Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 12, doc. 210
volume linkBern 1994
more… |Österreich zwischen den Mächten. Die politische Berichterstattung der schweizerischen Vertretung in Wien 1938–1955, vol. 4, doc. 13
volume linkBern 2014
more… |▼▶Repository
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#1264* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 524 | |
Dossier title | Wien, Politische Berichte und Briefe, Militär- und Konsularberichte, Band 53 (1938–1938) |
dodis.ch/46470
Ich hatte gestern eine eingehende Aussprache mit dem zum Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten avancierten Dr. Guido Schmidt, die in mir die Überzeugung hinterlassen hat, dass der österreichische Bundeskanzler und sein aussenpolitischer Mitarbeiter sich in Berchtesgaden haben überrumpeln lassen. Ich wähle dieses Wort mit allem Vorbedacht, denn es allein scheint mir die Situation richtig zu zeichnen. Herr von Schuschnigg und Dr. Guido Schmidt fuhren nämlich auf den Obersalzberg unter dem Eindruck des für Österreich günstigen Ergebnisses der jüngsten Budapester Konferenz der Protokollstaaten, anlässlich welcher Graf Ciano das vitale Interesse Italiens an der österreichischen Unabhängigkeit neuerdings betont hatte. Die beiden Besucher auf dem Obersalzberg hegten zudem die Hoffnung, dass sich die innerpolitischen Ereignisse vom 4. Februar beim deutschen Partner in vernünftiger Mässigung und in Entgegenkommen auswirken würden.
Dies war nicht der Fall. Schon bei der Ankunft dürfte den österreichischen Unterhändlern die Anwesenheit der Generale von Brauchitsch, Keitel, von Reichenau und Sperrle ihren psychologischen Irrtum gezeigt haben. Diese Erkenntnis kann dadurch nur verstärkt worden sein, dass den österreichischen Herren mit bereits fertiggestellten schriftlichen Texten aufgewartet wurde.
Die Einladung zum Besuch auf dem Obersalzberg wurde durch Herrn von Papen Montag vergangener Woche überbracht und zwar wurde als Konferenztag der Dienstag vorgeschlagen. Bundeskanzler von Schuschnigg habe darauf sofort erklärt, in solcher Weise lasse er sich nicht zitieren. Er könne zu dem Besuche frühestens das Wochenende in Betracht ziehen. So wurde denn die Einladung auf den Samstag angenommen. Die österreichische Bundesregierung glaubte nun offenbar, in der Zeit zwischen Montag und Samstag vergangener Woche auf eine Fühlungnahme mit den verschiedenen fremden Kabinetten verzichten zu können, beziehungsweise sich pflichtgemäss auf eine Information der Protokollpartner im letzten Augenblicke beschränken zu dürfen. Wie ich Ihnen schon berichtete, mag sie zu diesem Verhalten auch durch die Erfahrung bestimmt worden sein, dass es den illegalen Nazi noch immer geglückt war, jede Verständigungsaktion mit der deutschen Regierung kurz vor ihrem Zustandekommen durch Quertreibereien zu sabotieren.
Weder Herr von Schuschnigg noch Dr. Guido Schmidt waren gefasst auf das, was auf dem Obersalzberg vor sich ging. Sie hatten sich das Zusammentreffen unter dem Aspekte der am 4. Februar manifest gewordenen deutschen inneren Schwierigkeiten und im Vertrauen auf den italienischen Partner der Römischen Protokolle leichter und psychologisch milder gedacht, ja sich eine Art freundschaftlicher Aussprache vorgestellt. Sie sollten aber bald eines ändern belehrt werden. Reichsaussenminister von Ribbentrop habe Forderungen gestellt, die zum grossen Teile abgewiesen und dann auch bei der schriftlichen Fixierung des Ergebnisses der Aussprache nochmals zurückgeschraubt werden mussten.
Adolf Hitler habe Bundeskanzler von Schuschnigg zuerst zwei Stunden unter vier Augen gesprochen. Dann erfolgten im Laufe des Nachmittags verschiedene Gesamtverhandlungen mit wechselnder Besetzung. Die österreichischen Partner waren überrascht von den Forderungen, die weit über das hinausgingen, was in der Folge bewilligt wurde. Österreich sei diesmal, so fügte Dr. Guido Schmidt bei, bis an die Grenzen des Zulässigen und Möglichen gegangen. Ein nächstes Mal müsste es auf Biegen oder Brechen gehen. So aber könnte es nicht weiter gehen. England und Frankreich müssten dies nun auch begreifen. Wenn diese beiden Staaten Wert auf Österreichs Unabhängigkeit legten, so sei der Augenblick gekommen, dies durch Taten zu beweisen. Bei der Entrevue auf dem Obersalzberg habe Österreich prinzipiell nirgends um Hilfe nachgesucht, auch nicht bei Mussolini. Es habe diesmal alles auf den eigenen Beinen durchgestanden.
Der Aussenminister fuhr fort: was Österreich nun brauche, sei Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe. Die Bundesregierung erwarte jetzt die Erklärungen Adolf Hitlers vom kommenden Sonntag. Sie rechne auch bestimmt mit der Auflösung aller illegalen nationalsozialistischen Organisationen in Österreich und deren Desavouierung von deutscher Seite.
Die in der internationalen Presse stark beachtete gestrige Reise des neuen Innen- und Sicherheitsministers Seyss-Inquart nach Berlin sei selbstredend im Einverständnis mit der Bundesregierung erfolgt. Seyss-Inquart sei übrigens praktizierender Katholik und führendes Mitglied der katholischen Aktion in seinem Wiener Bezirk. Von dieser Bindung des betont nationalen Ministers an die katholische Weltanschauung glaubt man sich offenbar eine loyale Einstellung versprechen zu dürfen.
Die letzten Tage - fuhr Dr. Guido Schmidt fort - hätten übrigens in erfreulicher Weise gezeigt, wie geschlossen die österreichische Arbeiterschaft zum Bundeskanzler stehe. Die Berufung des früheren Sozialdemokraten Watzek ins Kabinett erweise den Willen der Regierung, mit der staatstreuen Arbeiterschaft Hand in Hand zu gehen. Dass zu Beginn dieser Woche in verschiedenen industriellen Betrieben als Protest gegen Berchtesgaden Streiks aufgeflammt sind, die allerdings rasch beigelegt werden konnten, ist Ihnen aus der Presse bekannt.
Dr. Guido Schmidt teilte mir sodann mit, dass der berüchtigte Hauptmann Leopold, über dessen Rolle als offiziöser Chef der österreichischen Nationalsozialisten ich Ihnen schon mehrmals berichtete, sich nach Deutschland verzogen habe, wo er in einer pommerischen Stadt Bürgermeister werden solle. Desgleichen gingen das jüngst verhaftete Mitglied des Siebener-Ausschusses, Dr. Tavs, und der vor einigen Monaten wegen eines geplanten Bombenanschlags gegen den Bundeskanzler zu einer Zuchthausstrafe verurteilte und nunmehr amnestierte Ingenieur Woitsche nach Deutschland.
Was die Amnestie im allgemeinen anbelangt, so betonte der Aussenminister, dass bisher die Bundesregierung etwa 1500 verurteilte Nationalsozialisten begnadigt habe. Ob dazu nun noch weitere hundert Personen sich gesellen, habe praktisch keine grosse Tragweite. Die Zeitungen, so zum Beispiel die «NeueFreie Presse» von heute Abend, sprechen allerdings von etwa 300 Enthaftungen.
Abschliessend bemerkte Dr. Guido Schmidt, dass ein Scheitern der Verhandlungen auf dem Obersalzberg, beziehungsweise der Sonntag, Montag und Dienstag zwischen Wien und Berlin gepflogenen Besprechungen, Österreich hinter die Zeit vor dem Ausgleich des 11. Juli 1936 zurückgeworfen hätte. Er sagte mir sodann, dass Bundeskanzler Dr. Kurt von Schuschnigg während der ganzen Dauer der ebenso langen wie ermüdenden Aussprache mit Adolf Hitler eine ausserordentliche Nervenruhe bewiesen habe.
Die Hoffnung Österreichs sei nun, abgesehen von einem befriedigenden Passus in der Reichstagserklärung vom kommenden Sonntag, wie er wohl als selbstverständlich in Rechnung gestellt werden darf, dass der deutsche Reichskanzler sich - des erzielten Erfolges zufrieden - vom mitteleuropäischen Problem ab und der Kolonialfrage zuwende. Ob dieser fromme2 Wunsch nicht eine Illusion ist, und ob Deutschland nicht alles dennoch daran setzen wird, um nach der Version der Essener Nationalzeitung Görings die erreichte Etappe auszubauen und zum Ausgangspunkt für einen neuen Vorstoss zu machen, werden nicht die nächsten Wochen, die uns meines Erachtens eine gewisse Beruhigung und Konsolidierung der Verhältnisse bringen dürften, wohl aber die nächsten Monate erweisen. Zudem erwarte man, so sagt Dr. Guido Schmidt, auch eine heilsame Ablenkung Adolf Hitlers vom österreichischen Problem dank der Inanspruchnahme des deutschen Staatsoberhauptes durch die Pharaonenbauten des Vier-Jahresplanes, die das Antlitz der deutschen Grosstädte für Jahrhunderte umformen und zum Beispiel in Hamburg die grösste Brücke der Welt erstehen lassen sollen.
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German Realm (Politics) Austria (Politics)