ohne eine direkte militärische Kooperation einzuleiten.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1992, doc. 62
volume linkBern 2023
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E5808#1996/259#9* | |
Dossier title | Privatkorrespondenz 1991-1995, E - F (1991–1995) | |
File reference archive | 2 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#6029* | |
Dossier title | Atlantikpakt, Band 2 (1992–1993) | |
File reference archive | B.75.18 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#5137* | |
Dossier title | Stellung der Schweiz zur NATO (1991–1993) | |
File reference archive | B.51.10.5 |
dodis.ch/61267Der Vorsteher des EMD, Bundesrat Villiger, an Bundespräsident Felber1
Sicherheitspolitische Annäherung der Schweiz an die NATO und die WEU
Seit einiger Zeit beschäftigt sich eine interdepartementale Arbeitsgruppe unter der Leitung von Herrn Staatssekretär Kellenberger mit der Frage, ob und gegebenenfalls auf welche Weise die Schweiz eine Annäherung an die NATO und die WEU suchen solle.2 Ich habe mir meinerseits dazu eine Reihe von Überlegungen gemacht, die ich Ihnen in der Folge darlegen möchte:
Die vier traditionellen Neutralen, von denen sich einer nicht mehr als neutral bezeichnet,3 sind zur Zeit sicherheitspolitisch nur in der KSZE präsent. Angesichts der beschränkten Problemlösungsfähigkeit dieser Institution ist indessen davon auszugehen, dass für den militärischen Bereich der Sicherheitspolitik (militärische Konfliktprävention, kollektive Sicherheitsmassnahmen, Verteidigungsanstrengungen, usw.) die NATO und eventuell auch die WEU eine wichtigere, möglicherweise sogar ausschlaggebende Rolle bei der Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur spielen werden.
Die Neutralen sind in diesen beiden Organisationen nicht vertreten. Sie riskieren damit, aus wesentlichen Bereichen der sicherheitspolitischen Diskussion in Europa ausgeklammert zu werden.
Unsere Partnerländer Schweden, Finnland und Österreich suchen aus diesem Grund eine Annäherung an die NATO und die WEU.4 Aufgrund informeller Informationen wissen wir, dass Schweden und Finnland im Falle eines EG-Beitritts auch eine NATO-Mitgliedschaft anstreben wollen.5 Für Österreich steht vorderhand aus koalitionspolitischen Gründen die WEU im Vordergrund.6
Die Schweiz will in der europäischen Sicherheitspolitik eine aktive Rolle spielen. Zur Zeit bereiten wir die Schaffung schweizerischer Blauhelme vor.7 Auch die Neutralitätspolitik wird überprüft, damit sie den Anforderungen einer verstärkten Zusammenarbeit im Rahmen einer europäischen Sicherheitsarchitektur besser gerecht wird.8
Nachdem sich unsere bisherigen neutralen Partner zur Annäherung an NATO und WEU entschlossen haben, besteht auch für uns ein sicherheitspolitischer Bedarf, einen solchen Schritt zu vollziehen. Nur so können wir vermeiden, sicherheitspolitisch in die Isolation zu geraten.
Die Schweiz sollte sich in die laufenden internen Diskussionen über die künftige Rollenverteilung zwischen NATO und WEU nicht einmischen. Deshalb sollte die Annäherung an beide Organisationen parallel und gleichzeitig erfolgen.
Die schweizerische Landesverteidigung ist heute bis auf die Rüstungsbeschaffung und einen gewissen Nachrichtenaustausch autonom. Mittelfristig stellt sich allerdings die Frage, ob nicht auch auf andern Gebieten eine Zusammenarbeit mit fremden Staaten gesucht werden muss. Die Bekämpfung moderner Abstandswaffen und Trägersysteme könnte schon bald einmal die technischen und finanziellen Möglichkeiten eines Kleinstaates übersteigen.9
Auch einem Neutralen muss gestattet sein, die nötigen Vorkehren zu treffen, um seine Sicherheit zu garantieren.10 Es ist zu früh, über die Natur solcher Vorkehren zu spekulieren, doch sollte rechtzeitig daran gedacht werden, das politische Terrain für einen solchen Schritt vorzubereiten.
Eine Annäherung an die NATO und die WEU heute hat nicht zum Ziel, eine direkte militärische Zusammenarbeit einzuleiten. Vorerst ginge es um die Intensivierung des Dialogs und des Informationsaustausches.11 Mittelfristig könnte sich allerdings auch eine verteidigungspolitische Notwendigkeit zur Intensivierung der Zusammenarbeit ergeben, beispielsweise zur Bekämpfung des Nuklearterrors oder anderer neuer Bedrohungen.
Der Ausgang der EWR-Abstimmung ändert nichts daran, dass die Schweiz ihre sicherheitspolitischen Interessen auf europäischer Ebene wahren muss. Das Nein zum EWR darf nicht dazu führen, dass wir auf einen notwendig gewordenen intensivierten Dialog verzichten.12
Das EWR-Nein kann als Nein gegenüber politischen Bindungen an Europa interpretiert werden. Deshalb kann es jetzt nicht darum gehen, einen politischen Anschluss an die WEU oder gar an die NATO zu suchen. Weil sich unser Anliegen aber darauf beschränkt, bestehende informelle Beziehungen auf eine etwas formellere Ebene zu heben, indem ein institutionalisierter Meinungsaustausch geschaffen werden soll, sehen wir im EWR-Nein kein Hindernis für eine Annäherung an die beiden genannten Organisationen.13
Ein informelles Gespräch mit dem Generalsekretär der WEU hat die Möglichkeit aufgezeigt, zwischen den bisherigen Neutralen und der WEU besondere Beziehungen im Sinne eines Gäste-Status zu schaffen.14 Dieser Gäste-Status würde sich unterscheiden vom Status einer assoziierten Mitgliedschaft, welcher den NATO-Mitgliedern vorbehalten ist, die nicht der EG angehören, und von einem Beobachterstatus, der für die EG-Mitgliedstaaten vorgesehen ist, die nicht zur NATO gehören.
Was die NATO betrifft, haben informelle Gespräche mit dem NATO-Generalsekretariat ergeben, dass weder der Beobachterstatus noch die Akkreditierung eines Schweizer Vertreters bei der NATO selbst möglich sind.15 Hingegen könnte ein Beobachterstatus beim NACC ins Auge gefasst werden, wie er bereits für Finnland geschaffen wurde.16 Der praktische Nutzen einer solchen Regelung ist allerdings als eher gering zu veranschlagen. Unseren heutigen Bedürfnissen entspräche eher eine andere Option: die Designierung eines schweizerischen NATO-Verbindungsmanns, welche dem NATO-Sekretariat formell mitgeteilt und von diesem förmlich bestätigt würde. Schliesslich ist auch an eine Zusammenarbeit im Rahmen eines KSZE-Peacekeeping zu denken.17
Eine Konkretisierung der hier skizzierten Möglichkeiten würde auf jeden Fall weitere Sondierungen bei beiden Organisationen erfordern.
Aufgrund der heiklen politischen Aspekte der hier gemachten Überlegungen schiene es mir wünschenswert, mit Ihnen einmal ein vertieftes persönliches Gespräch über die Problematik einer Annäherung an die NATO und die WEU zu führen.18 Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich Ihre Meinung zu diesem Vorschlag wissen liessen.
- 1
- CH-BAR#E2010A#2001/161#5137* (B.51.10.5). Dieses vom Vorsteher des EMD, Bundesrat Kaspar Villiger, unterzeichnete Schreiben richtet sich an den Vorsteher des EDA, Bundespräsident René Felber. Der EDA-Generalsekretär, Botschafter Rudolf Schaller, leitete es mit folgendem Vermerk an Margrith Hanselmann, persönliche Mitarbeiterin des Bundespräsidenten Felber, weiter: Mit BRF [Bundesrat Felber] aufnehmen nach Rückkehr bezüglich Beantwortung. Ab 24. Dezember 1992 weilte Bundespräsident Felber in der Weihnachtspause, vgl. seine persönliche Agenda im Dossier CH-BAR#E2850.2#2000/32#6* (5). Das angesprochene Antwortschreiben datiert vom 13. Januar 1993, vgl. dodis.ch/62779. Die hier edierte Kopie stammt aus dem Bestand der Politischen Direktion des EDA. Sie wurde am 29. Dezember 1992 von der persönlichen Sekretärin von Bundespräsident Felber, Marie-Antoinette Chollet, an den Direktor der Politischen Direktion des EDA, Staatssekretär Jakob Kellenberger, weitergeleitet und von diesem visiert.↩
- 2
- Zur Konstituierung der Arbeitsgruppe Sicherheitsstrukturen vgl. das Schreiben von Staatssekretär Kellenberger an Bundespräsident Felber und Bundesrat Villiger vom 16. Juli 1992, dodis.ch/62036, sowie zur Arbeitsgruppe selbst die Zusammenstellung dodis.ch/C2300.↩
- 3
- Zum veränderten Neutralitätsverständnis Schwedens vgl. die beiden Notizen des Chefs der Politischen Abteilung I des EDA, Botschafter Jenö Staehelin, an Bundespräsident Felber vom 27. Januar 1992, dodis.ch/62376, respektive vom 14. Oktober 1992, dodis.ch/61101. Zu den unterschiedlichen Neutralitätsauffassungen der vier Neutralen vgl. auch das Protokoll der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats zur Sitzung vom 11. und 12. Mai 1992, an welcher der finnische Missionschef bei der UNO in Genf, Botschafter Antti Antero Hynninen, der österreichische Botschafter in Bern, Franz Parak, sowie der schwedische Botschafter in Bern, Hans Viktor Ewerlöf, angehört wurden, dodis.ch/60863.↩
- 4
- Vgl. dazu das Schreiben von Botschafterin Marianne von Grünigen, Chefin der schweizerischen Delegation beim KSZE-Folgetreffen in Helsinki, vom 22. Juni 1992 im Anhang von dodis.ch/62274.↩
- 5
- Vgl. DDS 1992, Dok. 46, dodis.ch/61100, Punkt 4, sowie den Bericht der vom EMD organisierten Ausbildungsreise für sicherheitspolitische Experten in die USA im November 1992, dodis.ch/61279, S. 1.↩
- 6
- Vgl. dazu DDS 1992, Dok. 52, dodis.ch/61315, sowie die Ergebnisse der Sitzung der Arbeitsgruppe Sicherheitsstrukturen vom 30. September 1992, dodis.ch/61954.↩
- 7
- Vgl. dazu das BR-Prot. Nr. 1460 vom 24. August 1992, dodis.ch/60971 sowie die gleichentags publizierte Botschaft betreffend das Bundesgesetz über schweizerische Truppen für friedenserhaltende Operationen, dodis.ch/54910.↩
- 8
- Vgl. DDS 1992, Dok. 12, dodis.ch/59120, sowie Dok. 34, dodis.ch/61955. Vgl. dazu ferner den Bericht der Studiengruppe Neutralität des EDA vom März 1992, dodis.ch/60120, sowie die thematische Zusammenstellung Bericht über die Aussenpolitik der Schweiz in den 1990er Jahren, dodis.ch/T1981.↩
- 9
- Vgl. dazu das Diskussionspapier des EMD über autonome Verteidigungsfähigkeit und Neutralität vom 23. Juni 1992, dodis.ch/61953, sowie die Stellungnahme der Direktion für Völkerrecht vom 11. August 1992 dazu, DDS 1992, Dok. 34, dodis.ch/61955.↩
- 10
- Vgl. dazu das mit Chancen und Grenzen neutraler Sicherheitspolitik betitelte Referat von Bundesrat Villiger an der Botschafterkonferenz vom 19. August 1992, dodis.ch/55912.↩
- 11
- Zu den Möglichkeiten der Annäherung vgl. dodis.ch/62274.↩
- 12
- Vgl. DDS 1992, Dok. 58, dodis.ch/60622, sowie die thematische Zusammenstellung Abstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), dodis.ch/T2163.↩
- 13
- Handschriftliche Marginalie von Staatssekretär Kellenberger: wie diesen – inst. Austausch sicherstellen? – Briefwechsel – auch ein inst. Mei[nungs]austausch hat eine polit. Dim.↩
- 14
- Für das Gespräch im Rahmen eines Ausbildungsprogramms zwischen angehenden sicherheitspolitischen Experten des EMD (SIPOLEX) mit dem Generalsekretär der WEU, Willem van Eekelen, am 7. Mai 1992 in London vgl. dodis.ch/61435.↩
- 15
- Für das Gespräch im NATO-Hauptquartier in Brüssel vom 5. Mai 1992 im Rahmen der SIPOLEX-Reise vgl. dodis.ch/61435.↩
- 16
- Vgl. dazu dodis.ch/62274, Abschnitt 2. a).↩
- 17
- Zur Rolle der KSZE in der europäischen Sicherheitsordnung und der Bewertung aus schweizerischer Sicht vgl. dodis.ch/62576.↩
- 18
- Für das weiterführende Gespräch zwischen den Bundesräten Villiger und Felber vom 25. Januar 1993 vgl. dodis.ch/62530.↩
Tags
Security policy Neutrality policy