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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1991, doc. 32
volume linkBern 2022
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2200.174#2000/160#38* | |
Dossier title | Tibet (1989–1992) | |
File reference archive | 350 |
dodis.ch/55589Notiz der Politischen Abteilung II des EDA1
Empfang des Dalai Lama durch den Departementschef
1. Der Dalai Lama besucht die Schweiz, wo sich, abgesehen von Indien und Nepal, die grösste Tibeter-Kolonie bildete, regelmässig.
2. Dem regelmässig ausgesprochenen Wunsch des Dalai Lamas, von einem Vertreter des Bundesrates empfangen zu werden, ist bisher nie entsprochen worden.2 Erstmals kam es am 7. Juni 1990 zu einem Kontakt zwischen dem Dalai Lama und einem offiziellen Vertreter der Schweiz. Damals traf der Botschafter Jean-Pierre Keusch, Direktor der Direktion für Internationale Organisationen im Klösterlichen Tibetinstitut von Rikon (ZH) den Dalai Lama zu einem Gespräch.3
3. Dieser Anlass bildete Gegenstand einer Pressemitteilung4 unseres Departementes, worin unterstrichen wird, dass dieser Kontakt keine Änderung der bisherigen Haltung der Schweiz in der Tibetfrage bedeutet. Danach betrachtet die Schweiz, in Übereinstimmung mit der internationalen Gemeinschaft, Tibet als Bestandteil der Volksrepublik China, spricht sich aber dafür aus, dass die tibetanische Minderheit in der Volksrepublik China ihre eigene Identität finden, ihre jahrhundertealte Kultur beibehalten sowie ihre Religion frei ausüben kann.
4. Es ist hier zu unterstreichen, dass auch der Empfang des Dalai Lamas durch ein Mitglied des Bundesrates keine Änderung in der schweizerischen Beurteilung des völkerrechtlichen Status des Tibet bedeutet. Dagegen bedeutet er eine Änderung hinsichtlich der Beurteilung der politischen Opportunität eines Empfanges des Dalai Lamas auf Regierungsebene. Standen bei der Weigerung des Bundesrates Rücksichtnahmen auf chinesische Empfindlichkeiten und damit die Gestaltung der bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und China5 im Vordergrund, so rechtfertigt sich heute eine andere Gewichtung der Kriterien, die für einen Empfang des Dalai Lamas sprechen. Zu erwähnen sind:
a) Unbefriedigende Entwicklung der Menschenrechtslage seit den Tienanmen-Ereignissen vom 4. Juni 1989, Ereignisse, die hoffnungsvolle Ansätze zu einer liberaleren chinesischen Gesellschaft zum Stillstand gebracht haben.6 Der Dalai Lama, der sich hinsichtlich der Tibet-Frage durch eine gemässigte Haltung auszeichnet, verdient mit seinen Forderungen nach Beachtung der Menschenrechte (inklusive Minoritätenschutz) eine offizielle Solidarisierung durch die schweizerischen Behörden. Dies scheint umso mehr gerechtfertigt, als die Schweiz Initiantin, Gastgeberin und Koordinatorin des KSZE Expertentreffens über nationale Minderheiten (Genf 1.–19.7.1991)7 war.
b) Faktische Aufwertung des internationalen Status’ und Ansehens des Dalai Lamas durch die Verleihung des Friedensnobelpreises (1989).8
c) Rücksichtnahme auf einen gewichtigen Teil der schweizerischen öffentlichen Meinung. Diese findet ihren Ausdruck einmal darin, dass die Schweiz, abgesehen von Indien und Nepal, der grössten Anzahl von tibetanischen Flüchtlingen Aufnahme gewährt hat, wobei sich diese Aufnahme wesentlich durch private Aktionen und grosszügige private Spenden vollzogen hat. Die breite Unterstützung und Sympathien, die der Dalai Lama in unserem Land geniesst, fanden ihren Ausdruck auch in einer Petition, die am 10. Juni 1991 mit über 10 000 Unterschriften eingereicht wurde (darunter über 100 National- und 10 Ständeräte).9 Darin wird der Bundesrat zu einem offiziellen Empfang des Dalai Lamas aufgefordert.
Schliesslich darf auch erwähnt werden, dass der Dalai Lama nach der Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis u. a. vom tschechischen Präsidenten Havel, vom deutschen Bundespräsidenten von Weizsäcker und am 16. April 1991 vom amerikanischen Präsidenten Bush offiziell empfangen worden ist (was den Gewinn an internationaler Respektabilität unterstreicht).
Der Dalai Lama ist das Symbol für die nationale Legitimität und Einheit der Tibeter. Obwohl der Dalai Lama die Priorität seiner geistlichen Mission unterstreicht, spielt er unzweifelhaft auch eine politische Rolle. Es ist in diesem Zusammenhang zu unterstreichen, dass er sich für gewaltfreie Methoden zur Erreichung der politischen Ziele einsetzt. Diese umschrieb er anlässlich einer Rede vor dem amerikanischen Kongress (21. September 1987) in einem 5-Punkte-Plan wie folgt:
– Umwandlung Tibets in eine Friedenszone
– Ende der Politik Pekings, Chinesen auf dem Gebiete Tibets anzusiedeln
– Gewährung des Selbstbestimmungsrechts für das Volk Tibets
– Schutz der natürlichen Umwelt Tibets und Beendigung des chinesischen Nuklearprogramms in Tibet
– Aufnahme von Verhandlungen über den zukünftigen Status von Tibet
Da über den Ausgang eines Referendums betreffend das Selbstbestimmungsrecht kaum Zweifel bestehen, überrascht es nicht, dass China es ablehnte, Verhandlungen über diesen Plan aufzunehmen.
Anlässlich einer Rede vom 15. Juni 1988 vor dem Europäischen Parlament in Strassburg verzichtete er implizit auf eine formelle Unabhängigkeit Tibets und schlug als Verhandlungsbasis eine Assoziation zwischen China und Tibet vor. Dabei würde China die Führung der Aussenpolitik Tibets vorbehalten, nicht-politische Bereiche seiner Aussenbeziehungen, Religion, Handel, Erziehung, Kultur, Tourismus, Wissenschaft und Sport würden Lhasa vorbehalten. China könnte auch eine beschränkte Anzahl militärischer Installationen auf dem Gebiete Tibets behalten, bis eine internationale Konferenz Tibet zu einer neutralen Zone erklärt hätte. Tibet seinerseits würde auf einen UNO-Beitritt verzichten.
Obwohl diese Vorschläge schliesslich nicht zu einem fundamental andern Status führen würden als zu demjenigen, der China ab 1997 Hong Kong gewähren wird, hat die Volksrepublik diese Vorschläge abgelehnt.
a) Zulassung eines «Tibet-Office»: Ursprünglich, d. h. 1964, war ein Büro in Genf eröffnet worden.10 Später wurde es nach Zürich transferiert, weil der Grossteil der tibetanischen Flüchtlinge sich in dieser Region ansiedelte. Gegen die Eröffnung erhob unser Departement keine Einwände, stellte aber klar, dass «des agissements politiques quelconques ne sauraient être tolérés en aucun cas par les autorités fédérales».11 Im April 1991 orientierte uns der Vertreter des «Tibet-Office»12 über die Absicht, in Genf eine zweite Zweigstelle zu eröffnen mit der Bezeichnung «Tibet Bureau for United Nations Affairs».13 Da die beabsichtigte Namensgebung geeignet war, den Eindruck zu erwecken, es handle sich um eine offizielle Vertretung eines Staates und da gemäss Richtlinien der UNO die Bezeichnung «United Nations» nur dann zulässig ist, wenn das Büro einen Konsultativstatus erhalten hat, setzte sich das Departement mit Erfolg dafür ein, dass von der Verwendung dieses Namens abgesehen wird, erhob dagegen keinen Einspruch gegen die Eröffnung einer Zweigstelle in Genf. Die 1964 gemachten politischen Einschränkungen gelten weiterhin.14
b) Gesuch um Arbeitsgenehmigungen von 3–5 Jahren für 2 zusätzliche tibetische Mitarbeiter aus Indien für das Tibet-Büro in Zürich: BIGA kann diesem Gesuch nicht zustimmen, da Ausnahmebewilligungen zulasten des Bundeskontingents nur für internationale Organisationen möglich sind. Das Gesuch muss deshalb beim zuständigen Kanton gestellt werden.15
c) Gesuch, dass in der Schweiz aufgewachsene tibetische Fachkräfte mit Flüchtlingsstatus für längere Zeit (3–5 Jahre) in Indien arbeiten dürfen, ohne dass sie des Flüchtlingsstatus verlustig gehen: Das Bundesamt für Flüchtlingswesen drückte seine Bereitschaft aus, entsprechende Gesuche wohlwollend zu prüfen (Hält sich ein Flüchtling länger als 3 Jahre im Ausland auf, verliert er den Flüchtlingsstatus; Frist kann jedoch verlängert werden).16
d) Aufnahme von tibetischen Flüchtlingen: Am 21. Mai 1991 erhielten 18 politisch und religiös gefährdete Tibeter Asyl in der Schweiz gestützt auf Art. 16b AsylG (Aufnahme ohne weitere Abklärungen).17
a) Wie beurteilt er die Entwicklungen in China allgemein und in Tibet speziell im Gefolge der Tienanmen-Ereignisse vom Juni 1989? Wie stellt sich heute die Lage der Menschenrechte dar?
b) Wie beurteilt er die Aussichten zu einer Wiederaufnahme des Dialogs mit Vertretern Pekings, der 1982 unterbrochen worden ist?
c) Kann der Dalai Lama bestätigen, dass er in seinem sog. «Programm von Strassburg» implizit von seiner früher geltend gemachten Forderung nach Unabhängigkeit des Tibet abrückte und heute eine weniger weit gehende Autonomie fordert? Würde dieses autonome Tibet auch diejenigen Gebiete umfassen, die früher vom Tibet abgetrennt und den Provinzen Yunnan und Sechuan18 zugeschlagen worden sind?
- 1
- CH-BAR#E2200.174#2000/160#38* (350). Diese Informationsnotiz wurde von Christian Hauswirth von der Politischen Abteilung II des EDA verfasst. Diese Kopie ging an die schweizerische Botschaft in Beijing. Im einschlägigen Dossier CH-BAR#E2010A#2001/161#4874* (B.41.21.0) sind vereinzelte vorbereitende Unterlagen zum Besuch des Dalai Lama am 19. August 1991 in Bern abgelegt, allerdings sind keine zu finden, welche auf das Treffen selbst oder den Inhalt des Gesprächs zwischen dem Dalai Lama und dem Vorsteher des EDA, Bundesrat René Felber, Bezug nehmen. Es fehlen zudem diverse Dokumente, welche gemäss dem auf den aufgefundenen Kopien vermerkten Aktenzeichen B.41.21.0 sich bei normalem Verwaltungsgang darin als sog. Dossierkopien befinden müssten. So fehlt in dem Dossier auch das Original des vorliegenden edierten Dokuments.↩
- 2
- Vgl. dazu DDS 1990, Dok. 22, dodis.ch/55586 sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C1815.↩
- 3
- Vgl. dazu dodis.ch/55584.↩
- 4
- Vgl. die Pressemitteilung des EDA vom 7. Juni 1990, dodis.ch/60329.↩
- 5
- Zum Stand der bilateralen Beziehungen mit China vgl. DDS 1991, Dok. 21, dodis.ch/57590, bes. Punkt 5.↩
- 6
- Zur Rezeption der Tian’anmen-Ereignisse und den Implikationen für das EDA vgl. die thematische Zusammenstellung dodis.ch/T1714. Zu den Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen vgl. bes. dodis.ch/57006.↩
- 7
- Vgl. dazu DDS 1991, Dok. 50, dodis.ch/58114 sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C1875.↩
- 8
- Vgl. dazu dodis.ch/55579.↩
- 9
- Vgl. dodis.ch/60307.↩
- 10
- Vgl. dazu DDS, Bd. 23, Dok. 5, dodis.ch/30916.↩
- 11
- Vgl. das Schreiben des stv. Chefs der Politischen Abteilung des EPD, Antonino Janner, an den Rechtsanwalt Jean-Flavien Lalive vom 13. Februar 1964, dodis.ch/60325. Das Tibet Office in Genf nahm am 12. Oktober 1964 seinen Betrieb auf und wurde am 1. Mai 1971 nach Rikon transferiert. Vgl. dazu die Notiz der Anwaltskanzlei Lalive & Budin vom März 1974 im Dossier CH-BAR#E2001E-01#1987/78#5208* (B.41.21.0).↩
- 13
- Vgl. dazu dodis.ch/60309.↩
- 14
- Vgl. dazu dodis.ch/60310 und dodis.ch/60311.↩
- 15
- Vgl. dazu dodis.ch/60308.↩
- 16
- Vgl. dazu die Notiz von Urs Bettschart vom Bundesamt für Flüchtlinge des EJPD an die Politische Abteilung II des EDA vom 22. Mai 1991, im Dossier CH-BAR#E2010A#2001/161#4874* (B.41.21.0).↩
- 17
- Die positiven Asylentscheide wurden nicht am 21. Mai, sondern am 21. Juni 1991 mitgeteilt. Vgl. dazu das Dossier CH-BAR#E2010A#2001/161#4874* (B.41.21.0). Vgl. ferner das BR-Prot. Nr. 172 vom 30. Januar 1991, dodis.ch/60312.↩
- 18
- Handschriftliche Ergänzungen, höchstwahrscheinlich vom schweizerischen Botschafter in Beijing, Erwin Schurtenberger: Qinghai, Gansu...↩