Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 23, doc. 141
volume linkZürich/Locarno/Genève 2011
more… |▼▶Repository
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2807#1974/12#133* | |
Old classification | CH-BAR E 2807(-)1974/12 9 | |
Dossier title | Chefbeamten-Besprechungen (1966–1967) | |
File reference archive | 023.1-05 |
dodis.ch/31820
Protokoll der Chefbeamtenbesprechung des Politischen Departements vom 19. April 19661
[…]2
1. Menschenrechtskonvention
Der Departementschef3 hat von der Abteilung für Internationale Organisation eine Dokumentation erhalten, deren Kernstück die Abhandlung von Herrn Minister Bindschedler vom 7. Januar 19614 bildet, die, wie er orientiert wurde, auch heute noch volle Gültigkeit hat. Als neues Element ist inzwischen unsere Mitgliedschaft beim Europarat5 dazugekommen, womit ein wesentlicher psychologischer Hinderungsgrund für einen Beitritt zur Menschenrechtskonvention dahingefallen ist. Wenn es zutrifft, dass alle andern Mitgliedstaaten den Beitritt der Schweiz zu dieser Konvention begrüssen, sollten wir in dieser Richtung gehen6. Dabei werden wir vor allem danach trachten müssen, intern kein Risiko auf uns zu nehmen, und unsere Vorbereitungen sollen besonders auf diesen Punkt ausgerichtet werden. Der Departementschef beabsichtigt, zunächst mit Parlamentariern und vor allem mit den Kommissionen für Auswärtiges der beiden Räte diesbezüglich Fühlung zu nehmen. Die für uns bestehenden rechtlichen Schwierigkeiten sind bekannt. Zum Fehlen des Frauen stimm- und Wahlrechtes7 kann allerdings auf die in einzelnen Kantonen zu verzeichnenden Fortschritte verwiesen werden. Schwieriger verhält es sich mit den konfessionellen Ausnahmeartikeln, für die eine Lösung noch in weiter Ferne liegt8. Die Lage hat sich auf diesem Gebiet heute aus verschiedenen Gründen eher etwas verschlechtert; zunächst wird das kantonale Vernehmlassungsverfahren, gestützt auf den Bericht Kägi9, eingeleitet und durchgeführt werden müssen. Herr Spühler ist der Auffassung, dass wir einen Weg zum Beitritt suchen müssen – unter Konsultierung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes – und ersucht die Anwesenden, sich zu dieser von ihm vertretenen Tendenz zu äussern.
Herr Bindschedlersieht keine besonderen Gründe gegen einen Beitritt, aber auch keine dafür; persönlich ist er eher negativ. In Europa ist eine solche Konvention unnötig und überflüssig und bedeutet nur einen weitgehenden Leerlauf. Für die Schweiz ergäbe sich eine nicht unbeachtliche Neuerung im Falle der Annahme des individuellen Beschwerderechtes, das einem Schweizerbürger ermöglichen würde, sich über das Vorgehen schweizerischer Behörden vor einer internationalen Instanz zu beschweren. Auch auf dem Gebiete des Strafrechts müsste mit dem Weiterzug einer Reihe von Strafprozessen gerechnet werden. Besondere Beachtung verdient aber vor allem die Entwicklung der Jura-Frage10. Es ist zu befürchten, dass sich Frankreich in Strassburg in dieses Problem einmischen wird, sofern dort eine Individualbeschwerde von Seiten der Separatisten anhängig gemacht würde. Diese Möglichkeit spricht gegen unseren Beitritt. Heute könnte ein solcher nur unter Abgabe von Vorbehalten hinsichtlich der erwähnten Besonderheiten des schweizerischen Rechts er folgen. Herr Bindschedler empfiehlt Zuwarten bis diese Schwierigkeiten behoben sind, um dann den Beitritt vorbehaltlos vornehmen zu können.
Herr Spühlererkundigt sich, weshalb Frankreich der Konvention nicht beigetreten ist.
Herr Bindschedler: Der ursprüngliche Grund für das Fernbleiben Frankreichs lag im Algerienkrieg11. Heute ist diese Haltung weitgehend auf die nationalistische Politik de Gaulles zurückzuführen.
Herr Spühler: In der kommenden Session werden wir uns zu der Motion Eggenberger12 äussern müssen. Der Departementschef ist gewillt, sie eventuell unter Umwandlung in ein Postulat – womit der Vorteil verbunden wäre, dass sich nicht auch noch der Ständerat damit befassen muss – entgegenzunehmen. In unserer darauffolgenden Berichterstattung13 soll eine positive Tendenz zum Ausdruck gebracht werden.
Herr Diezteilt grundsätzlich die von Herrn Bindschedler vertretene Auffassung. Aus persönlichen Kontakten in Strassburg, insbesondere mit Herrn Modinos14, geht hervor, dass dort ein Beitritt der Schweiz gewünscht und die Parallelität mit Frankreich als peinlich empfunden wird. Es geht dabei weniger um rechtliche, als um psychologische Aspekte15. Wir könnten mit dem grossen Verständnis des Europarates für unsere Vorbehalte rechnen. Herr Bundesrat Wahlen liess sich in seiner Haltung zu dieser Frage von der Überlegung leiten, dass es falsch wäre, den Anschein zu erwecken, als wollten die Bundesbehörden auf dem Umweg über den Beitritt zur Menschenrechtskonvention den schweizerischen Stimmbürger in Bezug auf Frauenstimmrecht und Ausnahmeartikel beeinflussen.
Herr Thalmannist mit dieser Frage weniger vertraut, möchte aber noch ein neues Element in die Diskussion bringen. Die 20. Generalversammlung der UNO hat beschlossen, im Jahre 1968 eine internationale Konferenz über Menschenrechte durchzuführen. Obschon darüber noch nicht völlige Klarheit besteht, ist anzunehmen, dass auch die Schweiz zur Teilnahme eingeladen wird. Es wäre somit wünschenswert, dass wir bis zu diesem Zeitpunkt zu einer Regelung kommen, ansonsten wir riskieren, im Rahmen der erwähnten Veranstaltung Angriffen ausgesetzt zu werden.
Herr Spühlermacht darauf aufmerksam, dass die Abschaffung der Ausnahmeartikel Zeit braucht und auf jeden Fall bis 1968 nicht zu erwarten ist.
Herr Probst: Der Jura-Angelegenheit ist ganz besondere Beachtung zu schenken. Dieser Teilaspekt der Frage unseres Beitritts muss gründlich geprüft und auch in den vorgesehenen internen Sondierungen berücksichtigt werden. Die diesbezügliche Haltung Frankreichs bezeichnet Herr Probst als neutral.
Herr Diez: Angesichts der Menschenrechtserklärung der UNO spielt auch die Stellung der Schweiz zu den Vereinten Nationen in diesem Rahmen eine Rolle16 und muss in unsere Überlegungen miteinbezogen werden. Es wäre dabei zu erwägen, ob nicht zunächst der Beitritt zu der relativ harmlosen europäischen Menschenrechtskonvention erfolgen sollte17.
Herr Micheli: Alles hängt von innenpolitischen Überlegungen ab. Bis dahin war es unsere Tendenz abzuwarten. Wir können aber schwerlich auf die Dauer in dieser Position verharren. Hinsichtlich der Jura-Frage ist Herr Micheli überzeugt, dass Leute wie Béguelin und Schaffter die Angelegenheit in Strassburg vorbringen würden. Das wird aber vermutlich auch noch in zwei oder drei Jahren der Fall sein. Dem gegenüber darf angenommen werden, dass sich Frankreich offiziell niemals einmischen und sich davor hüten wird, die Separatisten offen zu unterstützen. Unsere innenpolitischen Sondierungen hätten sich auf zwei Punkte zu konzentrieren: Auf die Frage, ob ein Beitritt mit Vorbehalt von der schweizerischen Öffentlichkeit als ein von aussen kommender Druck zur Bereinigung unserer Rechtsordnung empfunden würde, sowie auf die Jura-Angelegenheit.
Herr Hartmann: Die massgebenden Persönlichkeiten in Strassburg wünschen natürlich unseren Beitritt, aber wir finden bei ihnen auch Verständnis für die Gründe unserer bisherigen Zurückhaltung. Es stellt sich die Frage, ob im Falle eines Beitritts unter Vorbehalten die bestehenden Hindernisse nicht besondere Beachtung erhielten und öffentlich zu unseren Ungunsten ausgeschlachtet werden können. Unter diesem Gesichtspunkt würde es sich vielleicht empfehlen, im Interesse unseres Prestiges zunächst die Ausmerzung der bekannten Schönheitsfehler vorzunehmen und mit einem Beitritt bis dahin zuzuwarten.
Herr Spühlerhat volles Verständnis für die geäusserten Bedenken. Wir müssen aber davon ausgehen, dass die Situation in vier bis fünf Jahren nicht wesentlich anders sein wird als heute, abgesehen vom Klima in einzelnen Fragen (Jura und Frauenstimmrechte in weitern Kantonen). Wir sind deshalb jetzt schon durchaus in der Lage, endgültig zu urteilen, und wir müssen die Berichterstattung in Angriff nehmen. Der Departementschef wird die Motion in der nächsten Session positiv beantworten18 in dem Sinne, dass ein Beitritt ins Auge gefasst wird, sobald es die äussern Umstände erlauben.
[…]19
- 1
- Protokoll: E 2807(-) 1974/12 Bd. 9 (023.1-05). Verfasst von B. Dumont und gerichtet an die Teilnehmer F. Bieri, R. Bindschedler, E. Diez, M. Grässli, R. Hartmann, A. Janner (abwesend), A. R. Lindt, P. Micheli, R. Pestalozzi, R. Probst, W. Spühler und E. Thalmann.↩
- 2
- Liste der Traktanden: 1) Menschenrechtskonvention, 2) Botschafterkonferenz (Thema), 3) Beförderung Missionsschefs II zu Missionsschefs I. Für das vollständige Dokument vgl. dodis.ch/31820.↩
- 3
- W. Spühler.↩
- 4
- Schreiben von R. BindschedlerDie Schweiz und die europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 7. Januar 1961, E 2003(A) 1978/29 Bd. 50 (o.121.314.11).↩
- 5
- Vgl. DDS, Bd. 22, Dok. 120, dodis.ch/30487, sowie das Abkommen Procès-verbal de dépôt, de la part de la Confédération suisse, de l’instrument d’adhésion au Statut du Conseil de l’Europe vom 6. Mai 1963, K I(-) 2415. Vgl. auch die Notiz Conseil de l’Europe vom Februar 1965, dodis.ch/32085.↩
- 6
- Vgl. dazu die Rede von W. Spühler vom 16. Dezember 1966 vor dem Ministerkomitee des Europarats, dodis.ch/31856.↩
- 7
- Zum Frauenstimmrecht in der Schweiz vgl. DDS, Bd. 23, Dok. 141, dodis.ch/31459.↩
- 8
- Zur Vereinbarkeit des fehlenden Frauenstimmrechts und der Ausnahmeartikel in der Bundesverfassung mit der Mitgliedschaft im Europarat vgl. das Protokoll des Nationalrats vom 15. November 1962, dodis.ch/30453 und das Protokoll zum Interview Europatag im Fernsehen vom 5. Mai 1966, dodis.ch/31607.↩
- 9
- F. T. Wahlen betraute 1959 Prof. W. Kägi mit der Ausarbeitung der Botschaft, vgl. die Eröffnungsansprache von F. T. Wahlen anlässlich der Botschafterkonferenz 1964 vom 3. September 1964, dodis.ch/30806, S. 3. Zum Zwischenstand des Berichtes von W. Kägi vgl. das BR-Verhandlungsprot. der 81. Sitzung vom 19. November 1965, dodis.ch/32005, S. 3 f. Zum Gutachten von W. Kägi über das Problem der Revision des Klosterartikels und des Jesuiten- artikels vgl. Doss. E 4110(B) 1990/72 Bd. 12 (G.018) und den Bericht Verfassungspolitische Folgerungen: Die Neuordnung anstelle der bisherigen Art. 51 und 52 BV von W. Kägi vom 25. Januar 1965, E 4110(B) 1990/72 Bd. 13 (G.018).↩
- 10
- Vgl. das BR-Verhandlungsprot. vom 17. März 1964, dodis.ch/31968, S. 5–9; das BR-Verhandlungsprot. vom 1. September 1964, dodis.ch/31981, S. 1–3; die Eröffnungsansprache von F. T. Wahlen vom 3. September 1964, dodis.ch/30806, S. 6–10; das Protokoll der Sitzung der Arbeitsgruppe «Historische Standortbestimmung» zur Jura-Frage vom 20. November 1965, E 2806(-) 1971/57 Bd. 3 (09).↩
- 11
- Zum Abschluss der französisch-algerischen Verhandlungen vgl. DDS, Bd. 22, Dok. 55, dodis.ch/10391.↩
- 12
- Zur Motion von M. Eggenberger vom 14. Dezember 1965 vgl. das Schreiben von Ch. Oser an H.-P. Tschudi vom 14. Dezember 1965, Doss. wie Anm. 4.↩
- 13
- Zur Antwort von W. Spühler auf die Motion von M. Eggenberger vom 22. Juni 1966 vgl. Sten. Bull. NR, 1966, S. 406–410. Vgl. dazu auch den Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BBl, 1968, II, S. 1057–1180.↩
- 14
- Vgl. dazu die Notiz betreffend den allfälligen Beitritt der Schweiz zur Menschenrechtskonvention – Besprechung vom 7. Juli 1964 in Strassburg mit Herrn Modinos, Stellvertretender Generalsekretär des Europarates, von E. Diez an P. Micheli vom 15. Juli 1964, Doss. wie Anm. 4.↩
- 15
- Vgl. dazu die Notiz von R. Bär an E. Diez vom 29. Oktober 1965, Doss. wie Anm. 4: Mir scheint, dass obwohl politisch das Beiseitestehen der Schweiz wohl immer auf weniger Verständnis stossen wird – und die bisherigen schweizerischen Gründe für den Nichtbeitritt nicht sehr überzeugend sind – man immerhin[…]zu bedenken hat, dass der Beitritt an gesichts der bisherigen Erfahrungen mit der Konvention in der Schweiz[…]zu bedeutenden Änderungen Anlass geben könnte.↩
- 16
- Zu den Beziehungen der Schweiz zur UNO vgl. DDS, Bd. 23, Dok. 40, dodis.ch/31553.↩
- 17
- Zum Verhältnis der UNO zum Europarat vgl. die Notiz von R. Bindschedler an W. Spühler vom 6. Dezember 1966, dodis.ch/31611.↩
- 18
- Vgl. Anm. 13.↩
- 19
- Für das vollständige Dokument vgl. dodis.ch/31820.↩
Tags
Political Department / Department for Foreign Affairs
Conference of the Ambassadors Council of Europe Regional Conference of Ambassadors Meetings of the senior officials of the FPD Diplomacy of official visits