Darin: Übermittlungsnotiz von D. Woker vom 9.12.1992 (Beilage).
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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1992, doc. 57
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#1665* | |
Dossier title | Allgemeines (1992–1993) | |
File reference archive | B.15.21 • Additional component: Slovaquie |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#1653* | |
Dossier title | Allgemeines (1991–1993) | |
File reference archive | B.15.21 • Additional component: Tchécoslovaquie (1.93 Tchèquie) |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2200.190#2000/231#48* | |
Dossier title | Verhältnis zwischen Föderation und Republiken (1991–1992) | |
File reference archive | 351 • Additional component: Tschechische Republik |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#6233* | |
Dossier title | Tschécoslovaquie: Généralités, Band 2 (1992–1993) | |
File reference archive | B.75.77.20.00.CSR |
dodis.ch/61144Der Direktor der Politischen Direktion, Staatssekretär Kellenberger, an den Vorsteher des EDA, Bundespräsident Felber1
Die Auflösung der CSFR und ihre Folgen
Mit der Verabschiedung des Gesetzes vom 25. November 1992 über die Auflösung der CSFR ist es dem föderalen Parlament im 3. Anlauf gelungen, das Schicksal der CSFR verfassungsrechtlich endgültig zu besiegeln.2
Laut diesem Gesetz wird die CSFR am 31. Dezember 1992 aufhören zu existieren. Zu ihren Nachfolgern werden die Tschechische Republik und die Slowakische Republik bestimmt, welche ab 1. Januar 1993 sämtliche Kompetenzen des untergegangenen Staates übertragen erhalten. In formalrechtlicher Sicht steht der zukünftigen Anerkennung beider Nachfolgestaaten somit nichts mehr im Wege. Dies bedeutet aber nicht, dass die Natur und die praktische Ausgestaltung unserer bilateralen Beziehungen mit der CSFR unbesehen auf die beiden Nachfolgestaaten übertragen würden.
Die Auflösung der CSFR hinterlässt nämlich einen zwiespältigen Eindruck: sie erfolgt zwar verfassungskonform, jedoch – anerkanntermassen – gegen den Willen eines Grossteils des tschechischen und slowakischen Volkes. Ob dieses durch die Ereignisse überrannt wurde, kann gegenwärtig noch nicht schlüssig beantwortet werden. Schon früh war jedoch zu erkennen, dass sich die Mehrheit der tschechoslowakischen Bevölkerung mit der Unabänderlichkeit des Trennungsprozesses abgefunden zu haben schien. Da sich das föderale Parlament bis zuletzt [als] beschlussunfähig erwies, wurde die Trennungsfrage ausschliesslich zwischen den beiden Republiksregierungen ausgehandelt. Vor diesem Hintergrund ist der Auflösungsbeschluss des föderalen Parlaments lediglich als Ausdruck seiner Besorgnis um die Wahrung der konstitutionellen Formen zu werten. Die Auflösung der CSFR erweist sich damit letztlich als das eigenwillige Werk der beiden Gegenspieler, der Ministerpräsidenten Slowakiens und der Tschechei, Meciar und Klaus.3
Die beiden Politiker vertreten grundsätzlich verschiedene gesellschaftspolitische Modelle. Im Gegensatz zu Klaus vermochte Meciar, ein ausgesprochener Populist, bisher wenig zu überzeugen. Seine Vorstellungen von Demokratie und Marktwirtschaft erscheinen – zumindest bis zum Beweis des Gegenteils – fragwürdig. Seit der Verabschiedung der neuen slowakischen Verfassung ist es zwischen ihm und den Vertretern der ungarischen Minderheit bereits zu Spannungen gekommen.
Für die ungarische Minderheit in der Slowakischen Republik stellt diese Verfassung nichts anderes dar als ein Instrument zur zukünftigen Beschneidung ihrer Autonomie. Sollten diese Spannungen in Zukunft weiter anwachsen, droht im ungarisch besiedelten Süden der Slowakei – wo ohnehin schon im Zusammenhang mit der slowakischen Umleitung der Donau ein Grenzproblem mit Ungarn besteht – ein neuer Konfliktherd zu entstehen. Diesen Entwicklungen ist bei der Ausgestaltung unserer künftigen Beziehungen mit den beiden Nachfolgestaaten, insbesondere mit der Slowakei, Rechnung zu tragen.4
Wir schlagen deshalb vor, bei den nun anstehenden Fragen wie folgt vorzugehen:
In der begründeten Annahme, dass unsere wichtigsten Partnerstaaten («Gruppe repräsentativer Staaten») beide Republiken gleichzeitig und ohne Umschweife zu Jahresbeginn anerkennen werden,5 muss die Schweiz darauf vorbereitet sein, ihre Anerkennung am 1. Januar 1993 aussprechen zu können.
Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit beiden Republiken kann unmittelbar nach deren Anerkennung, mittels Notenaustausches durch unsere Botschaft in Prag erfolgen.6
Unser Botschafter in Prag7 wird zunächst sowohl bei der Tschechischen als auch bei der Slowakischen Republik zu akkreditieren sein. (Die slowakische Regierung hat sich zum vornherein mit einer solchen Doppelakkreditierung einverstanden erklärt.) Ob sich mittelfristig für die Republik Slowakei eine andere Akkreditierung aufdrängt, kann später geklärt werden.8
Wir haben zu diesen drei Punkten den beiliegenden Antrag an den Bundesrat vorbereitet.9
Zwischen der Schweiz und der CSFR bestehen ca. 20 Verträge.11 Obgleich uns beide Nachfolgestaaten ihr Interesse zur Übernahme dieser Verträge signalisiert haben, kommt aus schweizerischer Sicht deren automatische Weiterführung nicht in Betracht. Es entspricht indessen schweizerischer Praxis, Verträge aus Gründen der Rechtssicherheit zunächst weiterzuführen, unter Vorbehalt einer eingehenden Überprüfung nach Erlangen der Unabhängigkeit neuer Partner. Dieses pragmatische Vorgehen wird es jeder Partei ermöglichen, die Wünschbarkeit der Fortgeltung eines Vertrages überprüfen zu können.12
Ein unmittelbarer Handlungsbedarf hätte sich bis jetzt lediglich im Falle des Freihandelsvertrages EFTA–CSFR ergeben.13 Das BAWI ist gegenwärtig daran, die Anpassungsmodalitäten hinsichtlich der Übernahme dieses Vertrages durch beide Nachfolgestaaten per 1.1.1993 zu überprüfen.14 (Es sei hier erwähnt, dass wir uns überlegt hatten, Vorbehalte anzubringen betreffend die Weiterführung dieses Vertrages mit der Slowakei.15 Vorbehalte wurden seitens der EG bezüglich der Weiterführung ihres Assoziationsabkommens geäussert. Nach reiflicher Überlegung und Rücksprache mit dem BAWI haben wir uns jedoch entschieden, darauf zu verzichten in der Überzeugung, dass ein Freihandelsabkommen nicht das geeignete Vehikel für Vorbehalte bezüglich politischer Reformen darstellt.)
Grundsätzlich erscheint eine rasche Aufnahme beider Nachfolgestaaten in die ihnen offenstehenden europäischen Strukturen (v. a. KSZE, Europarat) unerlässlich.16 Dem erwähnten Konfliktspotential zwischen der Slowakei und Ungarn beispielsweise kann nur dann vorgebeugt werden, wenn auch die Slowakei in diese Strukturen eingebunden wird.17 Diese ist im Falle eines Beitritts zu diesen Organisationen gezwungen, sich ausdrücklich zu den Prinzipien der pluralistischen Demokratie, der Achtung der Menschenrechte sowie der Rechtsstaatlichkeit zu bekennen. Allfällige Verstösse können dann durch die bestehenden Mittel (KSZE-Mechanismen, etc.) angegangen werden. Es liegen Anzeichen vor, dass beide Nachfolgestaaten der CSFR, also auch die Slowakische Republik, sich der Bedeutung ihrer allfälligen Mitgliedschaft in diesen Organisationen bewusst sind. So liegt etwa eine Erklärung beider Nachfolgestaaten dem Europarat vor, im Rahmen ihrer Beitrittsgesuche alle Verpflichtungen, welche die CSFR als Europaratsmitglied eingegangen ist, auch bereits vor einem formellen Beitritt respektieren zu wollen.18
Die Weiterführung der schweizerischen Osthilfe mit den beiden Nachfolgestaaten der CSFR wird in erster Linie davon abhängen, ob diese die Konditionalität der Hilfe erfüllen. Im Falle der Slowakei sind diesbezüglich, wie bereits erwähnt, gewisse Zweifel angebracht. Wir schliessen deshalb nicht aus, dass bisherige CSFR-Projekte entsprechend anzupassen sein werden.19
Nordkorea (miss)braucht die Auflösung der CSFR, um die NNSC grundsätzlich in Frage zu stellen. Diese kann aber nur im allseitigen Einverständnis geändert werden. Entsprechend haben wir uns bisher darauf konzentriert, zusammen mit unseren NNSC-Partnern Polen und Schweden die beiden Nachfolgerepubliken der CSFR zur künftigen Bildung einer gemischten NNSC-Delegation zu bewegen. Indessen ist die wirkliche Problematik hier zwar formal mit der Auflösung der CSFR verknüpft, tatsächlich aber ein Problem, das von Nordkorea ausgeht.20
Sind Sie mit den voranstehenden Ausführungen einverstanden; insbesondere auch, den beiliegenden Antrag dem Bundesrat anlässlich seiner Sitzung vom 23. Dezember 1992 zu unterbreiten?21
- 1
- CH-BAR#E2010A#2001/161#1653* (B.15.21). Dieser Entwurf einer Notiz an den Vorsteher des EDA, Bundespräsident René Felber, wurde vom stv. Chef der Politischen Abteilung I, Daniel Woker, sowie dessen Mitarbeiter Patrick Pardo verfasst und war zur Unterzeichnung durch den Direktor der Politischen Direktion des EDA, Staatssekretär Jakob Kellenberger, vorgesehen. Die Notiz wurde an die Direktion für Völkerrecht, die Direktion für Verwaltungsangelegenheiten und Aussendienst, die Politischen Abteilungen II und III des EDA sowie an die schweizerische Botschaft in Prag mit dem Hinweis «Falls wir bis zum Freitag, 11. Dezember 1992, 12.00 h nichts hören, gehen wir gerne von Ihrem Einverständnis aus», versendet. Kopien gingen an den Delegierten des Bundesrats für Handelsverträge, Botschafter Silvio Arioli, sowie an diverse Amtsstellen und Personen des EDA. Für das Begleitschreiben und die Verteilerliste vgl. das Faksimile dodis.ch/61144. Eine von Staatssekretär Kellenberger unterzeichnete Version dieser Notiz findet sich nicht im Dossier CH-BAR#E2010A#2001/161#1653* (B.15.21). Die Notiz diente aber als Grundlage für einen Antrag an den Bundesrat vom selben Datum, welcher von Staatssekretär Kellenberger Bundespräsident Felber zugestellt und von diesem am 16. Dezember 1992 unterzeichnet wurde, vgl. das BR-Prot. Nr. 2487 vom 23. Dezember 1992, dodis.ch/60688.↩
- 2
- Vgl. dazu das Fernschreiben des schweizerischen Botschafters in Prag, Maurice Jeanrenaud, vom 26. November 1992, dodis.ch/62380.↩
- 3
- Vgl. dazu den Politischen Bericht Nr. 10 des Geschäftsträgers a. i. der schweizerischen Botschaft in Prag, Werner Baumann, vom 9. November 1992, dodis.ch/62390.↩
- 4
- Die Beziehungen zwischen der Slowakischen Republik zur ungarischen Minderheit bzw. zu Ungarn waren auch Thema der Gespräche von Ständeratspräsidentin Josi Meier im Oktober 1992 mit dem slowakischen Ministerpräsidenten Vladimír Mečiar in Bratislava, vgl. dodis.ch/62418, bzw. mit einem Abgeordneten der ungarischen Minderheit, vgl. dodis.ch/62441.↩
- 5
- Zur Anerkennung der Nachfolgerepubliken durch die EG vgl. dodis.ch/62440. Bereits die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens durch die Schweiz wurde gleichzeitig mit einer «grossen Gruppe europäischer Staaten» vollzogen, vgl. DDS 1992, Dok. 2, dodis.ch/58005.↩
- 6
- Die Politische Abteilung I informierte Bundespräsident Felber am 22. Dezember 1992, dass die Anerkennung mittels zweier auf den 1. Januar 1993 datierter Noten auf Jahresbeginn erfolgen könnte, vgl. dodis.ch/62384. Der Bundesrat hat sich am 23. Dezember 1992 «nach mündlichem Vortrag des Vorstehers des EDA» mit diesem Vorgehen einverstanden erklärt, vgl. dodis.ch/62385, sowie das BR-Prot. Nr. 2487 vom 23. Dezember 1992, dodis.ch/60688.↩
- 7
- Botschafterin Sylvia Pauli ersetzte am 20. Dezember 1992 Botschafter Jeanrenaud in Prag.↩
- 8
- Noch im Juli 1992 sah die Politische Abteilung I eine Seitenakkreditierung der schweizerischen Botschaft in Wien für die Slowakei vor, vgl. dazu dodis.ch/61145.↩
- 9
- Für den Antrag des EDA vom 9. Dezember 1992 vgl. das Faksimile dodis.ch/60688.↩
- 10
- Die Direktion für Völkerrecht hat im Zusammenhang mit der Abspaltung verschiedener Teilrepubliken Jugoslawiens und der Sowjetunion zuhanden der Politischen Abteilung I am 28. Oktober 1991 eine Notiz zu dieser Thematik ausgearbeitet, vgl. dodis.ch/59822.↩
- 11
- Vgl. dazu die Beilage von dodis.ch/62388.↩
- 12
- Vgl. dazu die Notiz über das Gespräch des Chefs der Sektion Völkerrecht des EDA, Charles-Edouard Held, mit dem tschechoslowakischen Botschaftsrat Jiří Jiříček vom 17. November 1992, dodis.ch/62388, sowie die Notiz über die Gespräche des Vizedirektors der Direktion für Völkerrecht, Werner Baumann, und Alexander Hoffet von der schweizerischen Botschaft in Prag mit einer Delegation des tschechischen Aussenministeriums in Prag vom 16. und 17. November 1993, dodis.ch/62389.↩
- 13
- Abkommen zwischen den EFTA-Staaten und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik vom 20. März 1992, AS, 1993, S. 1283–1299.↩
- 14
- Vgl. dazu das Fernschreiben des Bundesamts für Aussenwirtschaft (BAWI) des EVD an die schweizerische Botschaft in Prag vom 30. November 1992, dodis.ch/63037.↩
- 15
- Vgl. dazu die Notiz des stv. Abteilungschefs Woker vom 31. August 1992, dodis.ch/62519.↩
- 16
- Zur Aufnahme der beiden Republiken in den Europarat vgl. dodis.ch/62478.↩
- 17
- Zum ungarischen Vorbehalt einer Aufnahme der Slowakei in die KSZE vgl. dodis.ch/62477.↩
- 18
- Für die Erklärungen vgl. das Dossier CH-BAR#E2023A#2003/421#950* (o.121.360.CSFR).↩
- 19
- Das Büro für die Zusammenarbeit in Ost- und Mitteleuropa der Politischen Abteilung I des EDA führte vom 1. bis 4. November 1993 in der tschechischen sowie vom 24. bis 26. November 1993 in der slowakischen Republik eine Abklärungsmission durch, um die Möglichkeiten der Weiterführung der Osthilfe in den neuen Republiken zu erkunden, vgl. dazu dodis.ch/62479 bzw. dodis.ch/62737.↩
- 20
- Vgl. dazu DDS 1992, Dok. 9, dodis.ch/61266, Abschnitt 2, sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C2086.↩
- 21
- Staatssekretär Kellenberger übermittelte den Antrag an Bundespräsident Felber, welcher am 16. Dezember den Antrag unterzeichnete, vgl. das Dossier CH-BAR#E2010A#2001/161#1653* (B.15.21). Eine Woche später beschloss der Bundesrat die Anerkennung der Tschechischen sowie der Slowakischen Republik auf den 1. Januar 1993 und ermächtigte das EDA, diese Anerkennung zu notifizieren und diplomatische Beziehungen zu den beiden Staaten einzuleiten, vgl. das BR-Prot. Nr. 2487 vom 23. Dezember 1992, dodis.ch/60688.↩
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