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Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 27, Dok. 118
volume linkZürich/Locarno/Genève 2022
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2001E-01#1988/16#795* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2001(E)-01/1988/16 180 | |
Dossiertitel | Br vom 21.4.1949 über die Zuständigkeit der Fremdenpolizeibehörden 1977/78 (1976–1978) | |
Aktenzeichen Archiv | B.41.10.1 |
dodis.ch/49424Notiz für den Vorsteher des Politischen Departements, P. Aubert1
Gastarbeiterfragen
1. Die Überfremdungsinitiativen2 und die bundesrätliche Politik der Stabilisierung des Ausländerbestandes haben zu gewissen Problemen mit den Herkunftsländern3 der Gastarbeiter geführt. Als dann, im Zuge zunehmender Arbeitslosigkeit, viele ausländische Arbeitskräfte abwanderten, wurden die Klagen schriller und die Probleme mit mehr Insistenz vorgebracht. Die Vorwürfe gegenüber unserer Gastarbeiterpolitik liegen dabei grundsätzlich auf zwei Ebenen: Einerseits geht es um sehr konkrete Fragen der sozialen Sicherheit, der Schulung der Gastarbeiterkinder, der Arbeitslosenversicherung usw. Dann gibt es aber auch grundsätzliche Vorwürfe, die die eigentliche Basis unserer Politik betreffen und die sich vor allem gegen den Vorwurf zum neuen Ausländergesetz (ANAG)4 richten.
2. Dieser Vorentwurf, der u. a. auch den Emigrantenorganisationen unterbreitet wurde, gibt seitens der Ursprungsländer zu folgenden Kritiken Anlass:
- a. Die Beibehaltung des Saisonnierstatus erhält die ungleiche Behandlung der verschiedenen Kategorien von Gastarbeitern aufrecht und dient zum Teil dazu, den Verpflichtungen, die wir durch Gewährung eines anderen Status gegenüber diesen Arbeitern übernähmen, aus dem Weg zu gehen. Die Umwandlung der Saisonnier- in eine Jahresaufenthaltsbewilligung könnte durch Manipulationen erschwert werden. Der Bundesrat hat sich allerdings verpflichtet, alle Massnahmen zu treffen, damit der Saisonnierstatus nicht zu Zwecken missbraucht wird, für die er nicht geschaffen wurde.
- b. Auf dem Gebiet der Familienzusammenführung sieht das neue Gesetz eine Wartefrist von 12 Monaten (bisher 15) für Jahresaufenthalter vor. Saisonniers müssen ihre Familien im Herkunftsland lassen.
- c. Auch Jahresaufenthalter geniessen nicht die gleichen Anstellungs- und Arbeitsbedingungen wie Einheimische. Das ANAG sieht ausdrücklich eine Priorität für einheimische Arbeitskräfte vor (Artikel 33). Es geht hier vor allem um eine Benachteiligung beim Stellenwechsel und in der geographischen Mobilität (Wechsel in einen anderen Kanton).
(Federführend für a, b, c: Justiz- und Polizeidepartement, Fremdenpolizei, Zuständig im Politischen Departement: Völkerrechtsdirektion, Politische Abteilung I.)
- d. Die soziale und politische Integration der ausländischen Arbeiter werde zuwenig gefördert. Es geht hier weniger um konkrete Anliegen als um einen allgemeinen Vorwurf. Was genau darunter zu verstehen ist, wird nicht immer klar. Während einige darunter eine Förderung der Gastarbeiter und ihrer Kinder beim Erlernen der neuen Sprache und zugleich Unterricht in Sprache, Geschichte und Kultur des Herkunftslandes verstehen5, fordern andere politische Rechte, zumindest auf Gemeindeebene.
(Federführend für Schulfragen: Departement des Innern, Amt für Wissenschaft und Forschung. Zuständig im Politischen Departement: Politische Abteilung III)
3. Was die Anwendung gegenwärtig gültiger Bestimmungen anbelangt, geben vor allem Fragen der sozialen Sicherheit, die im Zusammenhang mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit an Bedeutung gewonnen haben, zu Problemen Anlass: (Die Liste liesse sich beliebig verlängern.)
- a) Italien wurde klargemacht, dass gewisse, im paraphierten 2. Zusatzprotokoll zum Sozialversicherungsabkommen6 festgehaltene Konzessionen zurückgezogen werden müssen. Grund dafür sei die Tatsache, dass die SAK infolge des Personalstops nicht mehr in der Lage ist, ihre Aufgaben alle zu bewältigen, da sie insbesondere durch eine Unzahl sehr oft ungerechtfertigter Gesuche um Leistungen der IV aus Italien überlastet sei7. Dazu ist zu bemerken, dass die gleichen Konzessionen anderen Ländern (Spanien, Griechenland und Türkei) gewährt wurden8.
Spanien drängt seinerseits auf eine Verbesserung des bestehenden Sozialversicherungsabkommens9.
(Federführend: Departement des Innern, Bundesamt für Sozialversicherung. Zuständig im Politischen Departement: Politische Abteilung I, Auslandschweizerdienst.)
- b) Spanien beklagt sich darüber, dass in einigen Kantonen Schulräume für den Spanischunterricht nicht gratis zur Verfügung gestellt würden und dass dieser Spezialunterricht ausserhalb der normalen Schulzeit abgehalten werden müsse, was für die spanischen Schüler zusätzlich eine grosse Belastung darstelle10.
(Federführend: Departement des Innern, Amt für Wissenschaft und Forschung. Zuständig im Politischen Departement: Politische Abteilung III.)
4. Das EPD ist zwar für keines der erwähnten Probleme materiell zuständig, es drängen sich aber im Rahmen unserer Beziehungen zu den Herkunftsländern einige Bemerkungen auf:
- a. Dass auf dem Gebiet der Sozialversicherung nicht alle Herkunftsländer gleichbehandelt werden, ist bedauerlich, auch wenn es dafür technische oder psychologische Erklärungen gibt.
- b. Bei Schulfragen stellt sich das Problem der kantonalen Zuständigkeit: Es gibt verschieden grosszügige Regelungen, je nach Kanton. Immerhin versuchen wir, mit dem Amt für Wissenschaft und Forschung, in uns bekannten Einzelfällen zu einer Lösung zu gelangen.
- c. Die relativ lange Frist für Familienzusammenführung im neuen ANAG verträgt sich schlecht mit unserem Einsatz an der KSZE in dieser Frage11.
- d. Die ungleiche Behandlung ausländischer und schweizerischer Arbeitskräfte widerspricht einer Tendenz, die in verschiedenen multilateralen Instrumenten zum Ausdruck kommt: Resolution (76) 11 des Europarates12, Resolutionen der UN-GV13, des ECOSOC14 und der Schlussakte von Helsinki, in der wir die zumindest moralische Verpflichtung eingegangen sind, die «Gleichberechtigung zwischen Wanderarbeitern und (Einheimischen) ... hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen sowie der sozialen Sicherheit zu gewährleisten ...»15.
5. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich die Herkunftsländer in Fremdarbeiterfragen zukünftig vermehrt auf die KSZE-Dokumente berufen werden. So wird möglicherweise auch in das Belgrader Schlussdokument16 ein von ihnen ausgearbeiteter Text aufgenommen werden. Ein erster portugiesischer Vorschlag sah die Schaffung eines Expertenkomitees im KSZE-Rahmen vor, das also auch nicht direkt Betroffenen, wie z. B. den Oststaaten, offengestanden wäre. In unseren Demarchen wurde den Autoren des Vorschlags klargemacht, dass nicht die KSZE, sondern andere Organisationen, vorab der Europarat, das geeignete Forum für die Behandlung dieser Frage darstellten.
- 1
- Notiz (Kopie): CH-BAR#E2001E-01#1988/16#795* (B.41.10.1). Verfasst von P. Vogler. P. Aubert vorgelegt für die Antrittsbesuche der hiesigen Missionschefs.↩
- 2
- Vgl. dazu DDS, Bd. 25, Dok. 17, dodis.ch/35599, Anm. 5; DDS, Bd. 26, Dok. 86, dodis.ch/38402; das BR-Prot. Nr. 1128 vom 29. Juni 1967, dodis.ch/33379; die Notiz der Fremdenpolizei des Justiz- und Polizeidepartements vom 31. Juli 1968, dodis.ch/32844 sowie die Notiz von A. Hegner an P. Graber vom 24. Februar 1976, dodis.ch/49425.↩
- 3
- Fussnote im Original: Es handelt sich dabei vor allem um Italien, dann Spanien und in etwas geringerem Masse Jugoslawien, Griechenland, Portugal und die Türkei.↩
- 4
- Vgl. dazu die Botschaft zum Ausländergesetz vom 19. Juni 1978, BBl, 1978, II, S. 169–264. Vgl. ferner die Notiz von E. Diez an P. Graber vom 23. Februar 1976, dodis.ch/49613 sowie das BR-Prot. Nr. 1017 vom 19. Juni 1978, dodis.ch/49617.↩
- 5
- Vgl. dazu DDS, Bd. 27, Dok. 27, dodis.ch/48951.↩
- 6
- Entwurf zur Zweite[n] Zusatzvereinbarung zum Abkommen vom 14. Dezember 1962 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Italienischen Republik über Soziale Sicherheit. Zu den Verhandlungen vgl. das BR-Prot. Nr. 1995 vom 29. Oktober 1975, CH-BAR#E1004.1#1000/9#823* sowie Doss. CH-BAR#E2200.19-03#1987/37#93* (151.41) und CH-BAR#E3340B#1989/175#1011* (979.274/J3). Vgl. ferner die Notiz von A. Hegner an P. Graber vom 18. Oktober 1977, dodis.ch/52066.↩
- 7
- Vgl. dazu DDS, Bd. 27, Dok. 32, dodis.ch/48753; die Notiz von M. Leippert an die Politische Abteilung I des Politischen Departements vom 28. Dezember 1977, dodis.ch/49497 sowie das Protokoll von H. Renk vom 4. August 1978, dodis.ch/49441, Punkt A.↩
- 8
- Vgl. dazu DDS, Bd. 27, Dok. 113, dodis.ch/49423, Punkt 2.2.1.↩
- 9
- Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und Spanien über Soziale Sicherheit vom 13. Oktober 1969, AS, 1970, S. 953–968. Vgl. dazu DDS, Bd. 24, Dok. 73, dodis.ch/32304.↩
- 10
- Vgl. dazu die Notiz von P. Stauffer an die Politische Abteilung I des Politischen Departements vom 2. September 1977, dodis.ch/48794.↩
- 11
- Vgl. dazu DDS, Bd. 27, Dok. 113, dodis.ch/49423, Punkt 2.1.2.↩
- 12
- Resolution des Ministerkomitees des Europarats vom 10. März 1976, CM/Res(76)11. Vgl. Doss. CH-BAR#E2003A#1990/3#162* und CH-BAR#E2003A#1990/3#163* (o.121.313.30).↩
- 13
- Resolutionen der UNO-Generalversammlung vom 16. Dezember 1976 und vom 16. Dezember 1977, UN doc. A/RES/31/127 und UN doc. A/RES/32/120. Vgl. Doss. CH-BAR#E2003A#1990/3#1364* (o.712.1.31) und CH-BAR#E2003A#1990/3#1366* (o.712.1.32).↩
- 14
- Resolution des UNO-Wirtschafts- und Sozialrats vom 13. Mai 1977, E/RES/2083 (LXII). Vgl. Doss. CH-BAR#E2003A#1990/3#1370* (o.712.2.62).↩
- 15
- Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa vom 1. August 1975, BBl, 1975, II, S. 924–1006, hier S. 968.↩
- 16
- Vgl. dazu DDS, Bd. 27, Dok. 126, dodis.ch/49325.↩
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