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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 24, doc. 185
volume linkZürich/Locarno/Genève 2012
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2807#1974/12#414* | |
Old classification | CH-BAR E 2807(-)1974/12 38 | |
Dossier title | Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) (1966–1970) | |
File reference archive | 074 |
dodis.ch/33253
Notiz für den Vorsteher des Politischen Departements, W. Spühler1
Nigeria/Biafra: Mercy-week
I.
Die Vorbereitungen und Konsultationen2 zur Verwirklichung des Projekts einer «mercy-week» sind durch die unverständliche Indiskretion von Nationalrat Franzoni an Radio und Fernsehen am 25./26. November jäh gestört worden und haben eine neue Lage3 geschaffen. Franzoni hat weder vor noch nach seiner Erklärung mit dem Politischen Departement Fühlung genommen. Da er noch am gleichen Tag in den Tessin zurückgekehrt ist, war es bisher nicht möglich, in einer Aussprache die Motive seines Verhaltens zu klären.
Die Auswirkungen der Indiskretion, die sehr wahrscheinlich zum Scheitern unserer Bemühungen führen werden, lassen sich – soweit sie heute schon in ihrer vollen Tragweite überblickbar sind – wie folgt zusammenfassen:
1. Die befreundeten Staaten, mit denen wir in Verbindung standen, und die wir um strikte Geheimhaltung ersucht hatten (Schweden, Österreich, Jugoslawien4) sind über die Indiskretion enttäuscht und angesichts des überraschenden Ansturms ihrer Massenmedien in eine missliche Lage versetzt worden. Die Indiskretion ist aus ihrer Sicht umso schwerwiegender als der Urheber ein Parlamentarier und Mitglied der auswärtigen Kommission ist. Inskünftig dürfte man von uns in Fällen dieser Art wohl zusätzliche Sicherheitsmass nahmen und Garantien verlangen.
2. In Lagos5, das ebenso sehr überrascht wurde, hat die Meldung, dass Ojukwu uns um Vermittlung6 ersuchte, zu tiefem Misstrauen und Konfusion geführt: jede Aktion der Schweiz und der anderen Neutralen wäre für die Bundesregierung nunmehr ein von Ojukwu inspiriertes Unternehmen. Die für eine Aktion notwendige Vertrauensbasis ist wesentlich geschmälert worden.
3. Aber auch auf lange Sicht, im Hinblick auf andere zukünftige Vermittlungsbemühungen, ist durch die Indiskretion die schweizerische Stellung, unsere Vertrauenswürdigkeit, geschwächt worden.
Enttäuschung darüber lassen auch die ersten Reaktionen befreundeter Staaten erkennen, die nicht eingeweiht waren, mit denen wir jedoch auf humanitärem Gebiet in der Biafra-Frage zusammenarbeiten.II.
Die Konsultationen sind inzwischen im Lichte dieser neuen Entwicklung abgeschlossen worden. Sie ergeben das folgende Bild:
1. Während Österreich nach wie vor bereit ist, den Weg, zusammen mit uns, bis zum Ende zu gehen, will sich Jugoslawien7 nicht mehr beteiligen. Belgrad möchte dabei der Meinung Haile Selassies Rechnung tragen, der für den Augen blick angesichts seiner eigenen Vermittlungsbemühungen von jeglicher Aktion ausserafrikanischer Staaten abrät. Der Kaiser hofft, in den nächsten Tagen eine afrikanische Vermittlungsaktion erfolgreich durchzuführen und wünscht, dass Störungen von aussen unterbleiben.
Stockholm8 ist auf seinen ursprünglichen negativen Entscheid zurückgekommen und wäre grundsätzlich zu einer Teilnahme an einem humanitären Projekt in geeigneter Form bereit.
2. Ein Vertreter9 der Botschaft Nigeriens in Bern wies im Auftrage seiner Regierung darauf hin10 – dass die allgemeine politische Lage «angesichts der abnehmenden Widerstandskraft Ojukwus für Aktionen neutraler Staaten ungünstig sei», – dass jede Aktion in erster Linie Ojukwu diene und als von ihm angeregt in Nigerien bei Regierung und Bevölkerung grossem Misstrauen begegne, – dass der Konflikt eine afrikanische Angelegenheit sei und sofern Hilfe von aussen komme, sie höchstens von Haile Selassie bzw. der Organisation für afrikanische Einheit (OAU) kommen sollte.
Botschafter Real in Lagos ist indessen der Meinung11, dass unser Projekt noch eine gewisse Chance habe, sofern nicht eine allgemeine Waffenruhe, sondern lediglich eine limitierte Neutralisierung des Flugplatzes Uli vorgeschlagen werde.
3. Schliesslich sei noch erwähnt, dass Premierminister Wilson12 eine erfolgreiche Aktion der Schweiz und anderer Neutraler begrüssen würde. Wir seien indessen mit den gleichen Problemen konfrontiert wie die anderen, die sich bisher um eine Vermittlung bemüht haben. III.
Angesichts dieser Lage und mit der, wenn auch minimalen Aussicht auf Verwirklichung des Projekts, haben wir uns im Einvernehmen mit Wien entschlossen, der Regierung in Lagos durch unseren Botschafter vertraulich mitteilen zu lassen, dass wir nicht an eine politische Vermittlung, sondern an einen humanitären Vorschlag denken13. Diese Mitteilung wird zur wünschbaren Beruhigung der nigerianischen Regierung beitragen und allfälligen Reaktionen des Unwillens vorbeugen.
Gleichzeitig wird Botschafter Real dem Aussenminister14 mitteilen, dass wir die Absicht hätten, den beiden Parteien in Form eines Aufrufes unser Projekt «mercy-week» zu unterbreiten. Von der Stellungnahme der nigerianischen Regierung wird das weitere Vorgehen abhängen.
Im Falle einer Absage werden wir auf das Projekt wohl verzichten und unsere humanitären Bemühungen in Zusammenarbeit mit den im Einsatz stehenden Hilfsorganisationen, aber auch in der sog. «Haager Gruppe»15 weiterverfolgen müssen; diese Gruppe europäischer Länder sucht zurzeit ebenfalls nach praktikablen Lösungen, um der notleidenden Bevölkerung Biafras zu helfen16. Unsere Erfahrungen werden ein nützlicher Beitrag zu dieser Arbeit sein.
Mit dem letzten Schritt in Lagos haben wir jedenfalls alles unternommen, was in der gegebenen Situation noch möglich ist. Im Falle eines «nein» aus Lagos werden wir – trotz der misslichen Entwicklung – nach Aussen und Innen einigermassen das Gesicht wahren können.
Ein ausführliches Pressekommuniqué17 wird schliesslich u. a. mit aller Deutlichkeit hervorheben müssen, dass im subtilen Bereiche der guten Dienste bei aller Bereitschaft zur Information die Diskretion erstes Gebot der Stunde ist18.
- 1
- Notiz: E2807#1974/12#414* (074). Verfasst und unterzeichnet von H. Langenbacher.↩
- 2
- Vgl. dazu die Notiz von E. Thalmann vom 18. November 1969, dodis.ch/33610. Zur Orientierung des Bundesrats über den Plan eines Waffenstillstands vgl. das BR-Beschlussprot. II der 42. Sitzung vom 19. November 1969, E1003#1994/26#12*. Vgl. dazu auch die Notiz von M. Gelzer an W. Spühler vom 12. Dezember 1968, dodis.ch/33618.↩
- 3
- Zur Orientierung des Bundesrats über die neue Situation vgl. das BR-Beschlussprot. II der 44. Sitzung vom 1. Dezember 1969, E1003#1994/26#12*.↩
- 4
- Zur Besprechung des Plans einer «Mercy-week» mit Jugoslawien vgl. das Protokoll zum offiziellen Besuch von W. Spühler in Belgrad vom 29. und 30. Oktober 1969, dodis.ch/32393.↩
- 5
- Zu den ersten Reaktionen der nigerianischen Regierung vgl. das Telegramm Nr. 466 von F. Real an das Politische Departement vom 27. November 1969, Doss. wie in Anm. 1.↩
- 6
- Vgl. dazu das Schreiben von C. O. Ojukwu an L. von Moos vom 15. Oktober 1969, Doss. wie Anm. 1. Zu früheren Anfragen von Seiten Biafras nach den «Guten Diensten» der Schweiz vgl. die Notiz von M. Gelzer vom 21. Juni 1968, dodis.ch/33776.↩
- 7
- Vgl. dazu das Telegramm Nr. 100 der schweizerischen Botschaft in Belgrad an das Politische Departement vom 28. November 1969, E2003A#1980/85#762* (o.222.4).↩
- 8
- Vgl. dazu das Telegramm Nr. 167 der schweizerischen Botschaft in Stockholm an das Politische Departement vom 27. November 1969, ibid.↩
- 10
- Vgl. die Notiz von H. Langenbacher an W. Spühler vom 27. November 1969, Doss. wie Anm. 1.↩
- 11
- Vgl. dazu das Telegramm Nr. 469 von F. Real an das Politische Departement vom 28. November 1969, Doss. wie Anm. 1.↩
- 12
- Vgl. dazu das Telegramm Nr. 261 der schweizerischen Botschaft in London an das Poli tische Departement vom 28. November 1969, Doss. wie Anm. 7.↩
- 13
- Vgl. dazu das Telegramm Nr. 418 des Politischen Departements an die schweizerische Botschaft in Lagos vom 29. November 1969 sowie das Telegramm Nr. 471 von F. Real an das Politische Departement vom 1. Dezember 1969, E2003A#1980/85#755* (o.222).↩
- 15
- Zur sog. Haager-Gruppe vgl. auch DDS, Bd. 24, Dok. 136, dodis.ch/33251, bes. Anm. 30.↩
- 16
- Die Schweiz versuchte es dennoch weiter im Alleingang ohne die Haager Gruppe aber über die Afrikanische Union. Vgl. das Telegramm Nr. 27 des Politischen Departements an die schweizerische Botschaft in Addis Abeba vom 5. Dezember 1969, dodis.ch/33617.↩
- 17
- Pressemitteilung des Politischen Departements vom 3. Dezember 1969, dodis.ch/33616.↩
- 18
- Für eine Übersicht über die Reaktionen der schweizerischen und ausländischen Presse zu dem schweizerischen Vermittlungsversuchs vgl. die Notiz der Abteilung für internationale Organisationen des Politischen Departements vom 17. Februar 1970, dodis.ch/33814.↩
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