sein, doch besteht kein Grund, jetzt eine negative Initiative zu nehmen. Rechtlich gesehen ist die Solidaritätsverpflichtung schon heute erledigt. Es war zwar eine gegenseitige Verpflichtung, aber von begrenzter Dauer, für eine bestimmte, nunmehr abgeschlossene Phase. Politisch wäre es aber inopportun, diese Frage jetzt aufzuwerfen. Die Zusammenarbeit mit den andern Neutralen sollte abgebaut werden. Die Verschiedenheiten in der Anwendung der 3 Neutralitäten sind zu gross (unglückliche politische Initiativen Schwedens in der UNO, Unzuverlässigkeit Österreichs). Wir riskieren, dass das Verhalten der andern auf die Beurteilung unserer Neutralität abfärbt.
Bundesrat Wahlen: Österreich, das eigentlich an der Zusammenarbeit unter den Neutralen das grösste Interesse hat, tut am meisten, sie in Frage zu stellen. Die grossen Dienste, die die Neutralen Finnland leisten, sollten mitberücksichtigt werden.
Minister Jolles: Die Unterschiede in der Neutralitätspolitik der 3 sind nie zu verwischen versucht worden. Sie kamen denn auch in der Eröffnungserklärung8 zum Ausdruck. Wir haben aber mit unserer Zusammenarbeit erreicht, dass die Neutralitätserfordernisse klargestellt wurden, was nicht von vornherein selbstverständlich war. Die Neutralen mussten sich davor schützen, von der EWG gegeneinander ausgespielt zu werden9.
[…] 10
- 1
- E 2804(-)1971/2/8a. Anwesend: F. T. Wahlen, P. Micheli, A. R. Lindt, M. Grässli, R. Bindschedler, P. R. Jolles, H. Keller, S. F. Campiche, R. Pestalozzi.↩
- 2
- ;Die Sitzung fand am 4. Februar statt.↩
- 3
- Zum Scheitern dieser Verhandlungen vgl. Nr. 123, insbesondere Anm.2, in diesem Band.↩
- 4
- Vgl. DDS, Bd. 22, Dok. 34, dodis.ch/30143.↩
- 5
- Vgl. DDS, Bd. 22, Dok. 102, dodis.ch/30292.↩
- 6
- Vgl. E 2001(E)1976/17/148.↩
- 7
- Für den Wortlaut dieser Erklärung vgl. das Communiqué Ministerial meeting of the EFTA council, London, 27 th –28 th (Pledge of London) vom 28. Juni 1961 (dodis.ch/30785).↩
- 8
- Vgl. Anm. 5.↩
- 9
- Zum Ergebnis dieser Diskussion vgl. DDS, Bd. 22, Dok. 131, dodis.ch/30327 sowie das BR-Prot. Nr. 281 vom 12. Februar 1963 (dodis.ch/30457).↩
- 10
- Weitere Traktanden: Wissenschaftliche Attachés, Dominikanische Republik, Austeilung von Anträgen an den Bundesrat, Beamtenordnung III.↩
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