Äusserungen Nehrus über Europa, den Nationalismus und Kommunismus in Asien und die Entkolonisierung. Der Freundschafts-, Niederlassungs- und Handelsvertrag zwischen der Schweiz und Indien. Beziehung der Schweiz mit Pakistan, Ceylon, Burma, Thailand etc.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 17, doc. 107
volume linkZürich/Locarno/Genève 1999
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2802#1967/78#226* | |
Old classification | CH-BAR E 2802(-)1967/78 8 | |
Dossier title | Indien (1946–1956) | |
File reference archive | E. |
dodis.ch/4470
Der Chef der Abteilung für Politische Angelegenheiten, A. Zehnder, an den schweizerischen Gesandten in New Delhi, A. Daeniker1
[…]2
Während meines zweiten Aufenthaltes in Paris3 hatte ich dank den ständigen Bemühungen von Herrn Minister Desai eine Unterredung unter vier Augen mit Pandit Nehru. Die Fragen, die wir besprachen, betrafen die internationale Lage. Selbstverständlich behandelten wir in erster Linie den Konflikt West Ost. Sie werden die Gedankengänge des indischen Staatschefs kennen, so dass ich Ihnen wahrscheinlich nichts Neues berichten kann. Doch dürfte es Sie interessieren, was genau besprochen wurde. Pandit Nehru ist der Auffassung, dass Europa in einem Angstzustand lebt. Dieser sei nichts anderes als der Ausdruck der verlorenen religiösen und moralischen Werte, auf welchen die europäische Kultur bisher basierte. Ist man überzeugt von der Richtigkeit der Grundlagen, für die man sich einsetzt, so hat man keine Angst und ist bereit, sich dafür zu opfern. Europa ist aber im Materialismus verhaftet und wünscht nur noch Sicherheit. Der Kommunismus bietet vielleicht der grossen Masse mehr Sicherheit in bezug auf das materielle Leben als die kapitalistische Gesellschaft, die ja das Individualrisiko kennt, und es erscheint ihm selbstverständlich, dass Europa deshalb dem kommunistischen Gedankengut zugänglich ist. Anders liegen die Verhältnisse in Asien. Die einzige starke Bewegung, die die Massen dort heute mitreisst, ist der Nationalismus. Dieser richtet sich in erster Linie gegen die europäischen Kolonialmächte, aber auch gegen die zu spektakuläre Einmischung der Amerikaner in die inneren Verhältnisse der asiatischen Staaten. Unter diesen Umständen ist der natürliche Verbündete für die Asiaten die Sowjetunion, welche die nationalistischen Strömungen voll unterstützt. Dies ist die Erklärung, dass, je stärker Washington das Regime Tschiang-Kai-Schek in China unterstützte, desto stärker auch die kommunistische Bewegung in China wurde, die zweifellos nationalen Charakter trägt. Hier liegt aber auch für Russland die Quelle der künftigen Missverständnisse mit den asiatischen Völkern. In der Tat wird nach dem Abzug der Europäer und dem Verzicht der Amerikaner auf die Unterstützung der restlos kompromittierten chinesischen Nanking-Regierung die russische, bis jetzt camouflierte, aber nicht minder intensive Einmischung offenbar, und die ganze Wucht des Nationalismus wird sich gegen Moskau wenden. Notwendigerweise wird im gleichen Augenblick die kommunistische Bewegung mit der Einmischung des russischen Staates identifiziert und damit die nationale Bewegung einen ausgesprochen antikommunistischen Charakter bekommen. Hätten die Russen mit der Propagierung des Kommunismus in Asien noch 30 Jahre zugewartet, so stünden die asiatischen Völker vor sozialen Kämpfen. Heute erscheinen sie ihm als nicht mehr wahrscheinlich. Er fügte noch bei, je schneller die Kolonialmächte in Asien liquidiert werden, um so weniger wird man den Russen Anlass geben, sich in Asien festzusetzen. «Sagen Sie Ihren Freunden, den Holländern und den Franzosen, es sei höchste Zeit, dass sie sich aus Indonesien und Indo-China zurückziehen, sonst werden wir die Russen in denjenigen Gebieten Asiens haben, wo sie gar nichts zu suchen haben.» Für Indien sieht Pandit Nehru keine unmittelbare kommunistische Gefahr. Die religiösen Werte seien so anders gestaltet, dass der Kommunismus erst dann interessant wird, wenn auch die indischen Völker nur noch an materielle Sicherheit denken werden. Dies sei aber heute und auf absehbare Zeit nicht der Fall4.
Was nun den Freundschafts-, Niederlassungs- und Handelsvertrag mit Indien anbetrifft, so haben Sie in der Zwischenzeit erfahren, dass sowohl der Nationalrat wie der Ständerat diesen so gut wie einstimmig genehmigt haben5. Seit über sechs Monaten verhandeln Sie mit der indischen Regierung über die Ausdehnung dieses Vertrages auf das Fürstentum Liechtenstein. Ich habe dieser Sache eine Weile zugesehen, habe mich dann aber entschlossen, eine interne Konferenz einzuberufen, um meinen Mitarbeitern zu erklären, dass ich nicht einsehe, weshalb wir den Freundschaftspakt nun auch für Liechtenstein gültig erklären sollen. Er hat, wie Sie wissen, einen ganz besonderen Charakter, indem die indische Regierung uns diesen Freundschaftspakt anbot, um der Schweiz die Bewunderung und die Anerkennung für ihre traditionelle friedliebende Politik zu zollen. Weder wir noch Indien werden ein Interesse haben, diese Anerkennung einem Staate gegenüber auszusprechen, der in einer ganz anderen Lage als die Schweiz ist. Ich habe deshalb gewünscht, dass eine Lösung gesucht wird, wonach Art. 1 des Vertrages6 auf Liechtenstein keine Anwendung findet, musste aber feststellen, dass die Verhandlungen sowohl in Delhi als in Vaduz soweit gediehen sind, dass nichts anderes übrig bleibt als den Vertrag auf Liechtenstein auszudehnen. In diesem Fall lege ich aber Wert darauf, dass wenigstens zeitlich eine Distanz geschaffen wird, die den einmaligen Charakter des schweizerischen Vertrages unterstreicht. Ich wäre Ihnen also dankbar, wenn Sie die Verhandlungen in die Länge ziehen könnten. Eine Frist von einem Jahr würde mir genügen.
Was Pakistan anbetrifft, so teile ich durchaus Ihre Auffassung, dass kein Grund zur Eile vorliegt7. Obgleich Pakistan wirtschaftlich für die Schweiz interessant ist, ist heute in Karachi kaum etwas zu machen, weil der Zahlungsverkehr sich über London abwickelt. Um vermehrte Zuteilung von Devisen zu erhalten, werden wir nicht in Karachi, sondern in London intervenieren müssen8. Während meines Aufenthaltes in Paris hat sich die indische Delegation meiner stark angenommen, und ihr Interesse an der Schweiz sehr betont. Der Generalsekretär des Aussenministeriums, Bajpai, war ganz besonders liebenswürdig und hielt mit seinen Wünschen nicht zurück. Im Gegensatz hierzu hat sich die Delegation von Pakistan nicht einmal die Mühe genommen, mit mir oder Herrn Zutter den Kontakt aufzunehmen. Es blieb bei einer Begrüssung. Ich schliesse daraus, dass im Augenblick kein grosser Wert auf den Austausch von diplomatischen Missionen gelegt wird9. Sollten wir uns entschliessen, in Karachi etwas zu ändern, so würde ich vorziehen, von Anfang an eine Gesandtschaft zu errichten statt etappenweise vorzugehen, denn ich befürchte, dass jede Titeländerung, die wir vornehmen würden, von Seiten der Regierung von Pakistan im Sinne einer weniger entgegenkommenden Behandlung als die wir in Indien angedeihen lassen, ausgelegt würde. Einen Grund, die Herren in Karachi vor den Kopf zu stossen, haben wir aber bestimmt nicht10.
Was Ihre Reise nach Ceylon anbetrifft, so würden wir sie sehr begrüssen. Ich glaube, es ist richtig, eine längere Frist als ein Jahr verstreichen zu lassen, bevor Sie die Reise wiederholen, die Herr Ruegger anfangs 1948 nach Colombo gemacht hat11. Sonst würde dies Sie ja fast verpflichten, regelmässig einmal im Jahr dorthin zu reisen.
Was Burma anbetrifft, so teile ich Ihre Auffassung, dass unbedingt zugewartet werden muss, bevor Sie sich dahin begeben. Von hier aus werden wir nichts unternehmen, ohne von Ihnen eine Anregung erhalten zu haben.
Als dringlich erscheint mir Ihre baldige Reise nach Bangkok. Der siamesische Gesandte hat uns neuerdings gefragt, ob Sie bald Ihr Beglaubigungsschreiben in Siam überreichen werden. Ihre Anregung, nach Bangkok zu reisen im Zeitpunkt, in welchem der siamesische König selber dort eintreffen wird, scheint mir richtig zu sein12. Ich habe mich erkundigt, wann der siamesische König beabsichtigt, in sein Land zurückzukehren und erhielt zur Antwort, dass dies kaum vor Ende Sommer oder Herbst 1949 sein könnte13. Unter diesen Umständen würde ich es begrüssen, wenn Sie die Rückkehr des Königs nicht abwarten wollten. Haben Sie Ihre Beglaubigungspapiere oder soll ich deren Absendung veranlassen?
Ihr Postskriptum über die Unterredung mit Dr. Gunnar Jaring14 hat mich sehr interessiert, weil wir nach wie vor im Zweifel sind, ob und welche Vertretung wir in Abessinien errichten wollen. Das Experiment mit den Schweizer Ärzten und Hoteliers ist gescheitert, so dass heute die Schweizerkolonie dort wieder im Abnehmen begriffen ist. Wirtschaftlich läuft mit Abessinien praktisch nichts mit Ausnahme der Waffengeschäfte von Bührle15. Um endlich mal klar zu sehen, haben wir den Handelsattaché der Schweizerischen Gesandtschaft in Kairo gebeten, nach Addis Abeba zu reisen, sich die Verhältnisse an Ort und Stelle anzusehen und uns einen umfassenden Bericht über die Möglichkeiten, die Abessinien bietet, zu erstatten16. Bis dahin werden wir nichts machen. Auch Herr Wittlin sagte uns, dass ein Konsul in Addis Abeba ohnmächtig bleiben wird, weil die Entscheide ausschliesslich bei den abessinischen Ministern und nicht bei der Verwaltung liegen und jene nur mit Gesandtschaften zu verkehren pflegen.
[…]17
- 1
- Schreiben (Kopie): E 2802(-)1967/78/8. Paraphe: MD.↩
- 2
- Einleitende Bemerkungen zur persönlichen Situation A. Daenikers.↩
- 3
- A. Zehnder nahm als Beobachter an der Generalversammlung der UNO teil, vgl. DDS, Bd. 17, Dok. 99, dodis.ch/2707. Sein Aufenthalt in Paris dauerte vom 6. bis 16. Oktober.↩
- 4
- Zum Gespräch, das M. Petitpierre mit P. J. Nehru am 5. Mai 1949 anlässlich dessen Besuches in der Schweiz vom 3. bis 5. Mai 1949 führte, vgl. das Protokoll von A. Boissier vom 5. Mai 1949, E 2200.64(-)1971/68/3 (dodis.ch/4800). Zum Ablauf des Besuches von Nehru in der Schweiz vgl. das Schreiben von M. Petitpierre an A. Daeniker 13. Mai 1949, E 2001(E)1967/113/156 (dodis.ch/3860), und das Schreiben von A. Zehnder an A. Daeniker vom 10. Mai 1949, E 2802(-)1967/78/17: Allgemein sind wir alle beeindruckt von der starken Persönlichkeit Pandit Nehrus. Die Ausgeglichenheit seiner Persönlichkeit, in welcher sich mit seltener Harmonie Wissen und Erfahrung, Güte und Aktivität, Kontemplation und Dynamismus paaren, hinterlässt ein Gesamtbild des hohen Gastes, an welches wir noch oft mit Verehrung zurückdenken werden.↩
- 5
- Vgl. den Bundesbeschluss vom 22. Dezember 1948, BBl, 1948, Bd. 100, III, S. 1269.↩
- 6
- Vgl. AS, 1949, S. 431 ff., Art. 1: Zwischen der Schweiz und dem Dominion Indien wird ewiger Friede und unverbrüchliche Freundschaft bestehen.↩
- 7
- Vgl. das Schreiben von A. Daeniker an A. Zehnder vom 30. November 1948. Nicht abgedruckt.↩
- 8
- Vgl. die Notiz von A. Zehnder an J. de Rahm vom 14. Juni 1948, E 2802(-)1967/78/8: Am Samstag rief mich Herr Schaffner an, um mir mitzuteilen, dass er den Besuch des indischen Gesandten Herrn Desai hatte, der ihn bat, eine schweizerische Delegation nach London zu schicken, damit diese der indischen Delegation beistehe, die gegenwärtig in London mit der englischen Regierung über die Zuteilung von Devisen für den Handelsverkehr mit Ländern, die ausserhalb der Sterling-Ära stehen, verhandelt. Ich habe Herrn Schaffner geraten, dieses eigenartige Ansinnen abzulehnen. Die Schweiz darf und will sich nicht in Beziehungen einmischen, die das Verhältnis Englands zu seinen Dominions betreffen. Zu den Beziehungen der Schweiz zum Sterlinggebiet vgl. DDS, Bd. 17, Dok. 114, dodis.ch/3881.↩
- 9
- Zur Frage der Errichtung einer schweizerischen Gesandtschaft in Pakistan vgl. E 2001(E) -/1/25 und E 2200.64(-)1971/68/1.↩
- 10
- Vgl. die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Schaffung neuer Gesandtschaften in Indien und Siam (vom 2. Juni 1947), BBl, 1947, Bd. 99, II, 281 ff., und die nach der Teilung Indiens verfasste Ergänzung vom 2. September 1947, BBl, 1947, Bd. 99, III, S. 11–12. Vgl. dazu die Notiz von A. Huber vom 22. August 1947, E 2001(E)-/1/25 (dodis.ch/4504), Ergänzende Bemerkungen zu den Botschaften betreffend Errichtung von Gesandtschaften in Indien, Siam und Afghanistan.↩
- 11
- P. Ruegger besuchte Ceylon anlässlich seiner Reise nach Indien und Pakistan vom 16. Dezember 1947 bis 29. Januar 1948, auf der er die Errichtung schweizerischer Gesandtschaften prüfte und über den Freundschafts- und Niederlassungsvertrag mit Indien verhandelte, vgl. seinen Bericht vom 11. Februar 1948, E 2001(E)-/1/25.↩
- 12
- Vgl. das Schreiben von A. Daeniker an A. Zehnder vom 30. November 1948. Nicht abgedruckt.↩
- 13
- Der König von Siam, Bhumibol Adulyadej, kehrte am 24. März 1950 von seinem langjährigen Aufenthalt in der Schweiz nach Thailand zurück; vgl. E 2200.64(-)1971/68/1.↩
- 14
- Postskriptum zum Schreiben von A. Daeniker an A. Zehnder vom 30. November 1948. Nicht abgedruckt.↩
- 15
- Zu den schweizerischen Aktivitäten in Äthiopien vgl. E 2001(E)1968/83/56 und E 2200.39 (-)1971/34/5.↩
- 17
- Persönliche Bemerkungen von A. Zehnder.↩
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