Aussen-, Innen- und Wirtschaftspolitik der BRD nach den Neuwahlen.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 19, doc. 84
volume linkZürich/Locarno/Genève 2003
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#392* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 193 | |
Dossier title | Köln, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 18 (1954–1954) |
dodis.ch/9647 Der schweizerische Gesandte in Köln, A. Huber, an den Vorsteher des Politischen Departements, M. Petitpierre1 DIE BUNDESREPUBLIK AN DER JAHRESWENDE 1953/54
Westdeutschlands Konsolidierung machte 1953 auf allen Gebieten bedeutsame Fortschritte. Es gab keine Belastungsproben in der Art der Zahlungsbilanzkrise von 1951 oder der heftigen Verfassungs- und Parteikämpfe um den Wehrbeitrag. Die Neuwahlen brachten vielmehr der bisherigen Aussen-, Innen- und Wirtschaftspolitik eine plebiszitäre Bestätigung. Das Land, seit vier Jahren ohne Regierungskrise, kann einer weiteren Ära der Kontinuität entgegensehen. Der schwache Punkt ist, dass alles zu stark auf den Kanzler abgestellt ist. Obwohl die Frische und Arbeitskraft des 78-Jährigen ans Naturwunder grenzen, lastet doch das Problem seiner allfälligen Nachfolge als Hypothek auf der Zukunft.
Die Aufwärtsentwicklung der Bundesrepublik bewirkte eine beachtliche Hebung ihres internationalen Ansehens. Fast alle Staaten diesseits des eisernen Vorhangs stehen mit ihr in diplomatischen Beziehungen. Insbesondere arrondierten sich die Verhältnisse zu Südamerika, Afrika und Asien. Nach Abschluss des Wiedergutmachungsvertrags2 kam es sogar mit Israel zur Anbahnung von Beziehungen und trotz der Verstimmung, die darüber bei den arabischen Staaten entstand, konnten schliesslich mit fast allen reguläre Beziehungen aufgenommen werden.
Parallel mit dieser universellen Anerkennung der Bundesrepublik ging ihre Behandlung als gleichberechtigte Macht. Schon längst unternehmen die westlichen Grossmächte in Fragen, die deutsche Interessen tangieren, keinen Schritt, ohne Adenauer zu konsultieren und – meistens – nicht ohne seinen Rat zu befolgen. Virtuell gehört Adenauer bereits zum Konzert der Mächte. Zu dieser Geltung steht im Gegensatz, dass die im «Generalvertrag» vom 26. Mai 1952 vorgesehene Wiederherstellung der deutschen Souveränität noch nicht Rechtens wurde, weil in Frankreich die Ratifizierung des Vertrags über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft stagniert. Diese Diskrepanz zwischen der de jure und der de facto Lage wird von den Staaten, die reguläre Beziehungen unterhalten, mehr und mehr als Anomalie empfunden. Vor allem könnte dies im deutschen Volk Unzufriedenheit entfachen, auf die Adenauer mit Recht aufmerksam macht.
Ausser dieser – nur halbgelösten – Frage blieben noch zwei aussenpolitische Hauptpunkte ungelöst: Die Wiedervereinigung und die Sicherung des Landes durch das Bündnis mit dem Westen. Was Letzteres anbelangt, wurden deutscherseits die Vorbedingungen erfüllt: Der EVG-Vertrag ist von beiden Kammern ratifiziert. Die Frage ist nur noch wegen des französischen Widerstands in Schwebe.
So sehr die Europäische Verteidigungsgemeinschaft totgesagt wird, Adenauer hält an ihr unentwegt fest. Von den vielen Gründen, die ihn bewegen, sind drei entscheidend: a) Die Rücksicht auf die Sicherheit; Deutschland liegt nicht nur auf der Scheidelinie zwischen West und Ost, sondern auf einem der hauptsächlichsten strategischen Durchmarschwege. Bei dieser prekären militär-geographischen Lage wird die Neutralisierung, also der Verzicht auf das westliche Bündnis, für zu gefährlich gehalten. Eine unzulänglich bewaffnete Neutralität (mehr würden die Sowjets nicht konzedieren) und erst recht eine unbewaffnete Neutralität würde ein bedenkliches Vacuum schaffen; Deutschland liefe Gefahr, das Schicksal Prags zu erleiden. b) Adenauer hält an der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft fest, weil er keine andere Alternative zu ihr sieht. Weder der Beitritt zur NATO, noch ein deutsch-amerikanisches tête à tête könnten die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ersetzen, weil ohne Frankreich – ohne seine Häfen, Bahnen, Strassen und seine aktive Mitwirkung eine westliche Armee in Deutschland einfach in der Luft hängen würde. c) Adenauers dritter Beweggrund ist innenpolitischer Natur: Er hegt Misstrauen in die deutsche Generalität; von deutschen Divisionen, als Kontingent in die Europaarmee eingebaut, ohne eigenen Generalstab und Infrastruktur, hofft er, dass sie keinen verhängnisvollen Einfluss auf die Aussenpolitik gewinnen könnten.
Noch entfernter von der Verwirklichung ist die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands – trotz der bevorstehenden Konferenz!3 Was die hiesige Öffentlichkeit von ihr erwartet, ist nicht viel mehr als ein Hoffnungsschimmer! In amtlichen Kreisen herrscht Sorge, ja Unbehagen! Man warnt vor Optimismus, um einer gefährlichen Enttäuschung in der deutschen Bevölkerung vorzubeugen. Man glaubt an keinen Gesinnungswandel der Sowjets; bei scheinbarer Bereitschaft zu Gesprächen über die Wiedervereinigung Deutschlands denkt der Kreml nicht ernsthaft an eine Herausgabe der Ostzone4. Hauptziel der Russen bleibt die Verhinderung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft! Wohl werden sie viel von Wiedervereinigung sprechen, aber dafür untragbare Bedingungen aufstellen: 1. Neutralisierung; 2. Demilitarisierung (totale oder quasi totale); 3. Anerkennung der Oder-Neisse-Linie; 4. Ablehnung des Kernstücks des westlichen Wiedervereinigungsprogramms: «zuerst freie Wahlen, dann erst Bildung gesamtdeutscher Regierung». Kaum eine dieser Bedingungen liesse sich im deutschen Parlament durchsetzen. Das Fatale ist, dass der Westen für die Wiedervereinigung vorläufig keine anderen Gegenleistungen den Sowjets anzubieten hat. Die Zeitungen sprechen viel von einem Sicherheitspakt als Preis, doch dürfte dieser den Sowjets kaum genügen. Übrigens ist Bonn in diesem Punkt merkwürdig einsilbig. Man verweist, dass eine in die Europäische Verteidigungsgemeinschaft eingebaute deutsche Armee den Sowjets Sicherheit vor deutscher Aggression biete. Die weiteren Varianten (Locarnopakt und sogenannter van Zeeland-Plan) begegnen in Bonn grossen Vorbehalten5.
Prognosen über den Konferenzverlauf will man hier nicht stellen. Sie wären bloss Kombinationen, umso mehr als mit Sicherheit russische Schachzüge zu erwarten seien, die auf Verwirrung und Spaltung der deutschen und französischen Meinung ausgehen. Man glaubt, die Sowjets werden die Konferenz in die Länge ziehen wollen, weil, solange in Berlin debattiert wird, in Paris kein Schritt zur Verwirklichung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft – der bête noire der Russen – unternommen wird. Mit einem völligen Scheitern der Viererkonferenz wird nicht gerechnet. Die Russen könnten sich eventuell zu Teilkonzessionen – Lockerungen im Waren- und Personenverkehr – bequemen, um nicht durch ein Scheitern der Viererkonferenz die für sie wichtige Fünferkonferenz zu kompromittieren.
Die in den vergangenen Jahren realisierte innenpolitische Konsolidierung manifestierte sich deutlich in der Bundestagswahl. Der in absoluter Freiheit verlaufene Wahlakt brachte den Regierungsparteien 60 Prozent der Stimmen! Durch Aufnahme der Flüchtlingspartei in die Regierung und Neuwahlen in Hamburg erreichte Adenauer die für Verfassungsänderungen erforderliche Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat! Diese Mehrheitsverhältnisse versprechen nicht nur eine Kontinuität des Regierens, sondern eine weitere politisch-moralische Konsolidierung, denn die Wahl ist eine deutliche Absage an die antidemokratischen Kräfte. Der Zusammenbruch der Extremisten von rechts wie von links – es verblieben ihnen je 2 Prozent der Stimmen – ist das Erfreulichste an der Wahl.
Der Erfolg birgt aber auch Gefahren. Die Geringste ist, dass Adenauer mit dieser Mehrheit im Parlament frei schalten und walten würde. Dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen, dafür sorgt die Zweidrittel der Wählerschaft umfassende Koalition, die noch uneinheitlicher ist, als sie es schon war. Der innere Zusammenhalt ist schwächer geworden. Die innenpolitischen Spannungen sind nicht beseitigt, sie haben sich bloss verlagert: Während sie bisher auf der äusseren Front mit anderen Parteien ausgetragen wurden, findet das jetzt innerhalb der Regierungsparteien statt. Dies gilt besonders für die Christlich Demokratische Union, welche allein mehr als die Hälfte der Stimmen errang. In diesem Mammutgebilde liegen auch die Keime künftigen Zerfalls. Und noch eine Gefahr ist gewachsen: Nicht jedem ist es gegeben, ein so schwieriges Ross wie diese heterogene Koalition zu regieren. Das Problem der Nachfolge Adenauers stellt sich für die Zukunft noch schwieriger.
Mit dem Aufgehen rechtsgerichteter Splitter in den Regierungsparteien hat sich ein Rutsch nach rechts vollzogen. Doch ist dies keine Gefahr. Sollte die gegenwärtige Koalition auseinanderfallen, so wäre deswegen die Demokratie nicht in Gefahr, da dann die Sozialdemokratische Partei zur Regierung käme und diese ist gut demokratisch. Dadurch unterscheidet sich die Bundesrepublik vorteilhaft von anderen europäischen Staaten, dass der Regierung eine demokratische Opposition gegenübersteht, sodass eine Regierungskrise nicht gleich eine Krise der Demokratie heraufbeschwört.
Das Jahr brachte eine ganze Reihe von Gesetzen und Staatsverträgen, welche die Konsolidierung fördern. Dies gilt von der sogenannten «Kleinen Steuerreform» und ihren beachtlichen Steuersenkungen; sie soll 1954 durch die Grosse Steuerreform erweitert werden. Mit dem 1953 angelaufenen Lastenausgleichsgesetz und dem Bundesvertriebenengesetz wird die Eingliederung der Flüchtlinge wirksam gefördert und diesem Problem viel von seiner Schärfe genommen. Von grosser Tragweite für die Wiederherstellung des internationalen Kredits ist das Londoner Schuldenabkommen6, durch das Verzinsung und Rückzahlung von rund 2/3 der deutschen Auslandsschulden geregelt werden. Dem gleichen Ziel dient der Wiedergutmachungsvertrag mit Israel.
Die Wirtschaft stand wiederum im Zeichen grosser Prosperität. Der befürchtete Rückschlag trat nicht ein. Vielmehr vermochten sich Produktion und Absatz noch über den Stand des Vorjahres zu erheben und weisen neue Höchstzahlen auf. Allerdings ist mit einem weiteren Aufsteigen kaum zu rechnen. Die Exporte sind mit 18 Milliarden um 8 Prozent höher als im Vorjahr und ergeben einen Überschuss von 2,3 Milliarden gegenüber 700 Millionen in 1952. Diese sprunghafte Entwicklung sichert einerseits die Verwirklichung der übernommenen Finanzverpflichtungen und stellt weitere Lockerungen in Aussicht, andererseits wird – ähnlich wie bei uns – das Problem der Überschüsse in der EPU zu einer Hauptsorge. Die Zahl der Beschäftigten stieg auf 16 Millionen, die der Arbeitslosen sank im Oktober auf 900’000. Bei einer Bevölkerung von 49 Millionen bedeutet das praktisch Vollbeschäftigung. Ebenso wichtig ist, dass der Arbeitsfriede während des ganzen Jahres gewahrt blieb. Es waren keine Streiks von Belang zu verzeichnen.
Sehr bemerkenswert ist die Konsolidierung der Währung. Dank einem ausgeglichenen Staatsbudget, einer soliden Währungsreserve von 1685 Millionen Dollars (die dem Einfuhrwert von 4 1/2 Monaten entspricht) und den Überschüssen der Handelsbilanz wurde die Deutsche Mark zu einer der härtesten Währungen in Europa.
Das rasche Tempo der Aufwärtsentwicklung in Deutschland, besonders nach dem Tiefstand von 1945/46, hat das Selbstbewusstsein des Volkes enorm, bisweilen ungesund, gesteigert. Es ist unvermeidlich, dass diese psychische Situation auf die politischen Tagesfragen ausstrahlt und nicht immer glücklich! Die Regierung Adenauer verstand, auf diese Kräfte mässigend einzuwirken. Falls ihr vergönnt ist, die neue Legislatur zu Ende zu führen, so wäre nach einer achtjährigen Periode der Kontinuität und der wirtschaftlichen Stabilisierung für die moralische Konsolidierung des deutschen Volkes viel gewonnen. Es hätte zumindest wieder einigermassen festen Boden unter den Füssen.
- 1
- E 2300(-)-/9001/193.↩
- 2
- Der Vertrag wurde am 10. September 1952 abgeschlossen.↩
- 3
- Es handelt sich um die Berliner Konferenz der vier Aussenminister Grossbritanniens, Frankreichs, der USA und der UdSSR vom 25. Januar bis 18. Februar 1954. Die Konferenz brachte in der Deutschland-Frage keine Ergebnisse.↩
- 4
- Zur Stalin-Note vom März 1952 vgl. den politischen Bericht Nr. 14 von C. Gorgé an M. Petitpierre vom 17. April 1952, E 2300(-)-/-/286 (dodis.ch/7719). Zum Arbeiteraufstand in Ostberlin und Ostdeutschland vom Juni 1953 vgl. den politischen Brief Nr. 19 von A. Huber an M. Petitpierre vom 1. Juli 1953, E 2300(-)-/-/193 (dodis.ch/10333).↩
- 5
- W. S. Churchill schlug in seiner Rede am 11. Mai 1953 im britischen Unterhaus eine Gipfelkonferenz zur Deutschland-Frage vor und brachte eine Lösung im Sinne eines neuen Locarno-Vertrags ein.↩
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