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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1993, doc. 45
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#1764* | |
Dossier title | Offizieller Arbeitsbesuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Bern, 18.10.1993 (1993–1993) | |
File reference archive | B.15.21(28) • Additional component: Allemagne |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#751* | |
Dossier title | Bonn (1991–1993) | |
File reference archive | A.21.31 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E7113A#2001/192#2248* | |
Dossier title | Deutschland, 01.03.93-30.09.93 (1993–1993) | |
File reference archive | 777.110De |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E8001D#1997/5#2929* | |
Dossier title | Arbeitsbesuch Kohls in Bern, 18.10.1993 (1993–1993) | |
File reference archive | 320.4 |
dodis.ch/64059Politischer Bericht des schweizerischen Botschafters in Bonn, Chenaux-Repond1
Bundeskanzler Kohl zu zwei Problemkreisen: die Schweiz und die EG / die Zukunft der EG
Letzte Woche hat Bundeskanzler Kohl eine Anzahl Journalisten zu geselligem Beisammensein in seine engere Rheinland-Pfälzische Heimat eingeladen. Der Kanzler pflegt sich bei diesem alljährlichen Anlass freimütig zu äussern, und zwar durchaus in der Erwartung, seine Botschaft möge die berufenen Ohren erreichen.
Kohl hat sich diesmal ausführlich mit dem versierten und zuverlässigen Schweizer Journalisten X.2 unterhalten, dem ich die folgenden Ausführungen verdanke:
Kohl berichtet von seinem bevorstehenden Kurzbesuch bei Bundespräsident Ogi3 und von seiner Entschlossenheit, «den Schweizern in ihren Verkehrsverhandlungen beizustehn». Er ist genau im Bilde über den Konnex zwischen den beiden angestrebten Abkommen4 und dem von der Schweiz ratifizierten Transitabkommen,5 gibt indessen zu bedenken, einfach überfahren könne er diejenigen EG-Regierungen nicht, die ihren Blick nun einmal auf die gesamthafte Ausgewogenheit eines Arrangements zwischen Brüssel und Bern gerichtet halten.6 Daher eine gewisse zeitliche Parallelität bei der Aushandlung aller Abkommen.
Kohl ist fest überzeugt, dass die Schweiz den EG-Vollbeitritt schon bald, wahrscheinlich 1995 suchen werde.7 Gründe: a) der EWR wird schon bald nicht mehr aktuell sein. b) Die Verhandlungen mit Österreich, Schweden und selbst Finnland werden 1994 zu einem guten Ende geführt werden und die Stimmungslage in der Schweiz nachhaltig zugunsten des eigenen EG-Beitritts beeinflussen. (Norwegen hat er vorläufig abgeschrieben.)8 c) Der bilaterale Weg ist beschwerlich und wird am Ende die Schweiz nicht befriedigen.9 Deren Interesse an einem möglichst zügigen EG-Vollbeitritt wird schon bald auch auf der innenpolitischen Bühne manifest werden und entsprechende Wirkungen zeitigen.
Interessant das von Kohl wie folgt formulierte deutsche Eigeninteresse: Das liberale, marktwirtschaftliche Element, das von den mehrheitlich oder ganz deutschsprachigen Staaten vertreten wird, bedarf in der EG unbedingt der Stärkung. Österreich wird keine rechte Unterstützung sein. «Es wird mit Österreich gewiss bald Komplikationen geben. Ihr Schweizer seid verlässlicher.» Kohl erläutert einen ihm nicht unwichtigen Nebenaspekt der wünschbaren Verstärkung des deutschsprachigen Elements: Manche Berichte der EG werden von Leuten mit antideutschen Ressentiments redigiert und sind unausgewogen. Die Bundesrepublik wird darin übermässig aller möglichen EG-Vertragsverletzungen bezichtigt, während man vor den weit ärgeren Sünden anderer beide Augen verschliesst.
Wohl wissend, dass mehrere derzeitige Nicht-EG-Staaten Hürdenscheu entwickeln, wirft Kohl folgenden Gedanken ein: Er möchte vorschlagen, Nicht-EG-Parlamentarier als Beobachter zu Sitzungen des Europäischen Parlaments einzuladen. «Wenn die erst mal mit dabei sind, wird’s ihnen schon gefallen.» Und schliesslich möchte er unter der deutschen Präsidentschaft (zweites Halbjahr 1994) gar vorschlagen, Nicht-EG-Minister zu Ministerratssitzungen einzuladen.
Kohl macht sich ernste Sorgen über das Fehlen einer gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik.10 Die lamentablen Vorgänge in Jugoslawien11 können sich jederzeit weiter nördlich wiederholen. Auf den ausdrücklichen Einwurf von X., wenigstens in Westeuropa seien Friede und Zusammenhalt doch endgültig gesichert, antwortet Kohl: «Ohne einen weiteren, entscheidenden Integrationsschritt ist nichts gesichert.» Im Gegensatz zu früher bedeutet es Kohl nichts mehr, ob Staaten wie Grossbritannien, Dänemark und vielleicht auch bald andere Teilgebiete der europäischen Integration für sich ausklammern. Er will sich ganz und gar auf die Verwirklichung der politischen Union «und der Sicherheitsunion» konzentrieren.12 Natürlich steht die Achse Bonn–Paris dabei im Vordergrund. Aber sie genügt Kohl nicht. Kerneuropa muss vorrangig und irreversibel zusammengeschweisst werden. Er schliesst die Benelux-Länder mit ein, und er erwähnt wieder Österreich und die Schweiz.
Europäer der ersten Stunde, die zudem in etwa der Generation des deutschen Bundeskanzlers (Jahrgang 1930) angehören, vermögen dessen Gedankengängen aus Erfahrung nur allzu gut folgen. Es gibt keinen Ersatz für die Vertiefung der EG, keinen Ersatz für eine dem föderalistischen Bundesstaat wenigstens angenäherte Konstruktion. Sie allein verschweisst, während der Staatenbund lediglich vertraglicher Opportunität verpflichtet ist und niemanden am Ausscheren hindert. Alles, was unterhalb des Verdichtungsgrades von «Maastricht» bleibt, macht die Starken stärker, die Schwachen schwächer, und jede über eine sehr vorsichtige und restriktive Auswahl hinaus forcierte EG-Erweiterung verdünnt die Substanz, reduziert die Dichte. Wenn der deutsche Bundeskanzler die deutsche Souveränität Europa auf dem Silbertablett anbietet (er hat dies ja auch anlässlich seiner Rede in der Zürcher Universität im Mai 1992 klargemacht),13 so weiss er genau warum. Den Nachfolgenden, gleich welcher Nationalität, gleich welcher Couleur, sind die Zusammenhänge verlorengegangen. Kohl hat mir in Zürich versichert: «Ihr Schweizer habt 1848 die durch den Sonderbundskrieg gebotene Chance beim Schopfe ergriffen; wir Europäer drohen die von dem unermesslich viel grässlicheren Zweiten Weltkrieg gebotene Chance zu verpassen.»
Aus dieser durchaus klugen Sicht ist für Kohl das baldige Einschwenken der Schweiz auf den EG-Beitrittskurs ein Gebot einfachster Einsicht. Er kann kaum verstehen, dass aus psychologischen, historischen und gewissermassen genetischen Gründen die Schweiz u. U. eine womöglich mehrjährige «Trotzphase» durchlaufen will, selbst wenn an deren Ende der EG-Beitritt steht. Jede Generation ist darauf erpicht, auch die schlechtesten Erfahrungen zu wiederholen.
Es ist durchaus möglich, dass die Optionen «Alleingang» bzw. «EG-Mitgliedschaft» sich der Schweiz schon in einem Jahr unausweichlich stellen.14 Ich würde heute keine Wette darauf abschliessen, dass unser Land dann endlich auf die Direttissima der europäischen Mitgestaltung einschwenkt. Bundeskanzler Kohl scheint davon auszugehen, was sein müsse, werde sein. Gewiss, aber wann?
- 1
- CH-BAR#E2010A#2001/161#751* (A.21.31). Dieser Politische Bericht Nr. 42 wurde vom schweizerischen Botschafter in Bonn, Dieter Chenaux-Repond, verfasst und unterzeichnet. Kopien gingen unter anderem an den Vorsteher des EVED, Bundespräsident Adolf Ogi, an den Vorsteher des EDA, Bundesrat Flavio Cotti, an den Direktor der Politischen Direktion des EDA, Staatssekretär Jakob Kellenberger, sowie an den Direktor des Bundesamts für Aussenwirtschaft des EVD, Staatssekretär Franz Blankart. Für die komplette Empfängerliste vgl. das Faksimile dodis.ch/64059. Der Politische Bericht wurde im Hinblick auf den Besuch des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl am 18. Oktober 1993 in Bern ergänzt, vgl. dodis.ch/67068.↩
- 2
- Gemeint ist wahrscheinlich der NZZ-Korrespondent Christian Müller.↩
- 3
- Für den Besuch von Bundeskanzler Kohl bei Bundespräsident Ogi, Bundesrat Cotti und beim Vorsteher des EMD, Bundesrat Kaspar Villiger, vom 18. Oktober 1993 vgl. DDS 1993, Dok. 47, dodis.ch/64997. Vgl. ferner das Schreiben von Bundespräsident Ogi an Bundeskanzler Kohl im Nachgang des Gesprächs, DDS 1993, Dok. 50, dodis.ch/65355.↩
- 4
- Gemeint ist die Aufnahme von bilateralen Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz im Land- und Luftverkehrsbereich. Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Bilaterale I: Land- und Luftverkehr, dodis.ch/T1704.↩
- 5
- Vgl. DDS 1991, Dok. 51, dodis.ch/58168, sowie die thematische Zusammenstellung Transitverhandlungen mit der EG (1987–1992), dodis.ch/T1913.↩
- 6
- Vgl. dazu auch DDS 1993, Dok. 32, dodis.ch/64936.↩
- 7
- Bereits am 18. Mai 1992 beschloss der Bundesrat, ein Gesuch über die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der EG zu stellen, vgl. DDS 1992, Dok. 18, dodis.ch/58958, sowie die thematische Zusammenstellung dodis.ch/T1955.↩
- 8
- Vgl. die thematische Zusammenstellung Vierte Erweiterung der EG: Österreich, Finnland, Schweden (1995), dodis.ch/T1878.↩
- 9
- Vgl. die thematische Zusammenstellung Beginn bilateraler Verhandlungen (1993), dodis.ch/T2239.↩
- 10
- Vgl. zur gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik der EG die Notiz der Politischen Abteilung III des EDA vom 20. Dezember 1993, dodis.ch/62773.↩
- 11
- Vgl. die thematische Zusammenstellung Jugoslawienkriege, dodis.ch/T1915.↩
- 12
- Zur europäischen Sicherheitsarchitektur aus schweizerischer Perspektive vgl. auch DDS 1993, Dok. 43, dodis.ch/62714.↩
- 13
- Gemeint ist der Vortrag von Bundeskanzler Kohl vor dem schweizerischen Institut für Auslandsforschung der Universität Zürich am 18. Juni 1992, vgl. das Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 73 vom 3. Juli 1992, dodis.ch/67016.↩
- 14
- Zur Diskussion der Optionen nach dem EWR-Nein vgl. auch DDS 1993, Dok. 10, dodis.ch/64545.↩
Relations to other documents
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Federal Republic of Germany (Politics)
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