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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 22, doc. 131
volume linkZürich/Locarno/Genève 2009
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E1003#1994/26#3* | |
Old classification | CH-BAR E 1003(-)1994/26 2 | |
Dossier title | Protokolle der 1.-89. Sitzung des Bundesrates (1963–1963) | |
File reference archive | 4.3 |
dodis.ch/30327 BUNDESRAT
Verhandlungsprotokoll der 11. Sitzung vom 12. Februar 19631
Verhandlungsprotokoll der 11. Sitzung vom 12. Februar 19631
[…] 2
Bericht über die Integrationsfrage
Herr von Moos ist mit den Ausführungen im persönlichen Bericht des Herrn Schaffner vom 7. Februar3 und im gemeinsamen Bericht des EPD und EVD vom 9. Februar 19634 einverstanden. Mit seinen Bemerkungen wolle er dieses Einverständnis mit der vorgezeichneten Haltung nicht in Frage stellen. Zu den drei im Bericht Schaffner erwähnten theoretischen Möglichkeiten könnte man wohl intern «das Dahinfallen des Verhandlungsgesuches» als vierte Möglichkeit beifügen. Herr Staatssekretär Lahr habe davon gesprochen. Man könnte diese Möglichkeit aber auch subsumieren unter Ziffer 2 «Zuwartende Haltung». Es handle sich hier um eine rechtstheoretische Frage, der man einige Aufmerksamkeit schenken sollte.
Richtig sei, dass man weiter unsere Solidarität mit den EFTA-Partnern aufrecht halten wolle, auch mit den beiden Neutralen, obwohl sich viel geändert habe. Die Solidarität mit den Neutralen präsentiere sich heute etwas anders. Nachdem einzelne Neutrale besondere Wege gehen, wären auch wir eigentlich nicht mehr gebunden.
Interessiert habe ihn die Erwägung, unsere Erklärung könne etwas restriktiv interpretiert werden. Diese Interpretation sollte uns dazu führen, auch am Gedanken einer umfassenderen Kündigungsmöglichkeit möglichst festzuhalten.
Die Londoner Erklärung von 19625 sei in ihrem Sinne völlig umgekehrt worden. Sie sei abgegeben worden unter der Voraussetzung, dass England vorausmarschiere, dass es aber nicht definitiv abschliessen dürfe, bevor nicht auch die Beitrittsmöglichkeit der andern EFTA-Staaten geregelt sei. Heute stehe man vor der Sachlage, dass England nicht als Vollmitglied beitreten könne, aber selber eine Assoziation ausschliesse, sodass auch die Frage, ob die Londoner Erklärung noch gelte, offen sei.
Herr Wahlen bemerkt, dass man heute feststellen dürfe, dass sich in der Integrationsfrage die bundesrätliche Politik bewährt habe. Der seinerzeitige Vorwurf, «wir hätten den Zug verpasst» erweise sich im Lichte der Entwicklung als eine Absurdität. Wären wir Mitglieder der EWG, stünden wir heute in der gleichen demütigenden Stellung wie die Beneluxstaaten. Später habe man erklärt, wir hätten uns assoziieren sollen. Wenn man zurückblicke auf das Verhalten der Amerikaner und der sechs EWG-Staaten, dann zeige sich, dass eine Assoziierung nicht in Frage kommen konnte, wegen der Gefahr, dass wegen der Gewährung eines solchen Sonderstatutes andere ausbrechen könnten. An der EFTA-Botschaft des Bundesrates6 wäre auch heute nichts zu ändern. Wir seien in der EFTA auch in der neuen Situation. Sollte ein Schatten auf unsere Grundsätze der Unabhängigkeit und Neutralität fallen, so würden wir uns zurückziehen. Der Entscheid der Frage, ob unser Gesuch zusammen mit den andern Beitritts- und Assoziationsgesuchen dahingefallen seien, müsse man der EWG überlassen. Herr Wahlen begreife nicht, wieso Norwegen zu seinem Entschluss gekommen sei, sein Beitrittsgesuch als dahingefallen zu erklären, während die Engländer ausdrücklich feststellen, dass ihr Wille zum Beitritt bestehen bleibe.
Was die Solidarität der Neutralen betreffe, sei es gut gewesen, dass die drei Neutralen trotz den unterschiedlichen Rechtsgrundlagen in den wesentlichen Punkten Übereinstimmung erzielt und ihr Vorgehen koordiniert hätten. Wenn nun die Österreicher ihren Weg selber gehen wollen, hätten wir wohl kaum Anlass ihren Schutzengel zu spielen. Es frage sich, ob man, wie dies übrigens der österreichische Botschafter7 im Privatgespräch am Diplomatendiner angeregt habe, Österreich warnen sollte, was bei der internen Meinungsverschiedenheit in der Regierung kaum Erfolg haben dürfte. Auch Herr Kreisky habe jetzt mit Sondierungen begonnen, ob ein Einzelgang Aussichten hätte. Es sei zu hoffen, dass er die Antwort erhalte, dass dies aussichtslos sei. Keiner der 5 Länder der EWG, die der französischen Haltung entgegengetreten seien, könnten jetzt hier ein Entgegenkommen zeigen. Man werde die Neutralitätssolidaritätsfront weiter im Auge behalten, wenn wir auch nach dem Verhalten Österreichs nicht mehr gebunden seien.
Die Erklärung von London erachte er bei der ganzen Sachlage nicht mehr als verbindlich. Sie habe tatsächlich eine Umkehrung erfahren und sei rechtlich nicht mehr wirksam. Man müsse sich auf eine lange Wartefrist gefasst machen und zunächst einmal abwarten, bis die «Kennedyrunde» durch sei (s. Schreiben von Herrn Schaffner)8. England hätte an eine neue Fassung der Solidaritätserklärung gedacht. Die 7 EFTA-Länder könnten sich über das Fortbestehen der Solidarität verständigen. Man müsse abwarten, wie England seinen Weg finden werde. Macmillan sei in einer äusserst schwierigen Lage. Bisher habe sich im Verhältnis England-EWG nichts herauskristallisiert.
Was eine Ausdehnung der EFTA betreffe, teile er grundsätzlich die von Herrn Schaffner in seinem Bericht vom 7. Februar vertretene Meinung. Eine Ausdehnung der EFTA auf den Commonwealth und die USA müsste wohl zu einem Bruche zwischen EWG und EFTA führen.
Herr Chaudet teilt ebenfalls die Auffassung, dass von den drei theoretischen Möglichkeiten nur die eine in Frage komme, nämlich abzuwarten und weiter Kandidat zu bleiben. Mit einer Aktivierung unseres Assoziationswunsches würden wir uns nur lächerlich machen, bei einem Rückzug unserer Erklärung würde der Eindruck erweckt, dass wir nicht wissen was wir wollen. Die EWG bestehe fort und funktioniere. Ein Rückzug würde auch wie eine Unterstützung Englands wirken. Das ganze Problem müsste man in die gesamte internationale Lage stellen, wo die Spannungszeichen überall zunehmen. In solchen Lagen sollten wir ruhig bleiben und nicht noch Öl ins Feuer giessen. Wir sollten deshalb in der EFTA weitermachen und daraus das bestmögliche Resultat ziehen.
Herr Schaffner stimmt den Ausführungen von Herrn Wahlen in allen Teilen zu und erklärt sich vor allem dafür dankbar, dass Herr Wahlen die EWG-Politik als die einzig mögliche bezeichnet habe. Man hätte überhaupt nie die Alternative eines andern Weges gehabt und man braucht sich daher nicht einmal etwas einzubilden, dass man den richtigen Weg gegangen sei. Herr Schaffner weist dies an Hand der Entwicklung nach. Als sich seinerzeit herauskristallisiert hätte, dass eine europäische Freihandelszone verwirklicht werden könnte, sei durch den Coup von Herrn Soustelle9 das Erreichte genau so torpediert worden, wie dies heute bei der EWG der Fall sei. Herr Schaffner habe noch als Chef der Handelsabteilung, nach dem Scheitern der Freihandelszone, im Auftrage des Bundesrates sondiert, wie es mit einer bilateralen Assoziation stünde. Die Antwort hätte gelautet, der Augenblick wäre nicht günstig. Man könne nicht der kleinen Schweiz eine solche Ausnahmestellung geben, bevor nicht die andern in Aussicht genommenen Staaten dabei wären als Vollmitglieder. Nachher habe man den Weg über die EFTA versucht und England vorausgeschickt. Im Momente des in Aussicht stehenden Erfolges sei wieder ein französisches Veto gekommen, das vom Januar 1963.
Man dürfe sich jetzt nicht so verhalten, dass uns die alte Stellungnahme für England ausgelegt werden könne. Deshalb wäre es falsch, das Gesuch zurückzuziehen. Wir sollten der Sache den Lauf lassen. Mit einer Einladung der EWG werde man nicht rechnen müssen. Die zuständige Kommission hätte übrigens dem EWG-Parlament einen Bericht erstattet über die Assoziationsmöglichkeit der Neutralen. Diese Grundlage sei sehr schlecht. Kreisky sei von den Franzosen vollständig abgewiesen worden. Man dürfe den innenpolitischen Sorgen Österreichs keine zu grosse Bedeutung beimessen. Der Alleingang werde zu keinem Ziel führen. Was das englische Versprechen anbelange, hätten wir allen Grund zu wünschen, dass es nicht geändert werde.
Es sei interessant festzustellen, wie man im Norden reagiere. Die grossen sozialdemokratischen Parteien hätten grosse Aufrufe gemacht, dass es jetzt vor allem darauf ankomme, konkurrenzfähig zu bleiben. Auch in England erkläre man, dass die Angelegenheit so lange dauern werde, dass man die Konkurrenzfähigkeit erhalten müsse. Auch die Schweiz müsse jetzt das eigene Haus in Ordnung halten. Die Ungewissheit der weiteren Entwicklung der Integration bringe es mit sich, dass die Investitionstätigkeit nachlasse und dass Unternehmen wie Sulzer Arbeiter entlasse und Brown Boveri ebenfalls an Abbau denke. Wir würden10 durch die Diskriminierung einen zunehmenden Druck auf die Exportkonjunktur erleben, und müssten nun auch die innere Disziplin fördern, um konkurrenzfähig bleiben zu können.
Herr Bonvin stellt ebenfalls fest, dass die Ereignisse die Richtigkeit der Politik der Schweiz bewiesen hätten. Auf der wirtschaftlichen Ebene gehe die Gemeinschaft weiter. Die politische Gemeinschaft sei durch die Franzosen zerstört worden. Weil wir nur die wirtschaftliche Gemeinschaft wünschen, müssten wir in der EFTA weiter machen und schauen, dass die EFTA aufrecht erhalten bleibe, sodass wir trotz der politischen Schwierigkeiten weiter leben können. Wir sollten fortfahren unsere Unternehmen zu ermuntern, ihre Konkurrenzfähigkeit zu erhöhen und Erscheinungen wie sie sich im Tabakgeschäft zeigen, entgegentreten.
Der Herr Bundespräsident11 bemerkt, dass man die hypothetische Frage stellen könnte, in welche Situation wir kämen, wenn uns die EWG mitteilen würde, wir wären bei ihr willkommen? Das wäre für uns das Nachteilhaftigste. Aus der Antwort auf diese hypothetische Frage ergebe sich der Hinweis auf unser Verhalten. Ein Alleingang käme nicht in Frage, auch wenn man uns grösste Avancen machen würde. Unser Gesuch solle aufrecht erhalten bleiben. Es würde aber wohl nichts schaden, wenn die EFTA-Ministerkonferenz ausdrücklich zum Schlusse käme, dass die Gesuche aufrecht erhalten bleiben, dass aber für den Augenblick die Aufnahme in die EWG illusorisch geworden sei. Die Voraussetzungen seitens der EFTA-Länder seien noch die gleichen, doch bestehe keine praktische Möglichkeit der Verwirklichung.
Man bleibe nach wie vor im Wartezimmer, als was die EFTA von Anfang an aufgefasst worden sei. Man sollte aber dieses Wartezimmer etwas komfortabler ausbauen, indem man die EFTA aktiviere. Je stärker die Gruppe der EFTA sei, desto stärker stehe sie auch gegenüber der EWG da. Im Zollabbau sollte die EFTA mit der EWG Schritt halten.
Eine neue Solidaritätserklärung erachtet der Sprechende als nicht tunlich, dagegen wäre es nützlich, das gute Zusammenhalten zu proklamieren und die Sondierungen einzelner EFTA-Länder nicht als Schwächung der EFTA erscheinen zu lassen.
Der USA sollte begreiflich gemacht werden, dass es in Europa noch etwas anderes gebe als die EWG. Man sollte ihr auch begreiflich machen, warum wir in einem solchen Gebilde nicht als Vollmitglied mitmachen könnten. Das Gespräch mit den USA wäre zu intensivieren.
Die Entwicklungsländer würden in Opposition gedrängt zur EWG. Auch hier müssten wir gegenüber den Entwicklungsländern mit der EWG gleichziehen.
Herr Wahlen erinnert daran, dass unsere Ausfuhr folgende Verteilung aufweise: nach Übersee, 23%. Diese Exporte seien nur ausdehnungsfähig, wenn wir sie selbst vorfinanzieren; nach Europa, 67%. Nach USA, 10%. Es ergebe sich daraus, dass wir in erster Linie auf Europa angewiesen seien. Deshalb solle die EFTA die Aufgabe eines Verständigungsinstrumentes beibehalten.
Nach dieser Aussprache heisst der Rat den gemeinsamen Bericht des EPD und des EVD einstimmig gut.
[…] 12
- 1
- E 1003(-)1994/26/2. Vorsitz: W. Spühler, Schriftführer: F. Weber, Beginn: 9 Uhr, Schluss: 11 Uhr 40.↩
- 2
- Vorangehende Traktanden: Beschwerde Adolf Grüninger, Mitlödi, betr. Nichtbankenwürdigkeit von Fleisch, kleine Anfrage Bösch vom 17. Dezember 1962: Ermächtigung der PTT-Betriebe zu vorzeitigen Materialbestellungen für die Jahre 1964 und 1965, Beschwerde betr. Wiedereinbürgerung der Frau Olga Lionnet-Coeudevey, Sochaux.↩
- 3
- Vgl. die Notiz Erste Überlegungen zu den Rückwirkung des Scheiterns der England-Verhandlungen auf die Schweiz von H. Schaffner an die Mitglieder des Bundesrates vom 7. Februar 1963 (dodis.ch/30314).↩
- 4
- Die Diskussion basierte auf dem gemeinsamen schriftlichen Antrag des Politischen Departments und des Volkswirtschaftsdepartements vom 9. Februar 1963, E 1001(-)1967/125/15.Vgl. auch das BR-Prot. Nr. 281 vom 12. Februar 1963 (dodis.ch/30457).↩
- 5
- Falsche Angabe im Original. Die Ministertagung in London fand am 28. Juni 1961 statt. Zum Wortlaut der anschliessend veröffentlichten Deklaration vgl. das Communiqué Ministerial meeting of the EFTA council, London, 27 th –28 th (Pledge of London) vom 28. Juni 1961 (dodis.ch/30785).↩
- 6
- Es handelt sich um die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Beteiligung der Schweiz an der Europäischen Freihandels-Assoziation vom 5. Februar 1960, BBl, 1960, I, S. 841–1104.↩
- 8
- Vgl. Anm. 3.↩
- 9
- Es handelt sich um die Rede, die J. Soustelle, ehemaliger Generalgouverneur in Algerien und französischer Informationsminister in der dritten Regierung de Gaulle (1. Juni 1958–8. Januar 1959), am 14. November 1958 im Namen der französischen Regierung gehalten hatte. Die Verhandlungen zum Aufbau einer grossen Freihandelszone in Europa waren durch diese Rede abgebrochen worden. Vgl. DDS, Bd. 21, Dok. 47, dodis.ch/15943(dodis.ch/15943).↩
- 10
- Gestrichen: bald eine Abkühlung der Konjunktur erleben.↩
- 11
- W. Spühler.↩
- 12
- Folgende Traktanden: Umfrage, Einladung Indien, Einladung an die Gemeindepräsidenten der Franches Montagnes, Lage in Irak, Besoldungen und Ruhegehälter der Bundesräte, Konferenz von leitenden Funktionären der politischen Polizei der Kantone mit der Bundespolizei, Knabenmusiktreffen in Chur, Urlaub des Herrn Bundespräsidenten, Protokoll der letzten Sitzung.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/30327 | see also | http://dodis.ch/30457 |
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