Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 27, doc. 69
volume linkZürich/Locarno/Genève 2022
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#J1.223#1000/1318#473* | |
Old classification | CH-BAR J 1.223(-)1000/1318 66 | |
Dossier title | Neutralität, humanitäres Kriegsrecht (1945–1977) | |
File reference archive | 4.03 |
dodis.ch/40195 Der Rechtsberater des Politischen Departements, R. Bindschedler, an Prof. A. Riklin1
Sehr geehrter Herr Kollege,
Infolge meiner Beanspruchung durch die Genfer Konferenz über das humanitäre Kriegsrecht2 komme ich leider erst jetzt dazu, Ihren Brief vom 13. Mai 19773 zu beantworten. Ich bitte um Ihre Nachsicht hiefür.
Die Ihnen von Prof. Bonjour gegebene Antwort, die Schweiz hätte im Zweiten Weltkrieg sowohl den Deutschen wie den Engländern Kredite für Kriegszwecke gewährt, ist unrichtig. Kredite wurden hingegen zu handelspolitischen Zwecken eingeräumt, wobei die Sicherstellung der Versorgung des eigenen Landes mit Lebensmitteln und Rohstoffen für uns im Vordergrund stand4. Den berühmtesten Fall stellt die Deutschland gegenüber zugestandene Clearingmilliarde dar, ein Vorschuss im gegenseitigen Verrechnungsmechanismus5. Damit konnten die lebenswichtigen Lieferungen von Kohle und Stahl nach der Schweiz gewährleistet werden. Zu welchen Zwecken die Schuldnerstaaten letzten Endes die Kredite verwendeten, war ihre Sache und kann kaum im einzelnen festgestellt werden. Jedenfalls wurden diese Kredite nicht zwecks Kriegsfinanzierung gewährt, sondern um die Aufrechterhaltung des Handelsverkehrs zu ermöglichen.
Das Neutralitätsrecht verbietet dem neutralen Staat, den Kriegführenden finanzielle Unterstützung zu gewähren, wobei Anleihen und finanzielle Leistungen zur direkten Verwendung für die Kriegführung gemeint sind, jedoch nicht Kredite zu handelspolitischen Zwecken. Verboten ist ferner die Lieferung von Waffen und Munition durch den neutralen Staat und zwar auch dann, wenn beide Parteien gleich behandelt würden. Hingegen ist der Neutrale nicht verpflichtet, Privatpersonen die Ausfuhr oder Durchfuhr von Kriegsmaterial zu verbieten (V. Haager Abkommen vom 18. Oktober 19076, Art. 7). Daraus ergibt sich, dass die Käufe Englands und Deutschlands von Kriegsmaterial bei privaten Firmen in der Schweiz nicht neutralitätswidrig waren7. Aus welchen Quellen das Geld für diese Lieferungen herstammt, darüber bestanden keine Abmachungen.
Im übrigen besteht grundsätzlich keine wirtschaftliche Neutralität. Der neutrale Staat hat im Gegenteil ein Recht auf Handelsverkehr mit den Kriegführenden. Er hat sich lediglich die vom Seekriegsrecht vorgesehenen Eingriffe der Kriegführenden gefallen lassen. Wenn die Schweiz sich an die Grundsätze des «courant normal»8 und der gleichwertigen Gegenleistung im Handelsverkehr hielt, so befolgte sie damit von ihr selbst gewählte politische Grundsätze.
Es kann deshalb nicht behauptet werden, die Schweiz hätte im Zweiten Weltkrieg das Neutralitätsrecht verletzt.
- 1
- Schreiben: (Kopie): CH-BAR#J1.223#1000/1318#473* (4.03).↩
- 2
- Die diplomatische Konferenz zur Bestätigung und Weiterentwicklung des in bewaffneten Konflikten anwendbaren humanitären Völkerrechts fand in mehreren Sessionen zwischen 1974 und 1977 statt. Vgl. dazu dodis.ch/R29063.↩
- 3
- Schreiben von A. Riklin an R. Bindschedler vom 13. Mai 1977, dodis.ch/40193.↩
- 4
- Vgl. dazu DDS, Bd. 13, Dok. 162, dodis.ch/46919 und Dok. 199, dodis.ch/46956 sowie DDS, Bd. 15, Dok. 144, dodis.ch/47748, Annex 1. Zu Deutschland vgl. DDS, Bd. 13, Dok. 363, dodis.ch/47120 sowie DDS, Bd. 14, Dok. 351, dodis.ch/47537. Zu Grossbritannien vgl. DDS, Bd. 13, Dok. 284, dodis.ch/47041 sowie das BR-Prot. Nr. 1860 vom 3. August 1945, dodis.ch/1269.↩
- 5
- Zur schweizerischen Clearingmilliarde vgl. den Bericht des Finanzdepartements vom 14. Februar 1952, dodis.ch/8088.↩
- 6
- Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs vom 18. Oktober 1907, BS, 26, S. 469—476. Vgl. dazu DDS, Bd. 5, Dok. 209, dodis.ch/43064.↩
- 7
- Vgl. dazu DDS, Bd. 15, Dok. 432, dodis.ch/48036 sowie DDS, Bd. 16, Dok. 88, dodis.ch/157.↩
- 8
- Vgl. dazu auch DDS, Bd. 23, Dok. 154, dodis.ch/31951.↩
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