Die Schweiz möchte während den kommenden Verhandlungen mit der BRD über die Feststellung der noch wiedergutzumachenden Nazischäden aus der Vorkriegszeit und die Klärung weiterer Fragen völkerrechtlicher und finanzieller Natur diskutieren.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 19, doc. 106
volume linkZürich/Locarno/Genève 2003
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2200.161-02#1968/134#261* | |
Old classification | CH-BAR E 2200.161-02(-)1968/134 23 | |
Dossier title | Wiedergutmachung nationalsoz. Unrechts (1952–1955) | |
File reference archive | H.33.12 |
dodis.ch/9457 Interne Notiz der schweizerischen Gesandtschaft in Köln1 WIEDERGUTMACHUNG NATIONALSOZIALISTISCHEN UNRECHTS
1. Das Naziunrecht stellt die letzte schwerwiegende Hypothek im schweizerisch-deutschen Verhältnis dar. Durch das Londoner Abkommen wurden die Auslandschulden geregelt2, durch das Abkommen über die Clearing-Milliarde die Forderung der Eidgenossenschaft berücksichtigt3, durch den Lastenausgleich die Kriegsschädenfrage einigermassen geregelt. Die Wirtschafts- und Finanzbeziehungen sind normalisiert.
2. Die Schweiz hatte für das Nachkriegsdeutschland stets besonderes Verständnis. Liebesgaben-Aktionen4, Anknüpfung kultureller Beziehungen5. Die Schweiz hat das private deutsche Vermögen in der Schweiz nicht liquidiert6, sie hat die gewerblichen Schutzrechte7 wieder hergestellt, sie hat insbesondere das Vermögen des Reiches und der Reichsbank, insgesamt 42 Mio. Schweizerfranken, ausschliesslich zu Gunsten deutscher Interessen verwendet8. Lauter Tatsachen, die von der Bundesregierung und vom Bundestag ausdrücklich gewürdigt wurden. Die Schweiz hat auch das Vermögen der nationalsozialistischen Parteiorganisationen in der Schweiz (ca. SFr. 1 Mio.) im Jahre 1953 für Koloniezwecke zur Verfügung gestellt9.
3. Bezüglich der Wiedergutmachung der Nazischäden haben wir zunächst abgewartet, ob und inwieweit die Bundesrepublik Entschädigungsgesetze erlässt10. Als klar wurde, dass das BEG nur einen Teil der erlittenen Schäden berücksichtigen würde, haben wir Besprechungen mit dem Bundesfinanzministerium aufgenommen. Es wurden uns zwei Möglichkeiten angeboten:
a) Berücksichtigung im Härteausgleich des BEG oder
b) Pauschalabgeltung.
Es wurde von Herrn Kuschnitzky im Juni 1953 noch als möglich erachtet, anlässlich der parlamentarischen Beratung eine Formulierung zu finden, welche die Schweizerschäden irgendwie berücksichtigt hätte11. Aus Zeit-, optischen und psychologischen Gründen zogen wir die Pauschallösung vor12.
Es wurde uns in der Folge Art. 5 des Londoner Abkommens entgegengehalten. Wir verzichteten auf die Abgeltung der Schäden, baten aber um eine tatbeständliche Erörterung zum Zwecke der Beweissicherung13. Deutscherseits wurde auch die Prüfung der Fälle als unzulässig zurückgewiesen und dafür eine Erklärung über die Glaubwürdigkeit und Angemessenheit unserer Ansprüche aus der Kriegszeit angeboten. Wir verlangten daraufhin Prüfung und Abgeltung der Vorkriegsfälle. Nach anfänglicher Zusage wurde nicht nur deren Abgeltung, sondern auch die Prüfung unter Hinweis auf das Kriegsfolgenschlussgesetz abgelehnt.
4. Bern ist nicht bereit, die Vertagung, auch wenn es sich nicht um eine solche ad calendas grecas14 handelt, hinzunehmen15. Gerade der Hinweis auf das Kriegsfolgeschlussgesetz, von dem wir bisher nicht annahmen, dass es noch Bestimmungen enthalten könnte, die Verfolgungstatbestände einschliessen, macht Verhandlungen nötig, damit gegebenenfalls vor Verabschiedung durch das Kabinett die schweizerischen Begehren berücksichtigt werden können. Die Erörterung der Vorkriegsfälle kann auch im Hinblick auf die Novelle zum BEG nur nützlich sein. Wenn es der Bundesregierung wirklich darum geht, das Wiedergutmachungskapitel mit der Schweiz abzuschliessen, so kann sie ihren guten Willen dadurch beweisen, dass sie sich zu Verhandlungen am 11. Juni bereit erklärt. Zweck der Verhandlungen: Feststellung der noch wiedergutzumachenden Nazischäden aus der Vorkriegszeit, wodurch der Bundesregierung die Möglichkeit gegeben wird, zu klären, inwieweit gewisse Tatbestände durch das Kriegsfolgenschlussgesetz geregelt werden können. Sämtliche offene Fragen völkerrechtlicher und finanzieller Natur sollen ebenfalls anlässlich der Verhandlungen diskutiert werden.
5. Bern wünscht eine rasche Durchführung des Notenwechsels16. Der von Herrn Wolff gewünschte Zusatz «während der Zeit des zweiten Weltkrieges» sollte nicht in Satz 1 des deutschen Notenentwurfes eingebaut werden, sondern im zweiten Satz, der folglich lauten müsste: «Wir sind mit Rücksicht auf die in Art. 5 des Londoner Schuldenabkommens eingegangenen Verpflichtungen zurzeit leider nicht in der Lage, in eine Prüfung des Materials und der darauf gegründeten Ansprüche, soweit sie während der Zeit des zweiten Weltkrieges entstanden sind, einzutreten.» Eine Erwähnung dieses Zusatzes in der schweizerischen Antwort ist nicht erforderlich.
Satz 1 des letzten Absatzes des schweizerischen Antwortentwurfes müsste lauten: «Soweit die in Frage stehenden Schäden auf die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg zurückgehen, erfolgt deren Erörterung in besondern Besprechungen.»
6. Bis Ende April sind ungefähr 50 Zahlungsaufträge für Wiedergutmachungen bei der Schweizerischen Verrechnungsstelle eingetroffen, die mit rund 160’000 Schweizerfranken honoriert wurden. Unter den Empfängern befindet sich jedoch lediglich ein einziger Schweizer mit 2000 Franken.
- 2
- Vgl. die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Londoner Abkommen über Deutsche Auslandschulden (vom 5. Mai 1953), BBl, 1953, Bd. 105, II, 177–351.↩
- 3
- Vgl. DDS, Bd. 19, Dok. 28, dodis.ch/10297.↩
- 4
- Vgl. DDS, Bd. 16, Dok. 19, dodis.ch/1711(dodis.ch/1711).↩
- 5
- Vgl. das Schreiben von A. Greutert an G. Keel vom 2. Mai 1949, E 2001(E)1967/113/356 (dodis.ch/8049). Vgl. DDS, Bd. 17, Dok. 48, dodis.ch/4360 (dodis.ch/4360).↩
- 6
- Vgl. DDS, Bd. 16, thematisches Verzeichnis: Allgemeine Finanzbeziehungen und DDS, Bd. 17 und 18, thematisches Verzeichnis: Fortsetzung des Washingtoner Abkommens.↩
- 7
- Vgl. die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend das Abkommen der Schweiz mit der Bundesrepublik Deutschland über die Wiederherstellung gewerblicher Schutzrechte (vom 5. September 1952), BBl, 1952, Bd. 104, III, S. 45–63.↩
- 8
- Vgl. DDS, Bd. 17, Dok. 56, dodis.ch/4421(dodis.ch/4421).↩
- 9
- Die deutsche Interessenvertretung in der Schweiz wurde 1953 geschlossen; die Aufgaben übernahm die deutsche Gesandtschaft in Bern. Vgl. den Rechenschaftsbericht der DIV über ihre Geschäftstätigkeit im Jahre 1952 bis zu ihrer Schliessung am 30. 4. 1953, E 2001-03(-)-/7/4. Vgl. auch BR-Prot. Nr. 315 vom 24. Februar 1953, E 1004.1(-)-/1/550 (dodis.ch/9099).↩
- 10
- Das Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) wurde am 18. September 1953 vom deutschen Parlament genehmigt und trat am 1. Oktober 1953 in Kraft. Am 29. Juni 1956 folgte das Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, welches das Gesetz von 1953 ergänzte.↩
- 11
- Vgl. das Schreiben von A. Huber an A. Zehnder vom 20. Mai 1953, E 2001-08(-)1978/107/2.↩
- 12
- Die handschriftlichen Randnotizen zu diesem Absatz konnten nicht entziffert werden.↩
- 13
- Die handschriftlichen Randnotizen zu diesem Absatz konnten nicht entziffert werden.↩
- 14
- Gemeint ist hier: auch wenn die deutsche Seite nicht beabsichtigt, gar nicht auf die Angelegenheit einzutreten.↩
- 15
- Vgl. den Antrag des EPD an den Bundesrat vom 12. April 1954, E 1004.1(-)-/1/565 (dodis.ch/9137).↩
- 16
- Zum Überblick über die an Leib und Leben geschädigten Schweizer vgl. die Statistik des EPD vom 31. Mai 1954, E 2001-08(-)1978/107/3.Vgl. auch die Verbalnote des deutschen Auswärtigen Amtes vom 23. Juni 1954, ibid. Zu den Verhandlungen vom 28. bis 30. Juni 1954 vgl. das Protokoll der schweizerisch-deutschen Verhandlungen über die Wiedergutmachung der «Nazi-Schäden», ibid.↩
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