Bern 2021
more… |Archive | Swiss Federal Archives, Bern |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#1999/250#1085* |
Dossier title | Allgemeines, vol. 2 (1990–1990) |
File reference archive | B.51.10 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern |
Archival classification | CH-BAR#E2024B#2001/146#241* |
Dossier title | Irak (1990–1990) |
File reference archive | a.161.9 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#1999/250#4541* |
Dossier title | Irak, vol. 1 (1988–1990) |
File reference archive | C.23.20 • Additional component: Irak |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#1999/250#174* |
Dossier title | Ständerat, vol. 2 (1990–1990) |
File reference archive | A.12.13.41 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#1999/250#175* |
Dossier title | Nationalrat (1988–1990) |
File reference archive | A.12.13.42 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern |
Archival classification | CH-BAR#E2200.88-04#2002/89#39* |
Dossier title | Kuwaitkrise, Allgemeines (1990–1990) |
File reference archive | 361.0 • Additional component: Irak |
Im Hinblick auf die randerwähnte Sitzung erlauben wir uns, Ihnen eine neutralitätsrechtliche und -politische Beurteilung der Wirtschaftsmassnahmen gegenüber dem Irak und Kuwait3 zukommen zu lassen:
1. Der instrumentale Charakter der schweizerischen Neutralität
Eine nähere Analyse der schweizerischen Geschichte und der Bundesverfassung macht deutlich, dass die Neutralität einen bloss instrumentalen Charakter hat. Die Neutralität ist nicht ein Ziel unserer Aussenpolitik an sich, sondern eines unter mehreren Mitteln zur Verwirklichung unserer aussenpolitischen Zielsetzungen. Daher kann die Neutralitätspolitik der Schweiz nicht losgelöst von den internationalen Gegebenheiten einmal definiert werden und dann immerwährend gelten. Vielmehr muss die Neutralitätspolitik an die sich ändernden internationalen Beziehungen angepasst werden. Neutralitätspolitik ist Interessenpolitik. Als blosses Mittel zum Zweck muss die Neutralität – wie alles politische Handeln – in einer sich wandelnden Welt stets auf ihre Zweckmässigkeit hin überprüft und flexibel an neue Notwendigkeiten angepasst werden.4 Diese Aufgabe war dem Bundesrat auch bei der Frage der Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen den Irak gestellt.
2. Neutralitätsrechtliche Beurteilung der Wirtschaftsmassnahmen
Das Neutralitätsrecht auferlegt dem Neutralen in erster Linie nur militärische Rechtspflichten. Der Neutrale darf an einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen anderen Staaten nicht teilnehmen; er darf den Kriegführenden keine Waffen und keine Munition liefern und ihnen keine finanzielle Unterstützung zur direkten Verwendung für die Kriegführung gewähren. Im Übrigen kennt das Neutralitätsrecht aber keine wirtschaftlichen Neutralitätspflichten.5 Insbesondere trifft den Neutralen keinerlei Pflicht, die Wirtschaftsbeziehungen mit einer Konfliktpartei aufrechtzuhalten. Während daher die Teilnahme an militärischen Sanktionen mit der Neutralität zum vornherein nicht vereinbart werden kann, ist es grundsätzlich durchaus zulässig, dass ein neutraler Staat Wirtschaftsmassnahmen ergreift. Ob er dies tun will, ist in erster Linie Sache seiner Neutralitätspolitik; diese kann er nach freiem Ermessen gestalten. Der dauernd neutrale Staat muss dabei lediglich alles unterlassen, was ihn in einen Krieg hineinziehen könnte.
3. Neutralitätspolitische Beurteilung der Wirtschaftsmassnahmen
Der Fall der Invasion Kuwaits durch den Irak und der daran anschliessenden Verhängung von Wirtschaftssanktionen durch andere Staaten unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht grundlegend von anderen Situationen,6 in denen für die Schweiz die Verhängung von Sanktionen in Frage stand:
Die Verhängung von Wirtschaftsmassnahmen gegen den Irak liegt aus folgenden Gründen im aussenpolitischen Interesse der Schweiz:
Weil die Neutralität ein Instrument zur Wahrung unserer nationalen Interessen ist, musste der Bundesrat diese aussenpolitischen Interessen berücksichtigen und seinen neutralitätspolitischen Handlungs-Spielraum ausschöpfen. Seine Aufgabe wird es nunmehr sein, von Zeit zu Zeit die Zweckmässigkeit und neutralitätspolitische Opportunität der verhängten Wirtschaftsmassnahmen zu überprüfen und bei Bedarf ihre allfällige Aufhebung zu erwägen.
4. Echo im Ausland und in den Massenmedien
Der Entscheid des Bundesrates zur Verhängung von Wirtschaftsmassnahmen gegen den Irak wurde von den schweizerischen Massenmedien durchwegs äusserst positiv aufgenommen. Soweit unsere Botschaften im Ausland dies in Erfahrung bringen konnten, wurde der Entscheid des Bundesrates insbesondere in Westeuropa begrüsst.8 Lediglich der Irak sah in der schweizerischen Haltung eine Verletzung der dauernden Neutralität.9
Zum Teil wurde der Schritt des Bundesrates in der Schweizer Presse als «völliger Kurswechsel», als «Schlachten einer heiligen Kuh», als «Aufgabe eines geliebten Dogmas» bezeichnet und entsprechend kommentiert. Diese Wertung entspricht den tatsächlichen Gegebenheiten nicht. Der bundesrätliche Entscheid ist Ausdruck einer kontinuierlichen Neutralitätspolitik.
5. Kontinuität der Neutralitätspolitik
Historisch gesehen hat die Schweiz, insbesondere im 19. Jahrhundert und während der Völkerbundszeit, eine sehr flexible, weitmaschige und aktive Neutralitätspolitik geführt. Erst kurz vor und während des Zweiten Weltkrieges wurde unsere Neutralität – unter dem Druck der äusseren Ereignisse und aus der Igelstellung der Schweiz heraus – sehr strikt und eng gehandhabt. Nach 1945 setzte aber, namentlich unter den Aussenministern Petitpierre und Wahlen, ein steter Prozess der Auflockerung und Erweiterung der schweizerischen Neutralitätspolitik ein (Disponibilität und Solidarität, Mitgliedschaft in «politischen» internationalen Organisationen, wie etwa dem Europarat). Parallel zur immer intensiveren internationalen Zusammenarbeit verstärkte sich auch in der schweizerischen Neutralitätspolitik der Zug zur aktiven Kooperation und Mitwirkung innerhalb der Staatengemeinschaft. Das Ergreifen von Wirtschaftsmassnahmen gegen den Irak ist ein weiterer Schritt in dieser konsequent geführten Politik der Öffnung und Mitwirkung bei einer umfassenden internationalen Kooperation.
Der Bundesrat hat bereits bei verschiedenen Gelegenheiten verdeutlicht, dass die Schweiz allenfalls an Wirtschaftssanktionen mitwirken könnte. Insbesondere hat er dies in der Botschaft über den Beitritt der Schweiz zur Organisation der Vereinten Nationen (UNO) vom 21. Dezember 1981 (BBl 1982 I 497, 546 ff.)10 angekündigt und die Bedingungen für die Mitwirkung der Schweiz an derartigen Sanktionen umschrieben.
Mithin handelt es sich bei der vom Bundesrat ergriffenen Massnahme keineswegs um einen «dramatischen Kurswechsel in unserer Neutralitätspolitik» oder um die «Aufgabe eines Dogmas». Der Bundesrat hat nicht von der «integralen» zur «differentiellen» Neutralität der Völkerbundszeit gewechselt. Er hat auch in keiner Weise die Frage der Vereinbarkeit der schweizerischen Neutralität mit dem Sanktionensystem der Europäischen Gemeinschaft oder die Verhängung von Sanktionen in zukünftigen Fällen präjudiziert. Vielmehr hat der Bundesrat lediglich die kontinuierliche schweizerische Neutralitätspolitik in einem konkreten Fall zur Anwendung gebracht. Wenn sie in Zukunft in einem anderen Fall die Frage von Sanktionen stellt, so wird der Bundesrat in gleicher Weise unter Abwägung aller relevanter Gesichtpunkte einen dem Einzelfall und den schweizerischen Interessen gerechten Entscheid über die Mitwirkung der Schweiz an Sanktionen fällen müssen.
© Diplomatic Documents of Switzerland (Dodis), Berne
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Year of publication 2021 • Last modification: 24.09.2020
Neutrality policy Kuwait (General) Iraq (General)