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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1992, doc. 52
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#1960* | |
Dossier title | Offizieller Besuch von Bundespräsident Thomas Klestil in Bern, November 1992 (1992–1992) | |
File reference archive | B.15.51.15 • Additional component: Autriche |
dodis.ch/61315Gespräche von Bundespräsident Felber sowie den Bundesräten Ogi, Koller und Villiger mit dem österreichischen Präsidenten Klestil und Aussenminister Mock1
Staatsbesuch des österreichischen Bundespräsidenten Thomas Klestil in der Schweiz, 9./10. November 19922
Im Rahmen des Staatsbesuches, den der österreichische Bundespräsident Thomas Klestil am 9./10. November 1992 der Schweiz abstattete, fanden unter Leitung der beiden Präsidenten Felber (BRF) und Klestil (K.) politische Gespräche statt. Auf schweizerischer Seite nahmen daran auch die Bundesräte Ogi, Koller und Villiger teil, auf österreichischer Seite Aussenminister Mock und der vorarlbergische Landeshauptmann Purtscher.3 Die in freundschaftlichem und kooperativem Geist geführte Diskussion lässt sich wie folgt zusammenfassen.
BRF [Bundespräsident Felber] betont einleitend, der Bundesrat bemühe sich im EWR-Abstimmungskampf, verbreitete Emotionen zu durchbrechen. Der in den Augen mancher Skeptiker übergrosse Einfluss Deutschlands auf die europäische Politik spiele bei der Beurteilung des EWR durch das Volk eine bedeutende Rolle.4
Für K[lestil] stehen die österreichischen Integrationsbemühungen in engem Zusammenhang mit dem Maastricht-Prozess.5 Österreich befürworte die Wirtschafts- und Währungsunion sowie längerfristig auch die Politische Union. Gerade in diesem Prozess sieht K[lestil] eine wichtige Rolle für Österreich und besonders die Schweiz. Die Ereignisse in Dänemark, Frankreich und Grossbritannien zeigen, dass die Bürger genau das wollen, was unsere zwei Länder einbringen: Die ständige Befragung des Volkes.6 Selbst Delors scheine dies eingesehen zu haben. Sah K[lestil] vor wenigen Wochen in Gesprächen mit Delors und Mitterrand noch den Eindruck bestätigt, die früher von Brüssel fixierte Abfolge Vertiefung / Erweiterung werde nicht mehr so strikt befolgt, d. h. Österreich könne seine Verhandlungen in jedem Fall anfangs 1993 aufnehmen, so mehren sich für ihn nun wiederum die Stimmen, die einen Verhandlungsbeginn erst nach der Lösung der dänisch-britischen Frage als opportun erachten. K[lestil] bedauert dies, würde doch das Thema damit durch seine zeitliche Nähe zu den Parlamentswahlen 1994 diese über Gebühr belasten.
In diesem Zusammenhang präzisiert BRF [Bundespräsident Felber], dass die Schweiz sich in bezug auf den Verhandlungsabschluss nicht in einem Rennen mit Österreich oder Schweden befinde. Es gehe nicht um einen überstürzten sondern um einen sicheren und qualitativen Beitritt. Das Beitrittsgesuch sei einfach ein politisches Signal gewesen.7 In diesem Sinne müsse auch der Avis der Kommission nicht bereits unmittelbar nach dem 6. Dezember erfolgen.8
K[lestil] umreisst die Neutralität in Österreich als identitätsbildende und als im Bewusstsein des Volkes tief verankerte Vorstellung, mit der die positiven Errungenschaften9 des Landes (Wohlstand, Unabhängigkeit, innerer Frieden) in Verbindung gebracht werden.10 Allerdings habe die Neutralität nach dem Wegfall des Ost-West-Gegensatzes ihren Stellenwert verloren, sie könne gegen die neuen Bedrohungen Migration, organisiertes Verbrechen und Umweltprobleme keine Hilfe mehr bieten. Die Neutralitätspolitik müsse daher durch eine Solidaritätspolitik ersetzt werden. Praktisch handle die österreichische Regierung bereits danach – dem Verständnis des Volkes etwas vorauseilend. Ängste könnten nur mit einem entwickelten nationalen Selbstbewusstsein abgebaut werden. Die Kleinen in Europa hätten sich auf diese Weise vom auch in Österreich oft als übergross empfundenen Einfluss Deutschlands emanzipiert. Eigentlich sei eine Furcht vor Deutschland nur berechtigter, wenn man ausserhalb der EG bliebe, nicht jedoch innerhalb der EG. BRF [Bundespräsident Felber] betont, dass die Neutralität als breit akzeptiertes Solidaritätsprinzip in der Aussenpolitik geschichtlich stets auch eine Klammer oder einen Zement in der Innenpolitik gebildet und in schwierigen Zeiten das Auseinanderfallen der Landesteile verhindert habe.11
Sicherheitspolitisch sieht Bundesrat Villiger die Gefahr, dass ein kleiner Neutraler angesichts der heutigen Bedrohung eine Zone minderer Sicherheit werde, weshalb eine Auflockerung12 des Neutralitätsgedankens mit der Zeit nötig sei. Der Sicherheitsbericht von 1990, der vorausschauend die schlimmsten Bedrohungen ausserhalb des militärischen Sektors sah, behalte seine Gültigkeit.13 Angesichts der unklaren Entwicklung und des Fehlens eines neuen Sicherheitsnetzes sei es jedoch noch zu früh, eine Neudefinition der Neutralität zu geben.14 Unter den verschiedenen sicherheitspolitischen Organisationen Europas herrsche ein Konkurrenzverhältnis. Rhetorik ersetze vorläufig noch Taten und Resultate.
K[lestil] gibt bekannt, dass Österreich nach erfolgreichen Beitrittsverhandlungen mit der EG eine engere Zusammenarbeit mit der WEU suchen und den Beobachterstatus anstreben wird. Im Zentrum der österreichischen Politik stehe die Sicherheit. Wenn die Neutralität nicht mehr helfe, müsse man andere Konzepte finden. Aussenminister Mock seinerseits bezeichnet die europäische Sicherheitspolitik als holprige Strasse, auf der grundsätzliche Faktoren den Schwung bremsen: einerseits die Widersprüchlichkeiten in der Zuweisung sicherheitspolitischen Einflusses an die EG (grössere Rolle in Jugoslawien vs. Skepsis gegen Brüsseler Zentralismus), anderseits der aufkeimende Nationalismus, der zeigt, dass die europäische Entwicklung nicht notwendigerweise irreversibel sei. Das Beispiel des unstabilen Osteuropas zeige jedoch, dass es zur europäischen Integration keine Alternative gebe. Und hier müsse auch der Bundesrepublik Deutschland positiv attestiert werden, dass sie die Vereinigung stets dem Primat der Integration unterstellt habe.15
Bundesrat Koller beschreibt die schweizerischen Hilfeleistungen vor Ort16 und zeigt sich enttäuscht ob der fehlenden Aufnahmewilligkeit für Flüchtlinge. Er schlägt eine sofortige konzertierte Aktion der Innenminister vor, damit dem Aufruf des IKRK nach Rettung weiterer 5000 Menschen Folge geleistet werden kann. Die Schweiz könnte z. B. weitere 1000 Personen beherbergen.17 K[lestil] betrachtet Hilfeleistungen vor Ort zum Teil als theoretisch. Sie werden wirkungslos, wenn die Menschen ohne Rückkehrmöglichkeit vertrieben werden. Die Flüchtlingswelle steige so unaufhörlich an. Bereits lebten 70 000 Bosnier in Österreich, welche 130 Mio. Sh/Monat kosten. Die innenpolitische Diskussion sei brisant.
Übereinstimmend bezeichnen beide Delegationen die Situation in Kosovo als explosiv.18 Ein Krieg würde unweigerlich Albanien in den Strudel reissen, mit Implikationen für Griechenland, Mazedonien, die Türkei und Bulgarien. Zum Glück sei der Führer der Albaner in Kosovo, Rugova, moderat, und Panic’s Reise nach Pristina habe vorerst auch etwas beruhigend gewirkt, wiewohl sein Einfluss relativ limitiert sei, wie Mock meint.
Aussenminister Mock ist in einem pessimistischen Exkurs nach wie vor der Meinung, sein bereits im Frühjahr verkündetes 6-Punkte-Programm behalte nach wie vor seine Gültigkeit, gerade da der Teufelskreis der Gewalt und der menschenverachtenden Greueltaten sich stetig verstärke. Leider seien die Chancen für einen menschlichen Dialog nur noch gering. Eine Gesamtlösung schliesse er aus, in Frage komme nur noch eine schrittweise Lösung über viele Jahre hinweg. Erschwerend dabei wirke die zunehmende islamische Verwicklung in diesen Krieg, deren Risiken allgemein völlig unterschätzt werden. Bosnische Regierungsmitglieder zeigten sich wenig erfreut über die Unterstützung durch Iran mit Kämpfern. In der Not akzeptierten sie aber Hilfe ganz gleich woher sie stammt, selbst aus dem Iran, obwohl der von dort ausgehende Fundamentalismus in Bosnien keine Tradition habe. Ebenfalls wenig versprechend für die zukünftige Entwicklung sei der Nationalismus Russlands, der eines Tages wieder eine «Betonpolitik» im UNO-Sicherheitsrat auslösen könnte. Und schliesslich versage überhaupt jeglicher Sicherheitsmechanismus. Wenn nicht einige Sicherheitszonen als minimale Militärmassnahme und als Grundlage für ein Wirken des IKRK geschaffen werden können, seien alle schönen Texte wie z. B. die Pariser Charta19 Makulatur.
a) NEAT / Transitvertrag
Bundesrat Ogi und Präsident Klestil bekräftigen die Auffassung, dass der Transitvertrag auch bei einem EG-Beitritt während der ausgehandelten 12 Jahre gültig bleiben muss.20 Ein Nachgeben gegenüber gegenteiligen Bestrebungen der EG komme nicht in Frage.
Der vorarlbergische Landeshauptmann Purtscher (P.) sorgt sich wegen Verkehrsengpässen in Bregenz im Zusammenhang mit der NEAT.21 Bundesrat Ogi sichert eine Koordinierung mit Österreich, Deutschland und Italien zu.
b) Passiver Textilveredelungsverkehr22
P[urtscher] beschreibt die schlechte Wirtschaftslage der vorarlbergischen Textilunternehmen. Nach den Abkommen der EG mit Polen, der CSFR und Ungarn habe in diesem Sektor die Arbeitslosigkeit sprunghaft zugenommen; 25% der Unternehmen möchten ihren Sitz verlegen. P[urtscher] sucht daher in Brüssel um eine Übergangsregelung bis zu einem EG-Beitritt nach und ersucht die Schweiz um Unterstützung. Die schweizerische Delegation bekräftigt den Gleichklang der Interessen.
c) Jugoslawische Saisonniers / Transit durch Österreich23
Österreich, besonders Vorarlberg, ist besorgt, dass aus der Schweiz ausreisende Saisonniers (18 000 benötigen ein österreichisches Visum) statt nach Hause zu fahren in Österreich bleiben werden. Bundesrat Koller sichert zu, dass die Schweiz solche Personen wieder zurücknehme, wiewohl man davon ausgehen könne, dass sie wirklich in ihre Heimat zurück wollen. Präsident Klestil betont, diese Frage heize die Diskussion um die Ausländerpolitik in Österreich zusätzlich an, und schlägt vor, Sonderzüge durch Österreich zu verwenden.24
- 1
- CH-BAR#E2010A#2001/161#1960* (B.15.51.15). Diese Notiz wurde von Emanuel Jenni von der Politischen Abteilung I des EDA verfasst und im Wochentelex 47/92 vom 16. November 1992 versendet, vgl. dodis.ch/61137.↩
- 2
- Für Bundespräsident Klestil, der am 24. Mai 1992 gewählt und am 8. Juli 1992 vereidigt worden war, vgl. dazu dodis.ch/63668, war es die erste Visite im Ausland als Staatsoberhaupt. Dem offiziellen Staatsbesuch im November ging bereits im August ein erster informeller Besuch in der Schweiz voraus, vgl. den Wochentelex 34/92 vom 17. August 1992, dodis.ch/61136, sowie das Dossier CH-BAR#E2010A#2001-161#1770* (B.15.21(45)).↩
- 3
- Für die Delegationslisten vgl. das Dossier CH-BAR#E2010A#2001/161#1960* (B.15.51.15).↩
- 4
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Abstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), dodis.ch/T2163. Zur österreichischen Wahrnehmung der anstehenden EWR-Abstimmung vgl. auch die Notiz des Chefs des Integrationsbüros EDA/EVD, Botschafter Bruno Spinner, über seinen Besuch in Wien vom 12. und 13. Oktober 1992, dodis.ch/62331.↩
- 5
- Für die schweizerische Sprachregelung nach dem EG-Gipfeltreffen von Maastricht vgl. den Wochentelex 51/91 vom 16. Dezember 1991, dodis.ch/58148.↩
- 6
- Vgl. dazu den Politischen Bericht Nr. 5 des Chefs der schweizerischen Mission bei den Europäischen Gemeinschaften in Brüssel, Botschafter Benedikt von Tscharner, vom 5. Oktober 1992, dodis.ch/63055, sowie zu Dänemark im Speziellen den Politischen Bericht Nr. 10 des schweizerischen Botschafters in Kopenhagen, Daniel Dayer, vom 9. Juni 1992, dodis.ch/63028.↩
- 7
- Vgl. DDS 1992, Dok. 18, dodis.ch/58958, sowie die thematische Zusammenstellung Beitrittsgesuch der Schweiz zur EG (1991–1993), dodis.ch/T1955.↩
- 8
- Für die Abstimmung vom 6. Dezember 1992 vgl. die thematische Zusammenstellung Abstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), dodis.ch/T2163.↩
- 9
- Wort eingefügt.↩
- 10
- Zum Verständnis der österreichischen Neutralität vgl. auch die Anhörung des österreichischen Botschafters in Bern, Franz Parak, in der Sitzung der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats vom 11. Mai 1992, dodis.ch/60863.↩
- 11
- Vgl. dazu das Kapitel 11 Innenpolitische Funktion der Neutralität im Bericht der Studiengruppe Neutralität des EDA vom März 1992, dodis.ch/60120, S. 25–27.↩
- 12
- Wort eingefügt.↩
- 13
- Schweizerische Sicherheitspolitik im Wandel. Bericht 90 des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Sicherheitspolitik der Schweiz vom 1. Oktober 1990, dodis.ch/56097. Vgl. dazu DDS 1991, Dok. 22, dodis.ch/59498.↩
- 14
- Für die schweizerische Neutralitätsdebatte vgl. DDS 1992, Dok. 12, dodis.ch/59120, und Dok. 34, dodis.ch/61955.↩
- 15
- Zum sicherheitspolitischen Austausch mit Österreich vgl. auch DDS 1992, Dok. 46, dodis.ch/61100.↩
- 16
- Vgl. DDS 1992, Dok. 55, dodis.ch/60645.↩
- 17
- Zur schweizerischen Initiative einer europaweiten Verteilaktion schutzbedürftiger Menschen aus Bosnien und Herzegowina vgl. das Aussprachepapier des EJPD an den Bundesrat, BR-Prot. Nr. 2127 vom 11. November 1992, dodis.ch/60657. Am selben Tag ermächtigte der Bundesrat das EJPD, 1500 ehemalige bosnische Kriegsgefangene aus Kroatien in die Schweiz einreisen zu lassen und bis zu ihrer Weiterreise in Drittländer zu beherbergen, vgl. das BR-Prot. Nr. 2119 vom 11. November 1992, dodis.ch/60682. Am 14. Dezember 1992 ermächtigte der Bundesrat das EJPD und das EDA «im Verlaufe des Winters 1992/93 bis zu maximal 5000 zusätzliche Kriegsvertriebene aus dem ehemaligen Jugoslawien, Familienangehörige eingeschlossen, aufzunehmen», vgl. das BR-Prot. Nr. 2407, dodis.ch/60656.↩
- 18
- Zur Situation in Kosovo vgl. die Notiz der schweizerischen Botschaft in Belgrad vom 13. November 1992, dodis.ch/62119. Vgl. ferner die Analyse des Nachrichtendiensts des EMD vom 25. November 1992, dodis.ch/62445.↩
- 19
- Die Charta von Paris für ein neues Europa, dodis.ch/54680, sollte die friedliche Ordnung Europas nach Ende des Kalten Kriegs garantieren und wurde am 21. November 1990 von den Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der KSZE-Teilnehmerstaaten in Paris unterzeichnet, vgl. DDS 1990, Dok. 50, dodis.ch/54685.↩
- 20
- Vgl. dazu DDS 1991, Dok. 51, dodis.ch/58168; das BR-Prot. Nr. 285 vom 12. Februar 1992, dodis.ch/58172, dazu die thematische Zusammenstellung Transitverhandlungen mit der EG (1987–1992), dodis.ch/T1913.↩
- 21
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT), dodis.ch/T1722.↩
- 22
- Vgl. dazu die Zusammenstellung dodis.ch/C2006.↩
- 23
- Vgl. dazu die beiden für das Gespräch erstellten Notizen der Politischen Abteilung I des EDA, dodis.ch/62052 und dodis.ch/62053.↩
- 24
- Für den weiteren Verlauf dieser Angelegenheit vgl. dodis.ch/63085, dodis.ch/63841 sowie dodis.ch/63086.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/61315 | is printed in | http://dodis.ch/61137 |
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Security policy European Union (EEC–EC–EU) Neutrality policy Yugoslav Wars (1991–2001) Seasonal Worker Statute (1931–2002)