Darin: Schreiben von M. Krafft an die Mitglieder der Arbeitsgruppe Neutralität vom 11.8.1992 (Beilage).
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1992, doc. 34
volume linkBern 2023
more… |▼▶Repository
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#5132* | |
Dossier title | Allgemeines, Band 7 (1992–1992) | |
File reference archive | B.51.10 |
dodis.ch/61955Notiz der Direktion für Völkerrecht des EDA1
Stellungnahme zum Diskussionspapier des EMD betreffend Autonome Verteidigungsfähigkeit und Neutralität2
Ganz offensichtlich betrifft die vom EMD aufgeworfene Frage der militärischen Grenzen der autonomen Verteidigungsfähigkeit das Nervenzentrum der schweizerischen Neutralität: sofern und soweit sich unser Land nicht mehr autonom verteidigen kann, verliert die Neutralität insgesamt ihr Fundament. Die autonome Verteidigung war während Jahrhunderten unabdingbares Charakteristikum unserer bewaffneten Neutralität. Eine allenfalls notwendige militärische Zusammenarbeit mit dem Ausland würde den Kerngehalt der Neutralität verletzen. Diese Problematik stellt mithin unsere Neutralität grundsätzlich in Frage. Die Analyse des EMD muss daher weiter vertieft und in geeigneter Form in die öffentliche Diskussion eingebracht werden.3 Es geht nicht an, die innenpolitische Auseinandersetzung über unsere Neutralität ausschliesslich anhand aussenpolitischer Streitfragen, insbesondere des EG-Beitritts, zu führen, wenn die Aufrechterhaltung der herkömmlichen Neutralität aus militärischen Gründen als illusorisch erscheint. Wenn die Armee des neutralen Kleinstaates Schweiz ihren militärischen Auftrag in Zukunft nur noch im Verbund mit ausländischen Streitkräften erfüllen kann, wenn Neutralität ihre Schutzwirkung verliert und zum Risiko wird, dann darf die militärische Führung dies nicht länger verschweigen.4 Nicht zuletzt würde dadurch die Frage der Integration der Schweiz in Europa (EWR, EG, NATO, WEU) eine ganz neue Dimension in der politischen Diskussion erhalten. Es könnte unter anderem deutlich gemacht werden, dass Integration nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern viel mehr noch aus sicherheitspolitischen Gründen für unser Land eine Notwendigkeit darstellt. Verlangt unsere militärische Verteidigung nach der Zusammenarbeit mit ausländischen Streitkräften, so finden sich unsere Verbündeten aus offensichtlichen Gründen bei unseren Nachbarn, mit denen wir auch eine wirtschaftliche und politische Integration anstreben.5
Es ist unbestritten, dass eine autonome Verteidigung im ausgehenden 20. Jahrhundert immer schwieriger zu sichern ist, immer teurer wird und angesichts der modernen Bedrohungen und unseres aussenpolitischen Umfeldes immer weniger Sinn macht. Daher hat der Bundesrat bereits im Sicherheitsbericht 90 seinen Willen kundgetan, am Aufbau eines europäischen Sicherheitssystems aktiv mitzuwirken.6 Darüberhinaus ist für uns einsichtig, dass die Schweiz – übrigens nicht nur aus Gründen der militärischen Landesverteidigung – mittelfristig die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene im verteidigungspolitischen Bereich ausbauen sollte. Der vom EMD vorgeschlagenen stufenweisen Kooperation (Seite 15) sowie der Annäherung an die NATO und WEU können wir daher ausdrücklich beipflichten. Diese Zusammenarbeit ist aber bereits im Rahmen der herkömmlichen Neutralität, wie sie von der Studiengruppe des Bundesrates in ihrem Bericht vom März 1992 umschrieben wurde, in gewissen Grenzen realisierbar.7 Es bedarf dazu keiner Neuumschreibung der Neutralität im Sinne einer differentiellen Haltung. Je mehr dieses europäische Sicherheitssystem funktioniert und je wirkungsvoller die militärische Zusammenarbeit ist, desto weniger wird es unsere bewaffnete Neutralität brauchen.
Dem Diskussionspapier des EMD (Ziff. 2.2.) kommt insbesondere das Verdienst zu, die Problematik der Unabhängigkeit als Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit der Neutralität in die Diskussion einzubringen. Um effektiv und glaubwürdig zu sein, muss der dauernd neutrale Staat eine gewisse tatsächliche Unabhängigkeit vom Ausland aufweisen. Nur wenn er unabhängig ist, kann er im Krisenfall Druckversuchen widerstehen und seine Neutralitätspflichten erfüllen. Steht der Neutrale aber in grosser Dependenz von einem Staat oder einer Staatengruppe, so ist er erpressbar.
Nun ist diese Unabhängigkeit der Schweiz aber nicht nur in militärischer, sondern vielmehr noch in wirtschaftlicher Hinsicht seit langem stark relativiert. Die Dependenz der Schweiz vom Ausland und insbesondere von der EG hat sich mit der Entwicklung ihrer Volkswirtschaft stetig vergrössert. Mittlerweilen hat ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von der EG auch ohne Mitgliedschaft einen derartigen Grad erreicht, dass bezüglich der Neutralität der Unterschied zwischen Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft kaum mehr relevant ist. Mehr als 70 Prozent unserer Einfuhren stammen aus der EG und über 58 Prozent unserer Exporte gehen in die EG. Wir haben in bezug auf diese Gemeinschaft einen höheren wirtschaftlichen Integrationsgrad erreicht als viele EG-Mitglieder unter sich. Die wirtschaftliche Verflechtung ist bereits derart fortgeschritten, dass man von einer «nicht institutionalisierten Wirtschafts- und Schicksalsgemeinschaft der Schweiz mit den EWR-Ländern»8 sprechen muss. Diese faktischen Bindungen erzeugen für die Schweiz ähnliche Neutralitätsrelevanz wie rechtliche Vereinbarungen. Sie erhöhen ihre Verletzbarkeit und Erpressbarkeit und relativieren ihre politische Unabhängigkeit, ob sie nun EWR-/EG-Mitglied ist oder nicht.
Daher würde es im Falle einer militärischen Auseinandersetzung in Europa, in die einige oder alle Mitgliedstaaten der EG verwickelt wären, bei genauer Betrachtungsweise wenig Unterschied machen, ob die Schweiz als Mitglied des EWR bzw. der EG oder als Aussenseiter mit einem derartigen Krieg konfrontiert wäre. In jenem Fall würde die rechtliche, in diesem Fall die faktische Abhängigkeit von der EG die Einhaltung der Neutralitätspflichten aufs Schwerste in Frage stellen. Neutralitätsrechtliche Sorgen der Schweiz würden völlig in den Hintergrund treten. Es ginge ums schlichte menschliche, militärische, wirtschaftliche, politische Überleben. Die wirtschaftlichen Rechte der neutralen Schweiz würden wohl noch gravierender verletzt als im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Aufgrund der bereits jetzt bestehenden Auslandabhängigkeit der Schweiz, die etwa bei den Rohstoffen und Energieträgern zwischen 80 und 100 Prozent beträgt, wären wir äusserst erpressbar. Die EG-Staaten, verwickelt in einen Überlebenskampf, würden zusätzlich zum militärischen Potential sämtliche Mittel der wirtschaftlichen Kriegsführung einsetzen, insbesondere eine völlig wirtschaftliche Isolierung des Gegners anstreben. Dabei würden sie wahrscheinlich kaum aus blossem Respekt vor dem Neutralitätsrecht auf ein Nicht-Mitglied Schweiz Rücksicht nehmen. Vielmehr würden sie wohl alle wirtschaftlichen Druckmittel einsetzen, um auch die Schweiz in ihre Front der wirtschaftlichen Kriegsführung einzubeziehen. Beispielsweise könnte die EG unser Land durch eine Unterbrechung der Importe aus der EG oder über deren Territorium innert kurzer Zeit gefügig machen. Faktisch müsste die Schweiz sich verhalten als wäre sie EG-Mitglied. Dieser Druck würde wohl durch die verbindende Wirkung, welche die weitgehende Übereinstimmung zwischen den ideellen Grundwerten der Schweiz und denen der EG-Staaten in unserem Land erzeugt, unterstützt.
Realistischerweise könnte die Schweiz in einem derartigen Krieg – ob nun EWR-/EG-Mitglied oder nicht – nur in militärischer Hinsicht ihre Neutralität aufrechterhalten, und das wäre wohl für uns das Wesentlichste. Die Glaubwürdigkeit ihrer Neutralität würde letztlich von ihrer militärischen Abwehrbereitschaft und ihrer wirtschaftlichen Kriegsvorsorge abhängen.
4.1. Problematik des Begriffs
Der Begriff der differentiellen Neutralität wurde zur Zeit des Völkerbundes als Gegenbegriff zu demjenigen der integralen Neutralität entwickelt und definiert. Die Schweiz erklärte sich damals bereit, bei Wirtschaftsmassnahmen des Völkerbundes die Gleichbehandlung aufzugeben und zwischen dem Völkerbund und dem bestraften Rechtsbrecher zu differenzieren.10
Im Diskussionspapier des EMD wird dieser Begriff der differentiellen Neutralität in einem anderen, neuartigen Sinne verwendet. Dies kann zur Verwirrung führen. Im übrigen ist dieser Ausdruck infolge der schlechten Erfahrungen der Schweiz in der Völkerbundszeit historisch belastet.
4.2. Rechtliche Problematik
In völkerrechtlicher Hinsicht beinhaltet das EMD-Konzept eine Aufgabe der dauernden Neutralität und einen Übergang zur gewöhnlichen Neutralität.11 Gemäss überwiegender Lehre ist die Schweiz dazu berechtigt; dieser Schritt darf aber wegen des Vertrauensprinzips nicht zur Unzeit erfolgen und bedarf einer feierlichen Notifikation an andere Staaten.12
Ein allfälliger Übergang zur gewöhnlichen Neutralität stellt verfassungsrechtliche Probleme. Die herrschende schweizerische Lehre sieht in der dauernden Neutralität einen Grundsatz von Verfassungsrang. Ein Verzicht auf dieses Prinzip ist nur nach einer formellen Verfassungsänderung oder einer entsprechenden Abstimmung von Volk und Ständen im Rahmen des Staatsvertragsreferendums möglich.13 Dementsprechend wären bei einer Aufgabe der dauernden Neutralität etwa folgende Wege denkbar:
– Militärische Zusammenarbeitsverträge der Schweiz mit Nachbarstaaten, der NATO oder der WEU bzw. der Beitritt unseres Landes zur NATO oder WEU wird im Staatsvertragsreferendum angenommen und implizit die Modifikation der Neutralität gebilligt.
– Das Prinzip der differentiellen Neutralität wird in einer formellen Verfassungsrevision eingeführt.
– Die Bundesbehörden unterstellen die feierliche Notifikation über die Aufgabe der dauernden bzw. den Übergang zur gewöhnlichen Neutralität als grundlegende Neuorientierung der schweizerischen Aussenpolitik einem ad hoc (Staatsvertrags?) Referendum.
– Die schweizerische Neutralität wird – analog zur österreichischen – in einem Neutralitätsgesetz neu umschrieben.14
Unbestrittenermassen handelt es sich bei den obigen Überlegungen um eine formaljuristische Betrachtungsweise. Wenn der Bundesrat aber eine grundlegende Änderung der schweizerischen Neutralitätskonzeption vornehmen will, muss er sich auf derartige völker- und verfassungsrechtliche Einwände vorbereiten. Sie werden mit Sicherheit von den Gegnern seiner Politik vehement ins Feld geführt.
Auch die Studiengruppe Neutralität hat sich mit dieser rechtlichen Problematik befasst. Sie ging davon aus, dass jede Änderung unserer Neutralitätskonzeption, die formelle Revisionen nötig macht oder grundlegende Pfeiler unserer Neutralität aufgibt, in der politischen Auseinandersetzung zum Scheitern verurteilt ist. Daher hat die Studiengruppe jede derartige Änderung vermieden. Anderseits hat sie wohl mit ihren Vorschlägen die Grenzen des mit der völkerrechtlichen Stellung der dauernden Neutralität noch Vereinbaren erreicht. Wenn der Bundesrat über die Anträge der Studiengruppe hinausgehen will – und gute Gründe mögen dafür sprechen –, so verlässt er das vom Völkerrecht und der bisherigen schweizerischen Praxis umschriebene Statut der dauernden Neutralität. Er muss dann auch die damit verbundenen verfassungsrechtlichen Verfahren einhalten.
4.3.1.
Sicherheit ist unteilbar. Wenn die Schweiz zur Auffassung gelangt, dass sie sicherheitspolitisch mit ihren Nachbarstaaten in einem Boot sitzt, muss sie mit diesen die Kooperation suchen und das gemeinsame Sicherheitssystem voll mittragen. Für geographische Abgrenzungen besteht dann kein Raum mehr. Entweder ist die Schweiz neutral, und dann ist sie es erga omnes, oder sie ist es – als Mitglied eines gemeinsamen Sicherheitssystems – nicht. Die Bedeutung der Neutralität und ihres für das Ausland so wichtigen «informative value» wird linear abnehmen und nicht nach geographischen Lokationen eines Konfliktes.
4.3.2
Das Konzept der differentiellen Neutralität geht davon aus, dass es möglich ist, Konfliktszenarien zum voraus zu definieren, in denen die Neutralität beibehalten werden soll, und diese von Szenarien abzugrenzen, in denen eine Zusammenarbeit mit Vertragspartnern gesucht würde (Seite 13 des EMD-Papiers).15 Diese Unterscheidung verschiedener Konfliktszenarien wirft aber schwierige, zum Teil unlösbare Fragen auf:
– Wie definiert sich ein aussereuropäischer Konflikt? Wo hört Europa auf?16 Ist bei einem Angriff des Iraks auf die Türkei Europa bedroht oder handelt es sich um einen Neutralitätsschutzfall? Wann ist der europäische Kontinent bedroht? Wenn der Iran A-Waffen besitzt? Oder erst wenn Algerien A-Macht wird? Würde die Schweiz zur Kooperation nur bei einem Angriff auf ihre Nachbarn bzw. die EG/EFTA Staaten bereit sein oder auch wenn Mittel- und Osteuropa bedroht wären? Oder erst, wenn unmittelbar mit einer Verwicklung der Schweiz gerechnet werden muss?
– Wann hat ein innereuropäischer Konflikt kontinentale Dimension und ist damit kein Neutralitätsfall mehr? Wie ist unter diesem Gesichtspunkt der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, wie der in ehemaligen Sowjetrepubliken zu beurteilen? Soll die Schweiz militärische Massnahmen der WEU/NATO im Namen der europäischen Sicherheit gegen Serbien unterstützen?17 Welche Kriterien sollen zur Anwendung kommen? Wie erklärt die Schweiz ihren Entscheid ihren Kooperationspartnern, den Konfliktparteien, den eigenen Bürgern?
– Welche sicherheitspolitische Funktion hat Neutralität in einem aussereuropäischen Konflikt (Iran–Irak)18 oder in einem innereuropäischen Streit, der die Schweiz kaum direkt betrifft (Aserbaidschan–Armenien)19 überhaupt? Erscheint unsere Neutralität ausserhalb Europas noch glaubwürdig oder von Nutzen, wenn wir in anderen Fällen die Partei (West)Europas ergreifen?
– Welche Streitkräfte (Waffensysteme, Truppenstärke) sollen im Solidaritätsfall der Schweiz zu Hilfe kommen? Sollen Schweizer Truppen im Ausland eingesetzt werden? Inwieweit geht deren Einsatzgebiet im Ausland?
4.3.3.
Wir hegen nicht nur grosse Zweifel, ob es gelingen kann, die Konfliktszenarien, die Abgrenzung der Solidaritätsgemeinschaft, die rechtliche und militärische Festlegung der Solidaritätsverpflichtungen mit der ausreichenden Präzision zu umschreiben. Überdies halten wir eine derartige Festlegung vorläufig für inopportun. Sie würde dem Bundesrat zum vorneherein die Hände in vielen Fällen binden. Flexibler Interessenwahrung unter Ausnützung des aussenpolitischen Gestaltungsspielraumes wären Grenzen gesetzt. Die Schweiz würde erneut in ein festes Korsett sicherheitspolitischer Regeln gezwungen.
4.3.4.
Im Gegensatz zum EMD halten wir es für fraglich, ob die differentielle Neutralität im Ausland als glaubwürdig und vorhersehbar beurteilt wird. Drittstaaten würden die Schweiz wohl kaum mehr als verlässlich neutral perzeptieren, wenn unser Land in wesentlichen Bereichen der Landesverteidigung mit anderen Staaten zusammenarbeitet. Sie würden die Eidgenossenschaft eher zum vornherein dem westeuropäischen Lager zuordnen. Die Schwierigkeiten bei der Definition der Konfliktszenarien, die einen Neutralitätsfall auslösen sollen, schränken überdies die Vorhersehbarkeit und Verlässlichkeit unseres Verhaltens bei Drittstaaten ein.
4.3.5.
Fraglich ist ferner, ob die sich aus der differentiellen Neutralität ergebenden sehr beschränkten und vorbehaltenen Beistandsverpflichtungen der Schweiz für ihre Zusammenarbeitspartner von Interesse wären und ob diese im Einzelfall, z. B. in einem innereuropäischen Konflikt, ein Ausscheren aus der Kooperation gestatten würden. Weder die NATO noch die WEU kennen zur Zeit eine derartige «halbe Mitgliedschaft». Die Aussichten eine Sonderlösung für den «Sonderfall Schweiz» auszuhandeln, werden von uns – im Gegensatz zum EMD (Seite 14 seines Diskussionspapiers) – als nicht eben gross bewertet.20 Die differentielle Neutralität erscheint uns auch im Rahmen der EG als kaum negoziable Position. Unsere Nachbarstaaten dürften ausserhalb der NATO bzw. WEU kaum zu einer wirkungsvollen Kooperation mit der Schweiz bereit sein.
4.3.6.
Grosse Zweifel sind schliesslich bezüglich der innenpolitischen Akzeptierbarkeit des EMD-Konzepts angebracht.21 Würde der Schweizer an diese Form der Neutralität noch glauben? Würde er dies nicht als völlige Aushöhlung der Neutralität hinterfragen? Würde er es nicht für politisch ehrlicher halten, wenn der Bundesrat darlegen würde, dass die Schweiz im Interesse ihrer eigenen Sicherheit auf die Neutralität verzichten müsse?
Das Nachdenken über Sicherheit muss im ausgehenden 20. Jahrhundert in Begriffen wie Zusammenarbeit, gemeinsame Sicherheit, Aufbau von Sicherheitsgemeinschaften sowie gemeinsamen Aktionen gegen die Bedrohung der europäischen Sicherheit erfolgen. Mit einer auf ihren völkerrechtlichen Kern konzentrierten Neutralität ist die Schweiz für die nächsten Jahre ausreichend gewappnet, um die notwendige Kooperation mit dem Ausland an die Hand zu nehmen. Nach Massgabe der Verfestigung und Tragfähigkeit der europäischen Sicherheitsstrukturen wird schrittweise diese Neutralität noch mehr an Bedeutung verlieren und schliesslich obsolet werden – oder im ungünstigen Fall von neuen Konflikten in Europa und dem Versagen der europäischen Sicherheitssysteme neues Leben gewinnen. Innenpolitisch kann der wahrscheinlich fortschreitende Bedeutungsverlust der Neutralität nicht durch Neudefinitionen oder Neuumschreibungen begreifbar und akzeptabel gemacht werden, sondern nur durch empirische Erfahrung im Einzelfall (Golfkrieg,22 Jugoslawienkonflikt,23 Mitgliedschaft EWR, EG,24 NATO-Kooperationsrat, WEU-Konsultativrat25).
Wenn das EMD die Auffassung vertritt, dass heute die militärischen Grenzen der autonomen Verteidigungsfähigkeit erreicht seien, so muss es mit dieser Aussage an die Öffentlichkeit treten. Sofern und soweit diese These zutrifft, ist die Beibehaltung der schweizerischen Neutralität gefährlich und illusorisch. Die Sicherheit der Schweiz kann dann nur noch durch Anlehnung oder Integration in die NATO bzw. WEU sichergestellt werden. Für Neutralität, auch für okkasionelle, bleibt dann kein Platz mehr. Den Weg der differentiellen Neutralität halten wir aus rechtlichen, innen- und aussenpolitischen Gründen für nicht gangbar.
- 1
- CH-BAR#E2010A#2001/161#5132* (B.51.10). Diese Stellungnahme wurde von Thomas Borer, stv. Chef der Sektion Völkerrecht des EDA, verfasst. Gemäss dem vom Direktor der Direktion für Völkerrecht, Botschafter Mathias Krafft, unterzeichneten Begleitschreiben wurde die Stellungnahme an die Mitglieder der vom Bundesrat eingesetzten Arbeitsgruppe Neutralität verteilt, vgl. das Faksimilie dodis.ch/61955. Zur Konstituierung und für die Zusammensetzung der von Botschafter Krafft präsidierten Arbeitsgruppe vgl. das BR-Prot. Nr. 1089 vom 9. Juni 1992, dodis.ch/61956. Kopien der Stellungnahme gingen an den Direktor der Politischen Direktion, Staatssekretär Jakob Kellenberger, sowie an den Rechtsberater des EDA, Botschafter Lucius Caflisch, an den stv. Direktor der Direktion für Völkerrecht, Minister Blaise Godet, sowie an die Sektionschefs Jean-Daniel Vigny (Menschenrechte) und Charles-Edouard Held (Völkerrecht).↩
- 2
- Das vom stv. Generalsekretär des EMD, Bernhard Marfurt, verfasste Diskussionspapier vom 23. Juni 1992 wirft die Frage auf, «ob die Schweiz überhaupt noch in der Lage sei, ihre militärische Landesverteidigung auf autonomer Basis sicherzustellen», vgl. dodis.ch/61953. Auch der Chef des Integrationsbüros EDA/EVD, Botschafter Bruno Spinner, verfasste eine Stellungnahme zum Diskussionspapier des EMD, vgl. dodis.ch/61957.↩
- 3
- Anmerkung im Original: Eine erste Gelegenheit hierzu böte die Beantwortung des Postulats der Sicherheitspolitischen Kommission «Frühwarnung und Führung im Bereiche Luftverteidigung» vom 4.3.1992 (vgl. dazu unseren Brief vom 17.7.1992 an das EMD). Das Postulat wurde im Ständerat am 19. März 1992 im Rahmen der Diskussion über das Rüstungsprogramm 1992 und die Beschaffung von Kampfflugzeugen diskutiert und an den Bundesrat überwiesen. Für den Text des Postulats vgl. Amtl. Bull. SR, 1992, II, S. 294. Der Bundesrat erfüllte das Postulat mit der Botschaft über die Beschaffung von Armeematerial (Rüstungsprogramm 1998) vom 1. April 1998, BBl, 1998, III, S. 2837–2955. Für das Schreiben vom 17. Juli 1992 vgl. dodis.ch/64611.↩
- 4
- Anmerkung im Original: Wir bedauern, dass diese grundsätzlichen Fragen im Bericht des Bundesrates über die Konzeption der Armee in den neunziger Jahren (Armeeleitbild 95) vom 27.1.1992 sowie in der Diskussion über die Beschaffung eines neuen Kampfflugzeuges kaum angesprochen wurden. Wir möchten ferner darauf hinweisen, dass seit jeher von Zeit zu Zeit das Argument vorgebracht wurde, die Entwicklung der Waffentechnik übersteige die Möglichkeiten des neutralen Kleinstaates. So wurde z. B. zu Beginn der Sechziger Jahre die Frage, ob die Schweiz die Unverletzlichkeit ihres Luftraumes angesichts der Geschwindigkeit und Flughöhe der modernen Kampfflugzeuge und der Entwicklung der Raketen überhaupt, noch alleine zu gewährleisten vermöge, bereits einmal heftig diskutiert. Für das Armeeleitbild 95 vgl. dodis.ch/60839 sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C2314. Zu den Diskussionen Anfang der 1960er-Jahre vgl. die Notiz von Minister Rudolf Bindschedler, Rechtsberater des EPD, über Neutralität und Verteidigung des Luftraums vom 21. August 1964, dodis.ch/31873.↩
- 5
- Vgl. dazu auch DDS 1992, Dok. 46, dodis.ch/61100, sowie Dok. 62, dodis.ch/61267.↩
- 6
- Schweizerische Sicherheitspolitik im Wandel. Bericht 90 des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Sicherheitspolitik der Schweiz vom 1. Oktober 1990, dodis.ch/56097.↩
- 7
- Bericht der Studiengruppe Neutralität mit dem Titel Schweizerische Neutralität auf dem Prüfstand – Schweizerische Aussenpolitik zwischen Kontinuität und Wandel vom März 1992, dodis.ch/60120. Vgl. dazu auch DDS 1992, Dok. 12, dodis.ch/59120.↩
- 8
- Anmerkung im Original: Heinz Hauser, EWR-Vertrag, EG-Beitritt, Alleingang. Wirtschaftliche Konsequenzen für die Schweiz. Kurzfassung, Bern 1991, S. 11.↩
- 9
- Zur EMD-internen Diskussion über die differentielle Neutralität vgl. die Notiz des Chefs der Abteilung friedenspolitische Massnahmen des Stabs der Gruppe für Generalstabsdienste des EMD, Brigadier Josef Schärli, vom 15. März 1992, dodis.ch/63503.↩
- 10
- Vgl. dazu die Zusammenstellung dodis.ch/C2291.↩
- 11
- Anmerkung im Original: Während sich der gewöhnlich neutrale Staat nur von Fall zu Fall für das Fernbleiben von einem Konflikt entscheidet und dementsprechend in einem späteren Konflikt ohne weiteres ein anderes Verhalten wählen kann, bleibt der dauernd neutrale Staat in jedem kommenden Konflikt neutral, wer auch immer die Kriegsparteien seien, wo und wann auch immer ein Krieg ausbrechen mag.↩
- 12
- Anmerkung im Original: In diesem Sinne u. a. Max Huber, Daniel Thürer, Dietrich Schindler.↩
- 13
- Anmerkung im Original: Vgl. statt vieler Jean Monnier, Les principes et les règles constitutionnelles de la politique étrangère suisse, ZSR 1986, S. 121 ff.↩
- 14
- Für einen Vergleich der allgemeinen Neutralitätsauffassungen der Schweiz und Österreich vgl. dodis.ch/62051.↩
- 15
- «Grundsätzlich werden drei Szenarien unterschieden: Aussereuropäischer Konflikt: Neutralitätsfall; Innereuropäischer Konflikt ohne kontinentale Dimension: Neutralitätsfall [...]; Bedrohung des europäischen Kontinents unter Einschluss der Schweiz: internationale Zusammenarbeit», vgl. dodis.ch/61953.↩
- 16
- Zur Diskussion über neue Definitionskriterien für die Grenzen Europas nach dem Zerfall der UdSSR vgl. die Notiz des Politischen Sekretariats des EDA vom 24. Januar 1992, dodis.ch/61096.↩
- 17
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Jugoslawienkriege (1991–2001), dodis.ch/T1915.↩
- 18
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Iran–Irak-Krieg (1980–1988), dodis.ch/T2053.↩
- 19
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Bergkarabachkonflikt (1988–1994), dodis.ch/T2190.↩
- 20
- Zu den Möglichkeiten der Annäherung der Schweiz an die NATO und die WEU vgl. Punkt 4 des Schreibens des Vorstehers des EMD, Bundesrat Kaspar Villiger, an den Vorsteher des EDA, Bundespräsident René Felber DDS 1992, Dok. 62, dodis.ch/61267.↩
- 21
- Anmerkung im Original: Die bisherigen Stellungnahmen von Herrn Bundesrat Villiger bezüglich der differentiellen Neutralität stiessen auf ein geringes Echo. Man geht aber kaum fehl in der Annahme, dass sich der politische Widerstand erst regte, wenn mit einer Implementation dieses Konzepts begonnen würde. Bundesrat Villiger hatte das Konzept der differentiellen Neutralität bspw. in seiner Ansprache am Seminar der Schweizerischen Offiziersgesellschaft am 21. Februar 1992 in Interlaken vorgestellt, vgl. das Dossier CH-BAR#J1.346#2013/189#250* (24). Für eine weitere Stellungnahme von Bundesrat Villiger zur Neutralität vgl. dessen Rede an der Botschafterkonferenz zum Thema Chancen und Grenzen neutraler Sicherheitspolitik vom 19. August 1992, dodis.ch/55912.↩
- 22
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Golfkrise (1990–1991), dodis.ch/T1673.↩
- 23
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Jugoslawienkriege (1991–2001), dodis.ch/T1915.↩
- 24
- Der EWR-Vertrag selbst enthielt keine Bestimmungen für eine gemeinsame Sicherheitspolitik, vgl. die Botschaft zur Genehmigung des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 18. Mai 1992, dodis.ch/61368. Dagegen stellte sich die Frage einer Neudefinition der Neutralitätspolitik im Hinblick auf einen möglichen EG-Beitritt, vgl. dazu DDS 1992, Dok. 15, dodis.ch/57333, sowie dodis.ch/61080. Vgl. dazu ferner die Anhörung von Diplomaten aus Österreich, Schweden und Finnland in der Sitzung der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats vom 11. Mai 1992, dodis.ch/60863.↩
- 25
- Zur sicherheitspolitischen Annäherung an die NATO und die WEU vgl. DDS 1992, Dok. 62, dodis.ch/61267, sowie dodis.ch/62274.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/63503 | see also | http://dodis.ch/61955 |
http://dodis.ch/61955 | is a statement to | http://dodis.ch/61953 |
Tags
Security policy OSCE / CSCE / Conference on European Security Report on Switzerland's foreign policy in the 1990s (1993)