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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 24, doc. 142
volume linkZürich/Locarno/Genève 2012
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E1003#1994/26#12* | |
Old classification | CH-BAR E 1003(-)1994/26 5 | |
Dossier title | Beschlussprotokolle II (grün) der Sitzungen des Bundesrates, März 1968 - Dezember 1969 (1968–1969) | |
File reference archive | 4.3 |
dodis.ch/33246
BUNDESRAT
Beschlussprotokoll II der 17. Sitzung vom 30. April 19691
Beschlussprotokoll II der 17. Sitzung vom 30. April 19691
I. Umfrage
Herr Spühlerorientiert über die Situation nach der Niederlage und der Demission von General de Gaulle2 in Frankreich. Die grossen historischen Verdienste des Generals liegen zweifellos in seiner Haltung im Zweiten Weltkrieg (résistance)3 sowie in der Lösung des Algerien-Problems4. Bestritten sind hingegen seine aussenpolitischen Aktionen, namentlich seine Haltung der atlantischen Gemeinschaft und dem Osten gegenüber5, doch wird das definitive Urteil natürlich erst durch spätere Generationen gefällt. Die Nachfolge ist noch offen, doch auch wenn ein Gaullist gewählt wird, so ist mit einer gewissen Erosion der bisherigen Aussenpolitik Frankreichs zu rechnen. Man denkt namentlich an eine Änderung der Haltung gegenüber Kanada, der atlantischen Allianz und dem Mittleren Osten6. In wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht ist die Lage in Frankreich momentan ruhig. Ob diese Ruhe von Dauer ist, ist aber eine andere Frage. Die finanztechnische Stellung des französischen Francs ist derzeit relativ stark. Es bestehen erhebliche Reserven. Eine Abwertung ist für die allernächste Zeit nicht zu befürchten7, doch ändert sich zwangsläufig die Situation, wenn es zu einer Aufwertung der D-Mark8 kommen sollte. In der Haltung Frankreichs gegenüber dem Beitrittsbegehren Englands zur EWG9 wie auch anderer Staaten, die sich um eine Mitgliedschaft interessieren, ist keine rasche Änderung zu erwarten. Vieles hängt nun davon ab, wer als neuer Präsident10 gewählt wird und ob die Nationalversammlung aufgelöst wird11. Angesichts dieser ungelösten Fragen ist kurzfristig eher mit einer Blockierung der Integrationsbewegung in Europa zu rechnen.
Herr Schaffnerteilt die Beurteilung der Lage durch den Chef des EPD in allen Punkten. Er stellt ferner fest, dass auch die Kapitalflucht12 bisher nicht übermässig war und die Schweiz dabei mehr als Transitland denn als Zufluchtsort benützt wurde13. In Deutschland sind die Meinungen über die Opportunität einer Aufwertung nach wie vor geteilt. Sehr schwach ist das englische Pfund14. Im Falle einer Belebung der Verhandlungen zwischen England und der EWG würde sich mit grosser Wahrscheinlichkeit zeigen, dass England den Anschluss an die EWG gar nicht mit der immer wieder betonten Ernsthaftigkeit sucht. Ein Mitmachen Englands in der EWG wäre, mit Rücksicht auf dessen wirtschaftliche Schwäche, für dieses Land ein geradezu gefährliches Unterfangen. Was unsere eigenen Beziehungen mit Frankreich anbetrifft, werden diese, wer auch immer das Rennen um die Präsidentschaft gewinnen mag, nicht leichter werden.
Herr Bundespräsident von Moosteilt seinerseits die Auffassungen der Vorredner, macht aber bezüglich der Haltung Englands darauf aufmerksam, dass sich doch beide grossen Parteien auf den Beitritt zur EWG festgelegt haben, so dass sie nun das Problem aus politischen Gründen geradezu neu aufgreifen müssen. Es wird auch interessant sein, die Haltung Brüssels zu beobachten: Bisher konnte stets mit dem Hinweis auf die Haltung des französischen Staatspräsidenten ausgewichen werden, inskünftig spielt dieses Alibi nicht mehr. Das wird sich auf die Verhandlungen auswirken. Bezüglich der Information der Presse wird der Bundeskanzler15 zur Erklärung ermächtigt, dass sich der Bundesrat im Rahmen der Instruktionserteilung für die Ministertagung der EFTA zwangsläufig auch mit der integrationspolitischen Lage auf Grund der neuen Entwicklung in Frankreich befasst habe.
[...] 16
- 1
- BR-Beschlussprot. II: E1003#1994/26#12*. Am 10. Januar 1968 beschloss der Bundesrat keine ausführlichen Notizen aus der Sitzung des Bundesrates über die Beratungen der Regierung mehr zu verfassen, sondern ein Beschlussprotokoll II (grün) zu führen. Die letzte Sitzung des Bundesrats, die mit ausführlichen Protokollnotizen protokolliert wurde, fand am 8. Februar 1968 statt; die erste Sitzung, an der ein Beschlussprotokoll II verfasst wurde, fand am 11. März 1968 statt. Für ein Beispiel einer alten Protokollnotiz vgl. DDS, Bd. 24, Dok. 29, dodis.ch/33283.↩
- 2
- Vgl. dazu den Politischen Bericht Nr. 21 von P. Dupont an W. Spühler vom 28. April 1969, E2300-01#1977/28#55* (A. 21.31).↩
- 3
- Vgl. dazu DDS, Bd. 14, thematisches Verzeichnis: 2.9.2. Relations avec la « France libre» und DDS, Bd. 15, thematisches Verzeichnis: II.10.2. France gaulliste.↩
- 4
- Vgl. dazu DDS, Bd. 22, Dok. 49, dodis.ch/30353, und Dok. 67, dodis.ch/10395.↩
- 5
- Vgl. dazu Doss. E2300-01#1973/156#142* (A.21.31) und E2300-01#1973/156#236* (A.21.31).↩
- 6
- Vgl. dazu Doss. E2300-01#1977/28#55* (A. 21.31).↩
- 7
- Zur Abwertung des französischen Francs am 8. August 1969 vgl. die Notiz von P. A. Nussbaumer an W. Spühler vom 11. August 1969, dodis.ch/34143 und das BR-Beschlussprot. II der 29. Sitzung vom 13. August 1969, dodis.ch/33293.↩
- 8
- Die Deutsche Mark wurde im Oktober 1969 aufgewertet. Vgl. dazu DDS, Bd. 24, Dok. 179, dodis.ch/33041.↩
- 9
- Vgl. dazu DDS, Bd. 24, Dok. 33, dodis.ch/33238, Anm. 3.↩
- 10
- G. Pompidou wurde am 15. Juni 1969 gewählt.↩
- 11
- Die Nationalversammlung wurde nicht aufgelöst.↩
- 12
- Zur Frage der Kapitalflucht vgl. DDS, Bd. 22, Dok. 91, dodis.ch/30740; DDS, Bd. 23, Dok. 67, dodis.ch/30943; Dok. 125, dodis.ch/31831 und Dok. 177, dodis.ch/31445; DDS, Bd. 24, Dok. 175, dodis.ch/33035, und Dok. 181, dodis.ch/32446.↩
- 13
- Zu den französischen Kontrollmassnahmen gegen Kapitalflucht vgl. Doss. E2001E#1980/83#2369* (C.41.132.0). Zu den Philippinen vgl. ferner DDS, Bd. 24, Dok. 47, dodis.ch/32230; zu Ghana vgl. DDS, Bd. 24, Dok. 88, dodis.ch/33019; zu Grossbritannien vgl. DDS, Bd. 24, Dok. 142, dodis.ch/32446 und zu den Entwicklungsländern vgl. Dok. 175, dodis.ch/33035.↩
- 14
- Zur Währungshilfe der Schweiz an Grossbritannien vgl. DDS, Bd. 23, Dok. 128, dodis.ch/31415, und DDS, Bd. 24, Dok. 116, dodis.ch/33022.↩
- 16
- Für das vollständige Dokument vgl. dodis.ch/33246.↩
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