Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 24, Dok. 105
volume linkZürich/Locarno/Genève 2012
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2806#1971/57#160* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2806(-)1971/57 10 | |
Dossiertitel | Tchécoslovaquie (1961–1970) | |
Aktenzeichen Archiv | 17-93 |
dodis.ch/32176 Zusammentreffen des Bundespräsidenten2 mit dem Aussenminister der Tschechoslowakei Jiri Hajek am 5. 9. 1968 anlässlich eines Mittagessens im Lohn (anwesend waren ausserdem die Botschafter Winkler, Micheli, Thalmann sowie Dr. Miesch)
Aussenminister Hajek hatte schon vor den dramatischen Ereignissen in der Tschechoslowakei3 den Wunsch geäussert, anlässlich seiner Teilnahme an der Konferenz der Nichtnuklearstaaten in Genf4 den Bundespräsidenten aufzusuchen5. Noch am 20. August wurden seitens Berns Datenvorschläge für ein solches Zusammentreffen nach Prag gekabelt6; vorgesehen war die Zeit zwischen dem 4. und 6. September.
Als in der Nacht vom 20. auf den 21. August der Einmarsch der Warschaupaktmächte in die Tschechoslowakei einsetzte, befand sich H[ájek nach Darstellung der tschechoslowakischen Botschaft7 in Jugoslawien in den Ferien. Er reiste dann von dort nach New York, wo er in der tschechoslowakischen Sache vor dem Sicherheitsrat eine Erklärung8 abgab. Später reiste er in die Schweiz ein, angeblich um an der Konferenz der Nichtnuklearen teilzunehmen. Auf ein solches Auftreten wurde in der Folge verzichtet. Es war uns hingegen bekannt, dass sich H[ájek am Orte der ständigen tschechoslowakischen Delegation in Genf mit einer Anzahl tschechoslowakischer Botschafter (Rom, Bonn, Washington, Wien) traf. H[ájek selbst fügte dem noch bei, er habe in Genf noch mit anderen «unserer Freunde» Fühlung genommen.
Das Gespräch mit H[ájek vom 5. September war sehr offen und ergab ein eindrückliches Bild der tschechoslowakischen Angelegenheit. Zusammenfassend seien hier einige wesentlichen Punkte festgehalten:
1. Bestätigung der Absicht Hajeks, über Wien nach Prag zurückzukehren.
2. Das vorläufige Misslingen der Pläne der tschechoslowakischen Führer ist nach Auffassung Hajeks u. a. darauf zurückzuführen, dass das eingeschlagene Tempo zu rasch war. Nachdem einmal der progressive Kurs in Partei und Regierung sich durchsetzen konnte, wurden die Liberalisierungszeichen von den Intellektuellen sofort übernommen und in eine raschere Gangart übersetzt («Manifest der 2’000 Worte»). Die Bewegung geriet dann den Führern etwas zu sehr aus den Händen.
Andererseits waren die Russen offensichtlich schlecht informiert über die Haltung der tschechoslowakischen Führung und des Volkes. Sie glaubten, zwischen Arbeiterschaft und Führung klaffe ein Graben und dass sie ohne Schwierigkeiten eine ihnen genehme Regierung auf dieser Grundlage einsetzen könnten. Dass dem nicht so war, ergab sich nach H[ájek aus der Tatsache, dass das Zentralkomitee, nach dem Einmarsch, sich geheim auf einem Industrieareal unter dem Schutze der Arbeitermiliz treffen konnte.
Dubcek hat von Anfang an eine Haltung eingenommen, die allein der Wahrheit verpflichtet war. Er wollte das Volk nicht anlügen; damit ist heute seine Stellung schwierig geworden. Wenn auch nach dem Moskauer Treffen9 den Worten nach die Gestaltung der inneren Angelegenheiten Sache der Tschechoslowakei geblieben ist, so ist doch der Spielraum wegen der den Russen gemachten Konzessionen äusserst gering geworden. Es wird viel Geduld brauchen, die noch bestehenden Freiheiten abzusichern und auszubauen. H[ájek glaubt an das tschechoslowakische Volk, das die Situation begriffen hat und seinen Führern helfen will, die «Normalisierung» durchzustehen bis zu dem Zeitpunkt, wo mit dem Abzug der Okkupationstruppen begonnen werden wird. Dies ist jetzt das erste Ziel. Dann kann man wieder weiter sehen. Es handelt sich um eine Wanderung auf äusserst schmalem Grate und es wird in der nächsten Zeit Vieles geschehen müssen, was nach aussen als Rückkehr zum orthodoxen System erscheint. Es geschieht dies aber nur im Hinblick darauf, eine neue Ausgangslage zur Durchführung des ursprünglichen Liberalisierungskurses zu gewinnen.
3. Dieser vorübergehende «zweideutige» Zustand wird sich auch auf die Aussenpolitik übertragen müssen. Vieles, was man tschechoslowakischerseits unternehmen möchte, wird unterbleiben müssen, um gegenüber den Russen den Eindruck intensiverer Zusammenarbeit mit dem Westen zu vermeiden. Es ist insbesondere auch auf wirtschaftlichem Gebiet mit einer Zurückhaltung gegenüber dem Westen zu rechnen. Am ehesten sieht H[ájek noch die Möglichkeit einer engeren Zusammenarbeit mit den «weniger verdächtigen» Neutralen.
4. Die Russen müssen andererseits begreifen, dass die Tschechoslowaken Kommunisten sind, die ihren eigenen Weg suchen wollen, ohne jedoch von den kommunistischen Grundprinzipien abzuweichen. Auf die Frage, ob sich Liberalisierung d. h. Freiheitsstreben und Kommunismus überhaupt mit einander vereinbaren lassen, erklärt H[ájek], dass es um die Humanisierung des Kommunismus im Sinne der ursprünglichen Lehren des Marxismus/Leninismus gehe. Die Tschechoslowaken sehen hier eine besondere Aufgabe.
5. Auf die Frage, warum es für die Russen notwendig war, ein derart ausserordentliches Kontingent an Truppen aufzubieten, um die tschechoslowakische Angelegenheit zu regeln, gibt H[ájek der Auffassung Ausdruck, es handle sich um eine Machtdemonstration. Für die Russen gehe es um eine erneute tiefgreifende politische und militärische Sicherung des Warschaupaktraumes.
6. H[ájek dankt für die einmütige und kräftige Demonstration von Regierung, Parlament und Volk der Schweiz zu Gunsten der tschechoslowakischen Sache10. Was sein Zusammentreffen mit dem Bundespräsidenten anbetrifft, so wünscht er, dieses möge vertraulich behandelt werden. Er habe Wert darauf gelegt, den Bundespräsidenten über die Lage zu unterrichten, wie er, Hajek, sie sehe. Das Bekanntwerden seiner Stellungnahme und insbesondere der von ihm gemachten Ausführungen könnte ihm unter Umständen Schwierigkeiten bereiten. Er wisse ja nicht, was ihn erwarte11.
7. Zum Abschluss wird schweizerischerseits noch die Frage des allfälligen Besuches von Botschafter Jolles an der Brünner Messe12 aufgeworfen. Jolles könnte in eine etwas heikle Situation geraten, da er ja irgendwie öffentlich wird auftreten und eine Ansprache halten müsse. Er würde dabei nicht darum herumkommen, die Ereignisse zu erwähnen und dazu Stellung zu nehmen, was aber unter Umständen schädlich für die tschechoslowakische Sache sein könnte. H[ájek meint, er könne sich allenfalls nach seiner Rückkehr dazu äussern, wenn einmal die tschechoslowakischen Führer von dem vorgesehenen neuen Treffen mit den Warschaupaktpartnern zurück seien. Man würde es an sich doch begrüssen, wenn Botschafter Jolles’ Besuch nicht unterbleiben müsste.
- 1
- Notiz: E2806#1971/57#160* (17-93).↩
- 2
- W. Spühler.↩
- 3
- Vgl. dazu DDS, Bd. 24, Dok. 100, dodis.ch/32192.↩
- 4
- Zur Konferenz der Nichtnuklearstaaten vom 29. August bis zum 28. September 1968 vgl. DDS, Bd. 24, Dok. 87, dodis.ch/33144, Anm. 5.↩
- 5
- Vgl. das Telegramm Nr. 89 der schweizerischen Botschaft in Prag an das Politische Departement vom 2. August 1968, E2001E#1980/83#4246* (B.73.0).↩
- 6
- Vgl. das Telegramm Nr. 75 des Politischen Departements an die schweizerische Botschaft in Prag vom 20. August 1968, Doss. wie Anm. 1. Vgl. auch Doss. E2001E#1980/83#4198* (B.15.50.4).↩
- 7
- Vgl. die Notiz Zusammenfassung der Unterhaltung zwischen Herrn Bundespräsident Spühler und Herrn Botschafter Pavel Winkler am 22. August 1968, 18.00 Uhr von P. Micheli, dodis.ch/32193.↩
- 8
- Zur Rede von J. Hájek vor dem Sicherheitsrat vgl. das Telegramm Nr. 225 des schweizerischen Beobachters bei der UNO in New York an das Politische Departement vom 24. August 1968 und das provisorische stenografische Protokoll der 1445. Sitzung des Sicherheitsrats der UNO vom 24. August 1968, Doss. wie Anm. 5.↩
- 9
- Zur Moskauer Konferenz vom 23.–26. August 1968 und zur Unterzeichnung des Moskauer Abkommens vgl. das Schreiben von S. F. Campiche an P. Micheli vom 3. September 1968, E2300-01#1973/156#238* (A.21.31).↩
- 10
- Zu den Reaktionen auf die Krise in der Tschechoslowakei vgl. DDS, Bd. 24, Dok. 102, dodis.ch/32194, bes. Anm 8.↩
- 11
- Zum Rücktritt von J. Hájek als Aussenminister am 19. September 1968 vgl. die Note der tschechoslowakischen Botschaft in Bern an das Politische Departement vom 20. September 1968, E2001E#1980/83#4197* (B.15.41.1).↩
- 12
- Vgl. Doss. E7001C#1982/115#837* (2130.3).↩