▼▶Aufbewahrungsort
Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
Signatur | CH-BAR#E2010A#2001/161#2555* | |
Dossiertitel | Iran-Amerika, Band 3 (1991–1992) | |
Aktenzeichen Archiv | B.22.52(Am) • Zusatzkomponente: Iran |
dodis.ch/58409
Gespräch von EDA-Staatssekretär Jacobi mit dem UN-Assistant Secretary General Picco1
Grand Nettoyage:2 Gespräch J[acobi] mit Picco in New York, 13.12.1991
Während seines Aufenthaltes in New York erhielt J[acobi] von Picco Präzisierungen über die Geiselbefreiung, die nachfolgend wiedergegeben sind. Sie scheinen uns nicht nur hinsichtlich der konkreten Punkte sondern auch bezüglich des Vorgehens und der Methode von Interesse.
1. Picco betont einleitend, dass die Geiselfrage mit der Befreiung der amerikanischen und britischen Geiseln noch nicht gelöst sei und dass noch beträchtliche Schwierigkeiten bis zu einer endgültigen Lösung überwunden werden müssen. Offen bleiben nach wie vor
– die Befreiung der beiden deutschen Geiseln3
– die Rückführung der verschiedenen Leichen und natürlich
– die Frage «Ron Arad»,4 von deren Lösung die Freilassung der libanesischen Gefangenen und Geiseln (Obeid)5 durch Israel abhängt.
2. Im Nachgang zum kürzlichen Gespräch zwischen Vaezi und Genscher hat letzterer Picco gebeten, sich für die Freilassung der beiden deutschen Geiseln in gleichem Sinne zu verwenden, wie er dies für die Briten und Amerikaner getan habe. Damit wurde Picco beauftragt, direkt mit der Familie Hamadi zusammenzukommen. Genscher habe zwar kein «Lösegeld» versprochen, jedoch die Zusage gemacht, dass er zu akzeptieren bereit sei, «was im Kontext der deutschen Gesetzgebung möglich sei». Im Gegensatz zu Genscher vertrete Bundeskanzler Kohl eine härtere Haltung und lasse keine Konzessionsbereitschaft erkennen.
3. Picco erachtet die Befreiung der Deutschen als ausserordentlich schwierig und glaubt nicht daran, diese ohne Druckmittel erreichen zu können. Er vertritt die Auffassung, man müsse dem Libanon klarmachen, dass das kriegsversehrte Land keine Wiederaufbauhilfe erwarten könne, solange die beiden Deutschen nicht befreit seien. Die Botschaft, die er der Familie überbringen wird, lautet: «Ihr habt ein ganzes Land als Geisel genommen».
3. Picco ist nach den erfolgten Befreiungen einem wachsenden und «äusserst unangenehmen Druck» Israels ausgesetzt, welches nun seinerseits von den UNO-Aktivitäten profitieren und die eigenen Leute, tot oder lebendig, zurückerhalten möchte. Picco teilt die Auffassung J[acobi]s, dass Ron Arad in den Händen von Leuten sein könnte, die sich der Kontrolle Rafsanjanis entziehen und welche wahrscheinlich unter dem Einfluss Mochtashemis stehen. Eindeutige Beweise dafür fehlen jedoch und damit auch ein Zugang zu den Schlüsselfiguren. Nach seinen eigenen Aussagen hat Picco kein Lebenszeichen von Ron Arad; mit J[acobi] geht er einig, dass ein solches der Schlüssel zu weiteren Fortschritten wäre.
4. Interessant sind Piccos Ausführungen über die erfolgten Befreiungen:
– Grundlage für die Lösung bildeten inneriranische Kämpfe, über welche man nur Vermutungen anstellen könne, die jedoch in ihrer Konsequenz dazu führten, dass Bewegung in die iranische Aussenpolitik kam. Die UNO machte den Iranern deutlich, dass die angestrebte internationale Salonfähigkeit nur durch die Freilassung der westlichen Geiseln zu erreichen sei.
– Obwohl Picco selber die Geiselnehmer verschiedentlich persönlich getroffen hatte, erfolgten die eigentlichen Verhandlungen über die Befreiung der westlichen Geiseln offensichtlich mit dem Iran.
– Am ersten Oktober war zwischen Iran und der UNO der Plan zur Freilassung der Geiseln perfekt, die Reihenfolge und die Daten der Freilassung festgesetzt. Eine eigentliche Gegenleistung der UNO erfolgte laut Picco nicht, doch erhielt der Iran durch den kürzlich veröffentlichten, auf UNO-Resolution 5986 basierenden, Bericht des Generalsekretärs,7 welcher die Kriegsschuld dem Irak zuweist, Genugtuung. Mit dem Entscheid über die Kriegsschuld sind ja bekanntlich zahlreiche für den Iran wichtige Fragen in seinem Sinne entschieden (Grenzen, Reparationen).8
– Der Einbezug Israels in die Befreiungsoperation wäre folglich nicht nötig gewesen, doch entschloss sich die UNO dazu, um die Lösung der Geiselfrage – als eine Art vertrauensbildende Massnahme – in einen grösseren Rahmen zu stellen. Die ausgehandelten Freilassungen aus Khiam9 wurden anschliessend so organisiert, dass sie von den Geiselnehmern als Gegenleistung interpretiert werden konnten.
– Seit der Freilassung der westlichen Geiseln ist ein weiteres Vorankommen bis zur definitiven Lösung offenbar schwierig geworden. Gegenwärtig scheint Picco primär damit beschäftigt, die Leichen der verschiedenen Seiten «einzusammeln» und treuhänderisch zu «lagern». Zwei israelische Kadaver sind bereits eingetroffen, die Leichen von Buckley und Higgins sollten am Tage unseres Gesprächs eintreffen...
5. Zwei Grundideen liegen dem Verhandlungsprozess der UNO zugrunde:
1. Taktisch: Zuerst wurden die verschiedenen Problemkreise (westliche Geiseln, Scheich Obeid/Befreiung aller in Khiam inhaftierten, Ron Arad, Leichen) getrennt und erst anschliessend die einzelnen Lösungsschritte wieder zusammengesetzt und möglichst optimal kombiniert.
2. Inhaltlich: Dies alles sollte die Erkenntnis fördern «que c'est la négociation qui paie», was wiederum die Deradikalisierung des Libanons beschleunigen und den Verhandlungsprozess in der Region ganz allgemein unterstützen sollte.
6. Hinsichtlich des Vorgehens der UNO sind folgende Elemente bemerkenswert:
1. Die UNO hat mit einer verantwortlichen Person verhandelt, welche den Zugang zu allen Seiten suchte und nicht mit einem Netz von Gesprächspartnern wie die Schweiz.
2. Die UNO hat zwar wie die Schweiz mit den betroffenen Regierungen verhandelt, sie hat sich aber nicht darauf beschränkt sondern auch Direktkontakte zu den Geiselnehmern gesucht.
3. Die UNO blieb nicht Übermittler von Standpunkten und Positionen, sie hatte
a) ein politisches Ziel (Deradikalisierung des Libanons, Förderung der Idee, dass sich Verhandlungen für alle Seiten auszahlen können) und
b) ein strategisches Konzept (Trennung der verschiedenen Problembereiche und anschliessende Neukombination der Lösungen), wie die Befreiung organisiert werden sollte.
4. Die UNO blieb in dem Sinne nicht ein neutraler Aussenstehender sondern beteiligte sich am Verhandlungsprozess durch eigene Leistungen (Bericht zu Resolution 598)
5. Einwände, die man aufgrund dieser Feststellungen gegenüber dem schweizerischen Vorgehen haben mag, ändern nichts an der Tatsache, dass
a) die UNO bessere internationale Rahmenbedingungen für ihre Bemühungen vorfand
b) die UNO als Vermittler Gegenleistungen offerieren konnte (Bericht zu Resolution 598)
c) sich mindestens indirekt auf die Vorarbeiten der Schweiz, die auf allen Seiten zu einer Klärung von Ansprüchen geführt haben, stützen konnte.
- 1
- CH-BAR#E2010A#2001/161#2555* (B.22.52(Am)). Diese Notiz über das Gespräch mit dem Assistant Secretary General for Political Affairs der UNO, Giandomenico Picco, wurde von Peter Maurer, dem diplomatischen Sekretär des Direktors der Politischen Direktion des EDA, Staatssekretär Klaus Jacobi, verfasst und unterzeichnet. Kopien gingen an den Vorsteher des EDA, Bundesrat René Felber, an Staatssekretär Jacobi, EDA-Generalsekretär Rudolf Schaller, den Chef der Politischen Abteilung II des EDA, Botschafter Pierre-Yves Simonin, an dessen Mitarbeiter François Chappuis und Christian Fotsch sowie an Georges Martin, Sekretär des Departementschefs. Kopien gingen ebenfalls an die schweizerischen Botschaften in Washington, Tel Aviv und Teheran.↩
- 2
- Mit dem Begriff «Grand Nettoyage» wurde eine von der Schweizer Diplomatie mittels diskreten Verhandlungen angestrebte Aktion zur gegenseitigen Befreiung von Geiseln und Gefangenen insbesondere im Kontext des Libanonkonflikts bezeichnet. Zu diesem Zweck wurden seit April 1990 regelmässig vertrauliche Kontakte mit den Regierungen in Teheran, Washington, Jerusalem und auch Damaskus gepflegt. Dabei wurden die Standpunkte und Angebote der anderen Konfliktparteien übermittelt und versucht, durch eine graduelle Annäherung auf eine Gesamtlösung hinzuarbeiten. Die Schweiz erhielt dafür kein offizielles Mandat, ihre Vermittlungstätigkeit wurde jedoch sehr geschätzt. Auch andere Akteuere engagierten sich in dieser Sache, insbesondere die UNO, welcher es schliesslich im Herbst 1991 gelang, einen relativ weitgreifenden Austausch auszuhandeln. Doch auch in dessen Folge wurden weiterhin zahlreiche westliche und andere Geiseln sowie Kriegsgefangene zurückgehalten. Vgl. dazu DDS 1991, Dok. 33, dodis.ch/58395 sowie die thematische Zusammenstellung Operation «Grand Nettoyage» (1990–1991), dodis.ch/T1956.↩
- 3
- Heinrich Strübig und Thomas Kemptner.↩
- 4
- Ron Arad war ein israelischer Militärpilot, der am 16. Oktober 1986 bei einem Einsatz gegen Stellungen der PLO im Südlibanon abgestürzt war. Er galt seither als verschollen. Für Einschätzungen zu dieser Frage durch die Schweizer Diplomatie vgl. dodis.ch/54806 und dodis.ch/60373.↩
- 5
- Der schiitische Geistliche und spirituelle Anführer der Militärbewegung «Islamischer Amal», Scheich Abdel Karim Obeid, wurde am 28. Juli 1989 von einem israelischen Kommando gefangengenommen. Er wurde im Januar 2004 freigelassen.↩
- 6
- Resolution Nr. 598 des Sicherheitsrats der UNO vom 20. Juli 1987, UN doc. S/RES/598(1987).↩
- 7
- Für den Bericht des UNO-Generalsekretärs, Javier Pérez de Cuéllar, vgl. Further report of the Secretary-General on the implementation of Security Council resolution 598 (1987) vom 9. Dezember 1991, UN doc. S/23273.↩
- 8
- Vgl. dazu ferner die thematische Zusammenstellung Iran–Irak-Krieg (1980–1988), dodis.ch/T2053.↩
- 9
- Khiam war ein von der südlibanesischen Armee kontrolliertes Gefängnis, in welchem hauptsächlich libanesische Gefangene festgehalten wurden, die sich an Aktionen gegen Israel beteiligt hatten.↩
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Operation «Grand Nettoyage» (1990–1991)
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