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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1992, doc. 46
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E5004A#2014/94#767* | |
Dossier title | Treffen der neutralen Verteidigungsminister in Bern am 2./3.10.92 Korrepsondenz (1992–1992) | |
File reference archive | 095.99-013 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#1771* | |
Dossier title | Offizieller Arbeitsbesuch von Botschafter Jenö Stähelin in Wien, 22.10.1992 (1992–1992) | |
File reference archive | B.15.21(46) • Additional component: Autriche |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E5560D#2010/154#34* | |
Dossier title | Papiere Generalstabschef. Europäische Integration, Partnership for Peace, Neutralität, Konzeption Sicherheitspolitik, Treffen Verteidigungsminister neutraler Staaten (1991–1995) | |
File reference archive | 20 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#1231* | |
Dossier title | Allgemeines, Band 3 (1992–1992) | |
File reference archive | A.25.14.40 |
dodis.ch/61100Gespräche des Vorstehers des EMD, Bundesrat Villiger, mit der finnischen Verteidigungsministerin Rehn sowie den schwedischen und österreichischen Verteidigungsministern Björck und Fasslabend1
Treffen der vier neutralen Verteidigungsminister vom 2./3. Oktober 1992
Auf Schweizer Einladung haben sich die Verteidigungsminister von Finnland, Österreich, Schweden und der Schweiz2 erstmals in Bern zu einem informellen Meinungsaustausch getroffen.3 Im Mittelpunkt der Gespräche standen die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen und die Zukunftsperspektiven einer europäischen Sicherheitsarchitektur.
Die Gespräche fanden in einem ausgezeichneten, durch gegenseitiges Vertrauen gekennzeichneten Klima statt. Das Hauptziel wurde erreicht: Die Diskussionen wurden sehr offen geführt, übereinstimmende Haltungen und Meinungsverschiedenheiten traten klar zutage, was von allen Teilnehmern als gute Grundlage für die Weitergestaltung ihrer nationalen Politiken beurteilt wurde.
Die wichtigsten Ergebnisse im einzelnen:
Die sicherheitspolitische Lage wird von den drei andern Ländern um einiges skeptischer beurteilt als von uns.4 Der österreichische Kollege unterstrich mit Nachdruck die gefährliche Signalwirkung, die von der Nichtbewältigung des serbischen Expansionskriegs im ehemaligen Jugoslawien ausgeht.5 Er befürchtet, dass die Politik der ethnischen Säuberungen vielfache Nachahmung in Mittel- und Osteuropa finden wird, wenn es Europa nicht gelingt, den grausamen Kämpfen ein Ende zu setzen und vor allem ein Übergreifen des Konflikts auf weitere Teile des ehemaligen Jugoslawien zu verhindern.
Als sehr prekär wird auch die Lage im Baltikum und in Russland beurteilt. Grosse Beunruhigung weckt die mit dem Abzug der russischen Streitkräfte aus Mitteleuropa verbundene Massierung von Truppen und modernsten Waffen im Leningrader(sic!)-Militärbezirk und auf der Halbinsel Kola. Die beiden nordischen Länder verfolgen das Schicksal der russischen Truppen in den baltischen Staaten mit grösster Aufmerksamkeit und befürchten, dass ethnische Spannungen zwischen der baltischen Bevölkerung und den ansässigen Russen die russische Militärführung zu revanchistischen Aktionen treiben könnten. In Russland selbst geben die Zunahme extremistischer und verbrecherischer Organisationen sowie die leichte Verfügbarkeit von Waffen zu Besorgnis Anlass. Man rechnet damit, dass im Falle einer Rückkehr extremistischer Kräfte an die Macht binnen drei Jahren erneut ernstzunehmende operative Offensivoptionen aufgebaut werden könnten.
Keine der drei anderen Regierungen glaubt daran, dass in absehbarer Zukunft ein gesamteuropäisches, stabiles kollektives Sicherheitssystem entstehen wird. Hauptverantwortlich für diesen Pessimismus ist die politische und wirtschaftliche Instabilität in Mittel- und Osteuropa. Gleichzeitig wird aber auch auf das Unvermögen Europas hingewiesen, die politischen Anstrengungen zur Stabilisierung in klare institutionelle Bahnen zu lenken. Statt innerhalb bestehender Organisationen wirklich effiziente Mechanismen zu schaffen, würden laufend neue Gremien ins Leben gerufen. Namentlich die KSZE sei durch die Übertragung neuer Aufgaben überlastet und in ihrem Charakter verändert worden.6
Die Notwendigkeit von Massnahmen zur raschen Krisenprävention wurde von allen Teilnehmern unterstrichen. Gleichzeitig wurde aber auch auf die Grenzen der Handlungsmöglichkeiten hingewiesen: Namentlich der Übergang von Peacekeeping zu Peacemaking wurde als risikoreich beurteilt.7 Keiner der drei anderen Staaten ist zurzeit bereit, bei offensiven Peacemaking- und Peaceenforcement-Operationen mitzumachen.8 Ausschlaggebend für diese klare Haltung sind politische und finanzielle Erwägungen, aber auch Zweifel daran, dass solche Operationen von jemand anderem als der NATO überhaupt durchgeführt werden könnten.
Die eigene Zurückhaltung der Tagungsteilnehmer stand hier in einem gewissen Gegensatz zur gleichzeitig gemachten Feststellung, dass das traditionelle Peacekeeping zunehmend an Bedeutung verliere, weil sich eine der Grundvoraussetzungen dieses Instruments verändert hat: Während des Kalten Krieges war das internationale System darauf angelegt, in Konfliktfällen schnell zu reagieren und Friedenstruppen zwischen die Fronten zu stellen, um eine gefährliche Eskalation lokaler Konflikte zu einer Konfrontation der Supermächte zu verhindern. Nach Beendigung des Kalten Kriegs fehlt dieser Wille zur raschen Stabilisierung von Konflikten, und entsprechend fehlt es auch an politischem und militärischem Druck auf die Konfliktparteien, akute Auseinandersetzungen so rasch als möglich zu beenden. Es ist deshalb damit zu rechnen, dass Einsätze von UNO-Truppen inskünftig vermehrt den Charakter von Peace-Enforcement-Aktionen, unter Einsatz von Waffengewalt, annehmen werden.9
Unter dem Gesichtspunkt der Stabilität erscheint die weitere politische und militärische Präsenz der USA in Europa als unabdingbar.10 Alle Tagungsteilnehmer gingen auch davon aus, dass die NATO ein Kernelement von Europas Sicherheit bleibt. Der WEU wird eine in die Zukunft gerichtete Dynamik und eine ausbaufähige Rolle im Peace-keeping attestiert, doch wird sie nicht als Ersatz für die NATO gesehen.11
Herausragendes Ergebnis der Tagung war die klare Feststellung, dass die Neutralität von den vier teilnehmenden Staaten nicht mehr als gemeinsame Basis für politisches Handeln angesehen wird. Schweden betrachtet sich nicht länger als neutral. Österreich und Finnland werden zwar formell von der Neutralität nicht abrücken, sie jedoch immer weniger betonen.12 Es müsse auf jeden Fall vermieden werden, dass die Neutralität die Gestaltung des Verhältnisses zur Europäischen Union belaste.
Von schweizerischer Seite haben wir die im dritten Integrationsbericht dargelegte Haltung unterstrichen, wonach die schweizerische Regierung sich bewusst sei, dass ein EG-Beitrittskandidat die Finalität von Maastricht akzeptieren müsse, dass wir aber davon ausgingen, dass an Beitrittskandidaten keine höheren Anforderungen gestellt würden als an die EG-Mitgliedstaaten selbst.13
Der schwedische Minister plädierte dafür, dass jeder der Beitrittskandidaten in den Verhandlungen auf seine besonderen Anliegen pochen solle: Von der EG könne erwartet werden, dass sie den unterschiedlichen Verhältnissen der einzelnen Länder durch eine flexible Haltung in der Neutralitätsfrage Rechnung trage.
Obwohl von verschiedenen Seiten beteuert wurde, es bestehe im Blick auf die Beitrittsverhandlungen eine Interessengemeinschaft, bleiben nach unserer Auffassung erhebliche Zweifel offen, ob hier mehr dahinter steht als ein rein verbales Bekenntnis: Der unbedingte Wille, vor allem der nordischen Teilnehmer, sich jede Handlungsfreiheit in der Neutralitätsfrage zu wahren, deutet jedenfalls nicht darauf hin, dass die gemeinsamen Interessen sehr tief verwurzelt wären.
Die bereits erwähnte Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit der KSZE als Kern für eine europäische Sicherheitsordnung bewegt alle drei anderen Teilnehmerländer dazu, ihr Verhältnis zur NATO und zur WEU zu überprüfen.14
Niemand strebt in absehbarer Zukunft die Mitgliedschaft in der NATO an. Selbst der Status eines Beobachters im Nordatlantischen Kooperationsrat, den Finnland wählte, wird von Schweden und Österreich zurzeit nicht angestrebt. Es bestehen gegenüber der NATO aus innenpolitischen Gründen gewisse Berührungsängste, wobei aber klar durchschimmerte, dass man diese, ist einmal die EG-Mitgliedschaft geregelt, schnell überwinden dürfte, um es nicht bei einer einseitigen Annäherung an die WEU bewenden zu lassen. Unsere Partner sind sich bewusst, dass vermieden werden muss, sich in eine EG-interne Auseinandersetzung um den Stellenwert von NATO und WEU verwickeln zu lassen.
Keiner unserer Gäste strebt die Vollmitgliedschaft in der WEU an. Unter Vorbehalt der noch festzulegenden Regierungspositionen hielten jedoch im informellen Gespräch alle folgendes Vorgehen für wünschbar: Die vier traditionellen Neutralen sollten den Beobachterstatus bei der WEU anstreben – und zwar, sofern möglich, noch vor der EG-Mitgliedschaft. Falls unter den Beitrittskandidaten in diesem Punkt eine Einigung erzielt wird, sollte der Wunsch nach einem Beobachterstatus der WEU und der EG signalisiert werden, um die WEU zu veranlassen, den Beitrittskandidaten den Status eines Gastlandes, eventuell eines Beobachters, anzubieten.15
Trotz diesem Ansatz für ein gemeinsames Vorgehen bleibt jedoch auch hier eine gewisse Skepsis angebracht: Keiner der Gäste zeigte Bereitschaft, einer regelmässigen gegenseitigen Information im Vorfeld eigener Annäherungsschritte an die NATO oder die WEU zuzustimmen. Es besteht somit durchaus die Möglichkeit, dass der eine oder andere unserer Partner vorprellen und eine solche Annäherung eigenständig sehr schnell verwirklichen könnte.16
Um gegen aussen den Eindruck zu vermeiden, die Neutralen bildeten eine Art Block, zeigten alle Gäste eine klare Abneigung, das Ministertreffen formell und öffentlich zum Startpunkt regelmässiger gegenseitiger Konsultationen zu erklären. Im direkten Gespräch wurden allerdings klare Signale gegeben, dass dieses erste Treffen durch weitere ergänzt werden könnte, je nach weiterer Lageentwicklung.
Gesamthaft wurde mit dem offenen Meinungsaustausch in Bern keine neue Gruppierung geschaffen, sondern ein bestehendes Beziehungsnetz pragmatisch auf eine neue Basis gestellt.
- 1
- CH-BAR#E5004A#2014/94#767* (095.99-013). Diese vom Vorsteher des EMD, Bundesrat Kaspar Villiger, unterzeichnete Informationsnotiz wurde von Bernhard Marfurt, stv. Generalsekretär des EMD und Referent des Departementvorstehers für aussen- und sicherheitspolitische Fragen, verfasst und richtete sich an den Bundesrat. Sie basiert auf einem ausführlicheren Entwurf von Theodor H. Winkler, dem Beauftragten des Generalstabschefs für sicherheitspolitische Fragen des EMD, vgl. dodis.ch/62783. Im EMD gingen Kopien der Informationsnotiz an die Mitglieder des Leitungsstabs, den Stab der Gruppe für Generalstabsdienste sowie das Generalsekretariat und im EDA an den Direktor der Politischen Direktion, Staatssekretär Jakob Kellenberger, an den Chef der Politischen Abteilung I, Botschafter Jenö Staehelin, an die Chefin der Politischen Abteilung III, Botschafterin Marianne von Grünigen, an den Chef des Politischen Sekretariats, Botschafter Guy Ducrey, sowie an den Chef des Integrationsbüros EDA/EVD, Botschafter Bruno Spinner. Im EVD ging eine Kopie an den Direktor des Bundesamts für Aussenwirtschaft, Staatssekretär Franz Blankart.↩
- 2
- Elisabeth Rehn, Werner Fasslabend, Andres Björck und Bundesrat Villiger.↩
- 3
- Ein bereits für den 22. und 23. Februar 1991 in der Schweiz geplantes Treffen der neutralen Verteidigungsminister musste aufgrund von Erkrankungen im letzten Moment abgesagt werden, vgl. dazu das Dossier CH-BAR#E5560D#2006/79#207* (322.2). Dem schliesslich realisierten Treffen vom 2. und 3. Oktober 1992 ging ein vorbereitendes Neutralentreffen der Armeespitzen voraus: Am 16. März 1992 empfing der schweizerische Generalstabschef, Korpskommandant Heinz Häsler, den Oberbefehlshaber der schwedischen Streitkräfte, General Bengt Gustafsson, den Oberbefehlshaber der finnischen Verteidigungskräfte, Admiral Jan Klenberg, sowie den Generaltruppeninspektor des österreichischen Bundesheers, General Karl Majcen, vgl. dodis.ch/62830.↩
- 4
- Für eine Einschätzung der sicherheitspolitischen Lage in Europa durch den schweizerischen Nachrichtendienst vgl. dodis.ch/61232.↩
- 5
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Jugoslawienkriege (1991–2001), dodis.ch/T1915.↩
- 6
- Zum Zustand der KSZE vgl. die Notiz zur Arbeitstagung der Sachgruppe Strategie im Stab der Gruppe für Generalstabsdienste des EMD vom 20. und 21. Oktober 1992, dodis.ch/61890. Vgl. dazu auch DDS 1992, Dok. 27, dodis.ch/61951.↩
- 7
- Zum Verhältnis von Peacekeeping und Peacemaking aus schweizerischer Sicht vgl. dodis.ch/62238. Für eine Übersicht der schweizerischen Beteiligung an friedenserhaltenden Operationen vgl. DDS 1992, Dok. 59, dodis.ch/62528.↩
- 8
- Auch für die Schweiz standen die Bereiche Präventivdiplomatie sowie das klassische Peacekeeping im Zentrum, vgl. die Notiz der Sektion Vereinte Nationen und internationale Organisationen des EDA vom 30. September 1992, dodis.ch/62334.↩
- 9
- Vgl. dazu die Einschätzung des stv. Chefs der Abteilung UNO und Internationale Organisationen des EDA, Anton Thalmann, vom 20. Juli 1992, dodis.ch/62238.↩
- 10
- Zur Zukunft der militärischen Präsenz der USA in Europa vgl. dodis.ch/61279, S. 8.↩
- 11
- Für die Beziehungen der vier neutralen Staaten zur WEU vgl. dodis.ch/61889.↩
- 12
- Zu den jeweiligen Interpretationen der Neutralität vgl. die Anhörung des finnischen Missionschefs bei der UNO in Genf, Botschafter Antti Antero Hynninen, des österreichischen Botschafters in Bern, Franz Parak, sowie des schwedischen Botschafters in Bern, Hans Viktor Ewerlöf, vor der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats am 11. und 12. Mai 1992, dodis.ch/60863. Zur schweizerischen Diskussion über die Ausgestaltung der Neutralität vgl. DDS 1992, Dok. 12, dodis.ch/59120, und Dok. 34, dodis.ch/61955.↩
- 13
- Vgl. den Bericht über einen Beitritt der Schweiz zur Europäischen Gemeinschaft vom 18. Mai 1992, dodis.ch/59540, und das BR-Prot. Nr. 942 vom 18. Mai 1992, dodis.ch/60998.↩
- 14
- Zum Verhältnis der Schweiz zur NATO und zur WEU vgl. DDS 1992, Dok. 62, dodis.ch/61267; zur Rolle der KSZE in der europäischen Sicherheitsordnung vgl. dodis.ch/62576.↩
- 15
- Zur Beziehung der Schweiz sowie anderer neutraler Staaten zur WEU vgl. den Bericht zu der vom EMD organisierten Ausbildungsreise für sicherheitspolitische Experten zur NATO, zur EG und zur WEU im Mai 1992, dodis.ch/61435, insbesondere die beigelegte Gesprächsnotiz zum Treffen mit Vertretern der WEU am 7. Mai 1992, sowie die Notiz der Politischen Abteilung II hinsichtlich des Treffens der Staatssekretäre der vier neutralen Staaten vom 26. Februar 1992, dodis.ch/61889.↩
- 16
- Dies wurde bereits im November 1992 anlässlich der vom EMD organisierten Ausbildungsreise für sicherheitspolitische Experten in die USA deutlich, vgl. dodis.ch/61279.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/62783 | is the draft of | http://dodis.ch/61100 |
Tags
Finland (General) Neutrality policy Austria (General) Sweden (General) Cooperation with the neutral States (1989–)