Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1992, doc. 38
volume linkBern 2023
more… |▼▶Repository
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2024B#2002/7#2344* | |
Dossier title | Auslandschweizertagung (1991–1993) | |
File reference archive | a.814.4 |
dodis.ch/60910Referat des Chefs des Integrationsbüros EDA/EVD, Botschafter Spinner, am Auslandschweizer-Kongress in St. Gallen vom 21. August 19921
Aktuelle integrationspolitische Standortbestimmung
Sie treffen sich dieses Jahr zu einer Zeit, zu der in der Schweiz hohe politische Wogen zwei der wohl wichtigsten Volksabstimmungen unserer Geschichte ankünden:
Am 27. September 1992 findet die NEAT-Abstimmung statt, fällt also der Entscheid darüber, ob wir mit dem Bau von zwei neuen Eisenbahntunnels am Gotthard und am Lötschberg den schweizerischen Lebens- und Erholungsraum vor der wachsenden Gütertransitlawine schützen können, ohne dass wir damit unsere jahrhundertalte europäische Verantwortung für einen vernünftigen und reibungslosen Verkehrsfluss durch die Alpenbarriere missachten würden.2
Einige Monate später, voraussichtlich am 6. Dezember 1992 werden Volk und Stände darüber abstimmen, ob wir das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum abschliessen wollen.3
Beide Abstimmungen betreffen nicht nur uns Schweizer, sondern alle Europäer. Wir tragen an diesen Abstimmungssonntagen nicht nur schweizerische, sondern gesamteuropäische Verantwortung. Für beide Abstimmungen empfiehlt der Bundesrat Zustimmung.4
Ich möchte Ihnen erklären, um was es bei der EWR-Abstimmung gehen wird, und wie Sie davon als Schweizer Bürger und als Schweizer Bürgerinnen mit Wohnsitz im Ausland direkt betroffen sind.
Erlauben Sie mir zwei Vorbemerkungen:
Seit wenigen Wochen haben Sie die Möglichkeit, alle politischen Rechte eines Schweizer Bürgers per Brief, von Ihrem Wohnsitz im Ausland her auszuüben.5 Ich gratuliere Ihnen, aber auch der Schweiz zu der damit einhergehenden Stärkung der direkten Demokratie. Es ist uns Inlandschweizern klar, dass die rund 380 000 stimmberechtigten Auslandschweizer ein gewichtiges Wort mitzureden haben, wenn es um das Geschick dieses Landes geht. Wir wissen, dass Reichtum und Wohlstand der Schweiz auch auf einem wesentlichen Beitrag der Auslandschweizer beruhen. Tausende von Ihnen, in Europa oder in Amerika, in Asien, Afrika und Australien haben mit Intelligenz und mit Ausdauer, unter oft schwierigen Bedingungen, zugunsten schweizerischer Wirtschaftsinteressen gewirkt. Aber nicht nur der Wohlstand, sondern auch unser Ruf, unser Image, haben Sie weltweit gepflegt. Für diese Leistungen und für Ihre Treue zur Heimat sind wir Ihnen dankbar. Ohne die fünfte Schweiz wäre die Schweiz nicht was sie ist. Anderseits möchte ich Sie bitten, Mitverantwortung zu übernehmen, wenn es nun darum geht, zu bestimmen, welchen Weg die Schweiz in Europa nehmen soll. Die rund 280 000 Auslandschweizer und Auslandschweizerinnen die heute in EG-Staaten wohnen und arbeiten wissen aus eigener Erfahrung, und nicht nur vom Hörensagen, wie viele unserer Inlandschweizer, was es bedeutet, mit kleineren oder grösseren Benachteiligungen im Verhältnis zu EG-Bürgern zu leben, zum Beispiel in den Bereichen Aufenthalt und Niederlassung, Arbeitsbewilligungen, Sozialversicherung, Zulassung zu Schulen und Universitäten, Anerkennung von Studienausweisen und Berufsdiplomen, Immobilien und Grundstückserwerb oder Steuern und Gebühren. Es ist für uns nützlich, Ihre Erfahrungen zu kennen. Und es ist für die Zukunft der Schweiz von grosser Bedeutung, dass Sie an den kommenden Abstimmungsterminen Ihr erhebliches Stimmgewicht in die Waagschale werfen.6
Eine zweite Vorbemerkung: Das Thema Europa steht heute in der Schweiz im Vordergrund. Die Auslandschweizerorganisation und ihr Sekretariat haben denn auch dieses Thema ins Zentrum des diesjährigen Auslandschweizer-Kongresses gestellt. Ich möchte aber den aussereuropäischen Auslandschweizern sagen, dass sie nicht unter das europapolitische Eis geraten werden. Der Auslandschweizerdienst des Eidg. Departementes für auswärtige Angelegenheiten ist sich bewusst, dass die Beziehungen zu fernen Auslandschweizerkolonien besonderer und zusätzlicher Anstrengungen bedürfen. Für ihre Anliegen haben wir ein offenes Ohr.
Zurück nach Europa, zurück in die Schweiz: Um was geht es bei der kommenden EWR-Abstimmung?
Oder vorerst: Um was geht es nicht? Es geht nicht um den Beitritt der Schweiz zur EG. Ein Ja zum EWR-Abkommen am 6. Dezember 1992 heisst noch keineswegs, dass in einigen Jahren, wenn frühestens eine Abstimmung über den EG-Beitritt stattfindet, Volk und Stände ebenfalls ja sagen. Mit seinem Entscheid, an den nächsten Erweiterungsverhandlungen der EG teilzunehmen, hat der Bundesrat in kluger Voraussicht noch rechtzeitig sichergestellt, dass die Schweiz dort mitreden kann, wo Entscheide fallen, die sie so oder so betreffen. Ob und wann das derzeitige Integrationsziel des Bundesrates erreicht wird, hängt vom Verlauf der noch nicht begonnenen Beitrittsverhandlungen, vor allem aber vom Schweizer Volk ab, das in einigen Jahren, in Kenntnis der Vor- und Nachteile eines Beitritts, entscheiden wird.7
Vom EG-Beitritt unterscheidet sich das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum wie folgt: Die vom EWR nicht betroffenen Bereiche sind die Landwirtschaftspolitik, die Aussenwirtschaftspolitik, der gesamte Steuerbereich sowie die im Vertrag über die europäische Union (Vertrag von Maastricht) enthaltenen Entwicklungsbereiche der EG, nämlich hin zu einer Wirtschafts- und Währungsunion (gemeinsame Währung) und hin zu einer politischen Union (Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik). Mit dem EWR-Abkommen werden, im Unterschied zu einem EG-Beitritt, keine schweizerischen Gesetzgebungsrechte an übergeordnete Instanzen delegiert, und schliesslich ist das EWR-Abkommen kündbar, während der Austritt aus der EG zwar nicht unmöglich, aber in den Gründungsverträgen nicht vorgesehen ist.
Das EWR-Abkommen, das am 2. Mai dieses Jahres von den 19 EWR-Staaten und der EG in Portugal unterzeichnet wurde, ist ein Vertrag mit 129 Artikeln und zahlreichen Protokollen und Beilagen.8 Es ist ein Vertrag, mit welchem die Vertragsparteien den Staatsbürgern der andern Vertragsparteien das Recht einräumen, unter den genau gleichen Bedingungen wie die Inländer Handel mit Waren und Dienstleistungen zu betreiben, zu investieren, sich niederzulassen und an Forschungsprojekten teilzunehmen. Die wirtschaftlichen und sozialen Freiheiten, die die EG-Staaten seit 35 Jahren nach und nach vereinbarten, werden mit dem EWR-Abkommen auch uns zur Verfügung gestellt.
Im Unterschied zum bisherigen Freihandelsregime umfasst das EWR-Abkommen auch den wichtigen Dienstleistungssektor, und beim Warenverkehr wird neu auch die Kommerzialisierung, nicht nur der Grenzübertritt, frei. Diese für die Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft notwendigen Verbesserungen können auf keinem andern Weg, weder durch autonome Massnahmen noch durch sektorspezifische Einzelverträge realisiert werden. Für Einzelverträge ist die EG nicht mehr zu haben und der Alleingang bedeutete wirtschaftliche Eigendiskriminierung. Wir können in der Schweiz noch soviel Verjüngungs- und Fitnessprogramme dürchführen, uns noch so stark öffnen und liberalisieren: wenn wir das im Alleingang tun, könnten zwar wir und unsere Nachbarn davon profitieren, die Unternehmen in der Schweiz jedoch – schweizerische oder ausländische – könnten nicht damit rechnen, von entsprechenden Freiheiten bei unsern Nachbarn zu profitieren. Unser Binnenmarkt wäre die Schweiz, der Binnenmarkt unserer Konkurrenten wäre Europa, inklusive der Schweiz.
Das den EWR-Freiheiten zugrundeliegende Recht ist das EG-Recht und wird für uns, via das Abkommen, zum EWR-Recht. Bei der Weiterentwicklung dieses Rechts können wir, auf Expertenebene und parallel zum ganzen EG-Entscheidungsprozess Einfluss nehmen. Wir können letztlich auch entscheiden, ob wir neues EG-Recht übernehmen wollen, wobei wir allerdings riskieren, dass ein negativer Entscheid unseren wirtschaftlichen Interessen schadet. Das EWR-Abkommen ist ein Assoziierungsvertrag. Die assoziierende EG hat sich vorbehalten, wie bisher alleine die erste Geige zu spielen, und die assoziierten EFTA-Staaten müssen sich darauf beschränken, Begleitmusik zu spielen. Aber auch dieser formelle, weniger befriedigende Teil des Vertrages, der bei einer Gesamtbeurteilung in Rechnung zu stellen ist, ist nicht so schlecht, dass er die wirtschaftlichen Vorteile des Abkommens auch nur annähernd aufwiegen könnte. Immerhin gibt es im EWR-Abkommen keine fremden Richter und wir können, wenn wir bereit sind eine Minderung wirtschaftlicher Freiheiten in Kauf zu nehmen, Änderungen des Abkommens verhindern.
Was wird entscheidend sein für den Ausgang der Abstimmung über das EWR-Abkommen? Vorerst ist wichtig, dass Informationen über den Vertrag vollständig, ehrlich und verständlich vermittelt und aufgenommen werden. Jeder Stimmbürger und jede Stimmbürgerin, ob Inlandschweizer oder Auslandschweizerin hat das Recht zu wissen, was das Abkommen für ihn oder sie konkret bedeutet, was sich im Alltagsleben verändert oder verändern kann. Jede Frage verdient eine Antwort, und unter diesem Motto hat das Integrationsbüro eine sehr umfassende Dokumentation, die die Informationsvermittlung erleichtern soll, erstellt.9 Im Informationsstand des Integrationsbüros, zu dessen Besuch ich Sie hier in St. Gallen ganz herzlich einlade, finden Sie solche Dokumentationen und Bestellformulare. Seit einigen Tagen funktioniert auch von Bern aus ein Gratis-Informationstelefon mit der Nummer 155-32 32. 15 speziell ausgebildete Studenten beantworten, jeden Werktag zwischen 12.00–20.00 Uhr, einfachere Fragen direkt; komplexere Fragen werden zur Beantwortung an die Spezialisten der Bundesverwaltung weitergeleitet.10
Speziell für die 60% aller Auslandschweizer, die heute im EWR leben, bringt das Abkommen namhafte Veränderungen:
– Jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ist nach Artikel 4 des Abkommens verboten.11 Das bedeutet für Sie Auslandschweizer zum Beispiel keine Benachteiligung mehr beim Zugang zu Studienplätzen, kein Hintanstehen mehr bei der Stellensuche, keine Hindernisse mehr bei der Niederlassung für Nichterwerbstätige, die einer Krankenversicherung angehören und über genügend eigene Mittel für ihren Lebensunterhalt verfügen, kein Verlust mehr von Sozialversicherungsansprüchen bei einem Wohnsitzwechsel innerhalb des EWR. Im EWR erhalten Sie einen von den lokalen Gerichten zu schützenden Anspruch, nicht schlechter behandelt zu werden, als die Staatsangehörigen Ihres Aufenthaltsstaates. Mit anderen Worten, sie werden in Ihren Wohnsitzstaaten nicht mehr wie Auslandschweizer, sondern wie EG-Europäer behandelt.12
Die Schlagbäume an den Grenzen verschwinden mit dem EWR-Abkommen nicht. Das ist ab Januar 1993 nur zwischen EG-Staaten möglich, weil dort auch die Aussenzölle einheitlich sind (Zollunion), weil dort auch die Landwirtschaftsprodukte frei zirkulieren können, und weil dort auch bei der Warenbesteuerung die unerlässlichen Angleichungen stattfinden. Im EWR-Abkommen hat man sich aber geeinigt, Erleichterungen bei der Warenabfertigung vorzunehmen und für die Grenzkontrolle von Personen auf die Beseitigung von Schikanen und Benachteiligungen hinzuwirken. Wir werden aktiv darauf drängen, zum Beispiel in den Britischen Flughäfen Verbesserungen zu erwirken.
Der freie Personenverkehr zwischen der Schweiz und den übrigen EWR-Staaten wird nach Ablauf einer Übergangsfrist von 5 Jahren vollständig eingeführt.13 Während der Übergangsperiode steht es den andern EWR-Ländern frei, die Bestimmungen des EWR-Abkommens im Gleichschritt mit den schweizerischen Liberalisierungsmassnahmen einzuführen. Verzögerungen sind allerdings nur dort statthaft, wo ihr Gastland heute schon Personenverkehrsbeschränkungen kennt, die mit jenen der Schweiz vergleichbar sind. Die Vertragsparteien haben sich hingegen verpflichtet, während der Übergangsperiode keine neuen Beschränkungen einzuführen.
Die EWR-Botschaft des Bundesrates vom 18. Mai 1992 enthält ein speziell den Auswirkungen auf die Auslandschweizer gewidmetes Kapitel betreffend die Sozialversicherungen.14
Dort steht unter anderem: «Wegen der kaum abschätzbaren finanziellen Folgen des EWR (bedingt durch die nötige Öffnung der FV auch für alle EWR-Bürger) wird die FV auslaufen müssen, d. h. vom Tag des Inkrafttretens des EWR-Abkommens an werden keine Neubeitritte mehr zugelassen werden können».15 Diese Feststellung hat kritische Reaktionen ausgelöst, die in Bern durchaus gehört wurden und ernst genommen werden.16 Lassen Sie mich dazu folgendes sagen: Die Abschaffung der freiwilligen Versicherung für Auslandschweizer ist nicht eine rechtlich zwingende Konsequenz des EWR-Abkommens. Im Parlament wird zurzeit, in Zusammenarbeit mit der Bundesverwaltung, noch einmal sehr genau geprüft, ob nicht doch eine Möglichkeit besteht, das freiwillige Versicherungssystem in der einen oder andern Form fortzuführen, ohne dass dadurch die Bundeskasse unverhältnismässig belastet würde. Dies gilt insbesondere für Auslandschweizer und Auslandschweizerinnen ausserhalb des EWR, aber auch für schweizerische Arbeitnehmer, die wegen einer vorübergehenden Beschäftigung bei einem ausländischen Arbeitgeber in einem EWR-Land ihrer Versicherungsmitgliedschaft verlustig gehen würden.17 Der Präsident der Auslandschweizer-Organisation hat den National- und Ständeräten eine vollständige Dokumentation zur Verfügung gestellt, die nicht ohne Auswirkung auf die zur Zeit stattfindenden Beratungen sein dürfte.18 Im Vertrauen kann ich Ihnen sagen, dass ich zum Beispiel meinen Verwandten im süddeutschen Raum dringend empfohlen habe, noch vor Jahresende ihre volljährigen Kinder bei der freiwilligen AHV anzumelden. Denn wer einmal Mitglied geworden ist, kann diese Mitgliedschaft in aller Regel nicht mehr verlieren. Schliesslich möchte ich Sie speziell in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass Sie seit dem ersten Juli dieses Jahres auch Referendumsbegehren auf dem Korrespondenzweg, von Ihrem Wohnort aus unterzeichnen können. Der Zug des Verlusts der freiwilligen AHV/IV für Auslandschweizer ist also noch keineswegs endgültig abgefahren.
Für den Ausgang der EWR-Abstimmung werden aber nicht nur persönliche Interessen, sondern auch, wahrscheinlich sogar vorwiegend, die schweizerischen Gesamtinteressen ausschlaggebend sein. Auf die Beurteilung dieser Interessen konzentriert sich zurzeit die in der Schweiz heftig geführte politische Auseinandersetzung. Erlauben Sie mir hierzu ein paar allgemeine Bemerkungen, und zwar mit dem einzigen Ziel, Missverständnisse zu beseitigen und einer objektiven Entscheidfindung dienlich zu sein. Roger de Weck hat kürzlich in einem Leitartikel des Tagesanzeigers ganz ähnlich argumentiert.19
1. Nur ein ehrlicher und fairer Abstimmungskampf kann dem Schweizer Stimmbürger helfen, die aus seiner Sicht richtige Entscheidung zu treffen. Persönliche Angriffe gegen führende Integrationsgegner sind ebenso inakzeptabel wie Unterstellungen, wonach Befürworter der vom Bundesrat festgelegten Integrationspolitik gottlose Landesverräter seien. Glauben Sie mir, Patrioten, die sich mit der schwierigen Europafrage nicht leicht tun, gibt es sowohl bei den Europabefürwortern als auch bei den Europagegnern.
2. Ob das Volk am 6. Dezember ja oder nein zum EWR-Abkommen sagt, wird nichts daran ändern, dass die EG unser Nachbar bleibt. Wir können es uns also auf keinen Fall leisten, die EG schlicht aus unserer Optik auszublenden. Die Vorstellung, die Schweiz könne im Alleingang einfach weitermachen wie bisher, ist unrealistisch, falsch. Die Schweiz kann sich nicht von europäischen Veränderungen ausklammern. Und die Erwartung, dass die vom heutigen Grenzschutz profitierenden Branchen und Unternehmen vor Strukturveränderungen geschützt wären, ist ebenfalls unrealistisch. Wie auch immer die Entscheidung am 6. Dezember ausfallen wird: interne Massnahmen zur Abfederung des unerlässlichen Strukturwandels werden unumgänglich sein.
3. Niemand und nichts zwingt die Schweiz, dem EWR oder der EG beizutreten. In meinen Brüsseler Jahren während der EWR-Verhandlung20 habe ich immer wieder erlebt, wie wenig sich die Gemeinschaft um die Zukunft der Schweiz, im positiven oder im negativen Sinn, kümmert. Der in der schweizerischen Integrationsdebatte hin und wieder erweckte Eindruck, eine böse, zentralistisch organisierte Grossmacht namens EG setze alles daran, sich die Schweiz einzuverbleiben, ist schlicht falsch. Es gibt kein Diktat aus Brüssel, es gibt nur klare Bedingungen für jene die mit der EG einen Vertrag abschliessen wollen oder für jene die ihr beitreten wollen. Noch einmal: Niemand, sicher nicht die EG und ihre Mitgliedstaaten, zwingen die Schweiz zum Glück oder zum Unglück.
4. Ob EWR, ob EG-Beitritt oder ob Alleingang, es ist in allen Fällen wichtig, dass wir die uns schon geographisch umfassende EG richtig einschätzen. Noch immer gibt es viele Schweizer, die darauf setzen, dass die Gemeinschaft scheitert. Das sind zum Beispiel jene, die Schadenfreude zeigten, als eine knappe Mehrheit des Dänischen Volkes nein zum Vertrag über die Europäische Union, und nicht etwa zur EG-Mitgliedschaft oder gar zum Europäischen Wirtschaftsraum, sagte.21 Es hat zwar in der Geschichte der europäischen Einigung immer Krisen gegeben, und es wird sie auch in Zukunft geben. Aber gerade die immer wieder bestandene Krisenbewältigung hat gezeigt, dass die EG als langfristiger Einigungsprozess auf Erfolgskurs bleibt. Zu lange war es in der Schweiz Mode, die Gemeinschaft anhand ihrer politischen Zwiste zu kritisieren, anstatt zu erkennen, dass die Anstrengungen und Windungen für Friede und Wohlstand in Europa eine Gemeinschaft begründeten, die auf Fels und nicht auf Sand gebaut ist. In der europäischen Integration wird es noch viele Höhepunkte und Rückschläge geben, aber der Einigungsprozess steht erst am Anfang und nicht, wie einige in der Schweiz noch meinen, kurz vor dem Schluss.
5. Möglicherweise ist das europäische Integrationstempo, begünstigt durch die machtpolitischen Veränderungen seit dem Fall der Berliner Mauer, begünstigt auch durch das gute Verständnis des rasch vorwärtsdrängenden Paars Mitterrand/Kohl, für viele Europäer, und für sehr viele Schweizer, etwas schnell. Es stimmt zwar, dass wir unser eigenes Tempo haben, und dass Langsamkeit sich lohnt, Beständigkeit und Sicherheit schafft. Manchmal ist aber zaudern und Behäbigkeit auch mit hohen Kosten verbunden. Eine vollständige Öffnung des EG-Binnenmarktes wird uns mit grosser Wahrscheinlichkeit nach dem 6. Dezember nicht mehr offeriert, und auch die Beitrittsbedingungen werden wohl immer härter, immer politischer.
6. Und schliesslich sollten wir uns hüten, unser Urteil über das EWR-Abkommen aufgrund allzu kurzfristiger Überlegungen zu bilden. Natürlich ist es für unsere Unternehmer wichtig zu wissen, ob sie schon nächstes Jahr von der Schweiz aus mit gleich langen Spiessen wie ihre europäischen Konkurrenten wirtschaften können, oder ob sie neue Standort- und Investitionsentscheide zu treffen haben. Natürlich ist es wichtig zu wissen, ob die Preise nächstes Jahr eher sinken, ob die Arbeitslosigkeit, das Zinsniveau und die Inflation weiter steigen, oder ob mit einem Prozent Zusatzwachstum gerechnet werden kann. Doch es sind wohl nicht solche Prognosen, die, und die Ökonomen mögen mir verzeihen, des öftern das Vorzeichen wechseln, allein ausschlaggebend sein dürften für staatspolitische Grundsatzentscheide. Im Grunde geht es doch um die langfristig bedeutende Frage, ob wir eine Schweiz wollen, die sich im Rückspiegel etwas vorgaukelt, oder aber ob wir genügend Kraft haben, für unsere Kinder und Enkel eine Schweiz vorzubereiten, die sich öffnet, in der europäischen Zukunft erneuert und bestätigt und den Wettbewerb in keiner Beziehung fürchtet.
Diese paar Bemerkungen sollen Ihnen zeigen, von welchen Gedanken sich der schweizerische Bundesrat leiten liess, als er in diesem Frühjahr seine integrationspolitischen Entscheide traf.22 Vielen von uns geht es ähnlich: Im Herzen sind wir verbunden mit der alten Schweiz. Wir möchten sie für immer so bewahren wie sie ist. Wenn wir jedoch nachdenken, mit offenen Augen über die Grenzen nach Europa blicken, so kommen Zweifel auf, ob es doch wohl nicht besser wäre, wenn wir unsere Zukunftschancen durch mitmachen, anstatt durch isolieren, in die eigenen Hände nehmen würden. Das EWR-Abkommen ist in den Augen des Bundesrates ein entscheidender Schritt in diese Richtung.
Diese integrationspolitische Standortbestimmung wäre nicht vollständig, liebe Auslandschweizer und liebe Auslandschweizerinnen, wenn ich Ihnen verschweigen würde, dass der Bundesrat die sicherheitspolitische Situation in Europa alles andere als rosig beurteilt.23 Zwar hat sich das Risiko apokalyptischer Grosskriege in Gesamteuropa drastisch reduziert. Die Gefahr jedoch, dass sich die zahlreichen Krisen- und Kriegsherde in Mittel- und Osteuropa, aber auch an der Grenze zum islamischen Raum, zu einem Flächenbrand ausweiten, ist keineswegs gebannt. Gegen derartige Gefahren braucht es europäische Systeme der Friedenssicherung, der Kriegsverhinderung und der Kriegsbeendung. Die Schweiz hat hierzu Mittel die ohne weiteres «europanützlich» wären. Wir dürfen nicht nachlassen, mit Aktionen und allen Mitteln zugunsten jener zu wirken, die noch nicht in Frieden zusammenleben und mit Solidaritätsbeiträgen für jene zu sorgen, die die Folgen der vergangenen Misswirtschaft nicht ohne unsere massive Hilfe überwinden können.
- 1
- CH-BAR#E2024B#2002/7#2344* (a.814.4). Der Chef des Integrationsbüros EDA/EVD, Botschafter Bruno Spinner, eröffnete mit seinem Referat den Auslandschweizer-Kongress, der am 21. und 22. August 1992 in St. Gallen stattfand und dem Thema «Die Schweiz und die Auslandschweizer vor der europäischen Herausforderung» gewidmet war. Zum Abschluss des Kongresses hielt der Vorsteher des EMD, Bundesrat Kaspar Villiger, ein Referat mit dem Titel «Die Schweiz vor der Europäischen Herausforderung: Ja zum EWR – Nein zum Alleingang», vgl. dodis.ch/60900. Die beiden Referate wurden zusammen mit einer Zusammenfassung der Veranstaltung vom Chef des Auslandschweizerdiensts des EDA, Minister Rolf Bodenmüller, am 14. September 1992 an die schweizerischen Vertretungen im Ausland verschickt, vgl. dodis.ch/60909.↩
- 2
- Der Bundesbeschluss über den Bau der schweizerischen Eisenbahn-Alpentransversale wurde am 27. September 1992 mit einem Ja-Anteil von 63,61% angenommen, vgl. BBl, 1992, IV, S. 443. Vgl. dazu ferner die thematische Zusammenstellung Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT), dodis.ch/T1722.↩
- 3
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Abstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), dodis.ch/T2163.↩
- 4
- Vgl. dazu die BR-Prot. Nr. 1072 vom 23. Mai 1990, dodis.ch/55403, sowie Nr. 941 vom 18. Mai 1992, dodis.ch/63317.↩
- 5
- Vgl. dazu das BR-Prot. Nr. 1964 vom 16. Oktober 1991, dodis.ch/57997, sowie die thematische Zusammenstellung Politische Rechte der Auslandschweizer, dodis.ch/T2110.↩
- 6
- Zur Bedeutung der stimmberechtigten Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer für die beiden Abstimmungen sowie den Bestrebungen des Auslandschweizerdiensts zur Information und Mobilisierung derselben vgl. das Schreiben des Chefs der schweizerischen Mission bei den Europäischen Gemeinschaften in Brüssel, Botschafter Benedikt von Tscharner, vom 15. Juni 1992, dodis.ch/56899, sowie die Reaktion von Minister Bodenmüller vom 6. Juli 1992, dodis.ch/60928.↩
- 7
- Vgl. dazu DDS 1992, Dok. 18, dodis.ch/58958, sowie die thematische Zusammenstellung Beitrittsgesuch der Schweiz zur EG (1991–1993), dodis.ch/T1955.↩
- 8
- Zur Pressemitteilung vom 2. Mai 1992 vgl. dodis.ch/62914. Zu den Details des Abkommens vgl. die Botschaft zur Genehmigung des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 18. Mai 1992, dodis.ch/61368.↩
- 9
- Für die Informationsstrategie des Bundesrats und die zahlreichen Publikationen des Integrationsbüros zur EWR-Abstimmung vgl. DDS 1992, Dok. 30, dodis.ch/60896.↩
- 10
- Zum Europa-Telefon vgl. dodis.ch/62988 sowie dodis.ch/61186.↩
- 11
- Vgl. dodis.ch/61638, S. 557.↩
- 12
- Vgl. dazu die Antwort des EDA vom 26. April 1991 auf die Frage 8 der Geschäftsprüfungskommission des Ständerats, dodis.ch/62911, Beilage.↩
- 13
- Vgl. dazu die Zusammenstellung dodis.ch/C1800.↩
- 14
- Botschaft zur Genehmigung des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 18. Mai 1992, dodis.ch/61368, S. 256–258.↩
- 15
- Vgl. dodis.ch/61368, S. 430–432.↩
- 16
- Vgl. dazu bspw. das Schreiben des Präsidenten der Auslandschweizer-Organisation, Walther Hofer, an den Vorsteher des EDI, Bundesrat Flavio Cotti, vom 16. April 1992, dodis.ch/63369.↩
- 17
- Entgegen des Vorschlags des Bundesrats, die freiwillige AHV im Rahmen der Eurolex-Anpassungen weltweit abzuschaffen, beschloss das Parlament die freiwillige AHV ausserhalb des EWR und für bestimmte Personengruppen weiterzuführen. Für eine Zusammenfassung der parlamentarischen Diskussionen und für den weiteren Verlauf der Diskussion zur freiwilligen AHV vgl. die Notiz von Minister Bodenmüller vom 26. Oktober 1992, dodis.ch/62912, sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C2400. Zur Eurolex-Debatte im Parlament vgl. DDS 1992, Dok. 39, dodis.ch/60990.↩
- 18
- Für die Dokumentation von Walther Hofer und weitere Unterlagen zum Lobbying der Auslandschweizer-Organisation in dieser Sache vgl. die Dossiers CH-BAR#J2.230#2012/96#187* (6102) und CH-BAR#J2.230#2012/96#192* (61030).↩
- 19
- Roger de Weck: «Schweiz und Europa: Die Angst ist ein schlechter Ratgeber», in: Tagesanzeiger vom 7. August 1992.↩
- 20
- Botschafter Spinner hatte vor seiner Ernennung zum Chef des Integrationsbüros EDA/EVD von 1989 bis 1992 als Botschaftsrat bei der schweizerischen Mission bei den Europäischen Gemeinschaften in Brüssel gearbeitet.↩
- 21
- Vgl. dazu den Politischen Bericht Nr. 10 des schweizerischen Botschafters in Kopenhagen, Daniel Dayer, vom 9. Juni 1992, dodis.ch/63028.↩
- 22
- Vgl. dazu DDS 1992, Dok. 15, dodis.ch/57333, und Dok. 18, dodis.ch/58958.↩
- 23
- Zur sicherheitspolitischen Lage in Europa vgl. DDS 1992, Dok. 34, dodis.ch/61955; Dok. 46, dodis.ch/61100; sowie Dok. 62, dodis.ch/61267.↩
Tags
Vote on European Economic Area (EEA) (1992)
Swiss citizens from abroad Political rights of Swiss citiziens from abroad