Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 23, doc. 13
volume linkZürich/Locarno/Genève 2011
more… |▼▶Repository
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001E#1978/84#5338* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(E)1978/84 531 | |
Dossier title | Zusammenarbeit Österreich - Schweiz in Fragen gemeinsamer Interessen (1964–1967) | |
File reference archive | B.15.21 • Additional component: Oesterreich |
dodis.ch/31083
Besuch bei Aussenminister Kreisky
1. K[reisky] empfing mich am 6. Februar 1964 um 12.00 Uhr. Die Besprechung dauerte über eine Stunde. Sie hatte allerdings mehr den Charakter eines Monologs des Aussenministers als einer eigentlichen Diskussion. Seine Ausführungen waren ausserordentlich offen und ungeschminkt. Ich habe von K[reisky] den Eindruck eines scharfsinnigen und klaren Politikers erhalten, der nach einer bestimmten Konzeption handelt. K[reisky] war übrigens bei meinem Vortrag anwesend.
2. K[reisky] beklagte sich zuerst darüber, dass die Schweiz über Österreich schlecht informiert sei. Schliesslich sei Österreich ein Nachbarland, über das die schweizerische Öffentlichkeit ausführlich orientiert sein müsse. Wünschenswert wäre, wenn die schweizerischen Zeitungen mehr und ständige Korrespondenten unterhalten würden. K[reisky] war empört über einen Artikel über die verstaatlichten Industrien, der vor kurzem in der NZZ erschienen ist. Sein Verfasser, ein gewisser Mitiç, aus den Kreisen der Volkspartei, gebe ein ganz einseitiges Bild.
3. Nach K[reisky] ist Österreich ein durchaus lebensfähiger Staat. Es sei ein reiches Land, das über zahlreiche Bodenschätze verfüge, vor allem über Öl. Es habe auch gut qualifizierte Arbeitskräfte. In sieben bis acht Jahren werde Österreich den heutigen Lebensstandard der Schweiz erreicht haben. Österreich müsse sich deshalb nicht der EWG unter jeder Bedingung an den Hals werfen2. K[reisky] bedauert den Defaitismus gewisser Wirtschaftskreise, der in keiner Weise gerechtfertigt sei. In diesem Zusammenhang äusserte K[reisky] den Wunsch, die schweizerische Industrie möchte mehr in Österreich investieren. Genügend qualifizierte Arbeitskräfte ständen hier zur Verfügung. Es sei doch für die Schweiz zweckmässiger, in Österreich Fabriken zu errichten, als die Zahl der Italiener3 im eigenen Lande zu erhöhen. Als nachahmenswertes Beispiel erwähnte er Brown Boveri, die in der Nähe der ungarischen Grenze eine neue Industrieanlage errichten.
4. Über die Assoziationsaussichten äussert sich K[reisky] skeptisch. Die Neutralitätserfordernisse seien eine endgültige Schranke, die nicht überstiegen werden könnte. Die einzig richtige Lösung sei eine multilaterale Assoziierung der beiden europäischen Organisationen. Er werde nicht müde werden, diese These konsequent immer wieder zu vertreten, auch wenn sie heute als nicht realistisch erscheine und man ihm deswegen Vorwürfe mache. Bis zum Zustandekommen einer solchen Assoziierung könne ein Handelsvertrag mit Zollkontingenten mit der EWG abgeschlossen werden. Dieser These stimmte ich im Gespräch zu.
K[reisky] erklärt, dass die Schweiz und Österreich dank der EFTA4 in etwa vier Jahren ein einheitliches Wirtschaftsgebiet bilden würden. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten, z. B. auf dem Holzsektor, seien minim und könnten ohne weiteres überwunden werden. Die Schweiz und Österreich ergänzten sich sehr gut. Schon zwei Tage vorher hat mir übrigens Minister Kirchschläger, Rechtsberater des Aussenministeriums und vor kurzem zum Kabinettsdirektor des Aussenministers ernannt, bei sich zu Hause den Vorschlag einer Zoll union zwischen den beiden Ländern gemacht. Ich habe deshalb den Eindruck, es handle sich hier um einen Versuchsballon in der Richtung einer engeren Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Österreich.
Nach K[reisky] wird das Assoziationsproblem zur grössten innenpolitischen Krise führen, die Österreich je gekannt hat. Bei diesen Erklärungen wurde mein Gesprächspartner ausserordentlich ernst. Es handle sich um eine eigentliche Lebensfrage und nicht nur um eine solche an der Oberfläche wie die Geheimakten von Innenminister Olah, die ohne weiteres gelöst werden könne. Die ÖVP sei leider völlig gespalten. Ihre starken Leute sässen nicht in der Regierung, während ihre vernünftigen Vertreter dort nicht über den nötigen Einfluss in der Partei verfügten. Die ÖVP werde ihm persönlich und der SPÖ vorwerfen, die Lebensinteressen Österreichs für die Neutralität zu opfern. Diese Kreise wünschten nur ein Minimum an Neutralität.
K[reisky] befürchtet auch eine Intervention der Sowjetunion, sofern wirklich eine Assoziation in Aussicht stehe. Wahrscheinlich werde dann das Verfahren nach Art. 35 des Staatsvertrages5 eingeleitet werden. Für Österreich bedeute das eine Erschütterung seiner aussenpolitischen Stellung. Für die Sowjetunion sei übrigens Deutschland viergeteilt und einer dieser vier Teile stelle Österreich dar. Wenn Russland bis an den Rand des Krieges gehe, um die Wiedervereinigung Deutschlands zu verhindern, sei wohl dasselbe im Falle Österreichs zu befürchten. Die EWG-Anhänger in Österreich gingen dieses Risiko bewusst ein. Das russische Einschreiten werde eine grosse Vertrauenskrise bewirken. Das werde auch zu einer Kapitalflucht führen. Materiell sei diese allerdings nicht tragisch zu nehmen, da die österreichischen Währungsreserven sehr gross seien.
K[reisky] hält an der EFTA fest. Der Kündigungsartikel des EFTA-Vertrages ist nach ihm durch die Londoner und Genfer Erklärungen6 überholt. Eine Kündigung sei rechtlich nicht mehr möglich. Zwar würden die EFTA-Partner Österreich diese wohl zugestehen und keine Schwierigkeiten machen. Aber die Vertragsfähigkeit und Vertrauenswürdigkeit Österreichs wären dann dahin. Über die negative Reaktion des Stellvertreterrates der EWG zu den Ergebnissen der Sondierungsgespräche zwischen Österreich und der EWG war Kreisky orientiert.
Österreich müsse grundsätzlich die Neutralität beibehalten und zwar nach dem Muster der Schweiz. Die Russen wollten Österreich immer das Beispiel Finnlands und seiner Neutralität aufdrängen, mit der Verpflichtung zur gegenseitigen Konsultation. Wenn das Vorbild der Schweiz aufgegeben werde, habe die österreichische Neutralitätspolitik überhaupt keinen Halt mehr.
Schliesslich äusserte sich K[reisky] noch äusserst kritisch über den amerikanischen Unterstaatssekretär George Ball, der ein völlig falsches Bild über Europa habe und einen ungünstigen Einfluss ausübe.
[…]7
- 1
- Notiz: E 2001(E) 1978/84 Bd. 531 (B.15.21). Verfasst und unterzeichnet von R. Bindschedler.↩
- 2
- Zur österreichischen EWG-Assoziation vgl. DDS, Bd. 23, Dok. 148, dodis.ch/31105, Anm. 13.↩
- 3
- Zur Frage der italienischen Arbeitskräften in der Schweiz vgl. DDS, Bd. 23, Dok. 37, dodis.ch/30798; Dok. 48, dodis.ch/30799; Dok. 53, dodis.ch/30796 und Dok. 54, dodis.ch/30797.↩
- 4
- Zur EFTA vgl. DDS, Bd. 23, Dok. 172, dodis.ch/31640, bes. Anm. 10.↩
- 5
- Zum österreichischen Staatsvertrag vgl. DDS, Bd. 20, Dok. 7, dodis.ch/10072, und Dok. 10, dodis.ch/10061. Vgl. ferner zu den Moskauer Gesprächen das österreichische Protokoll vom 12. April 1955, dodis.ch/31088.↩
- 6
- Vgl. die Londoner Erklärung vom 28. Juni 1961, dodis.ch/30785 und die Genfer Erklärung vom 31. Juli 1961, dodis.ch/30784. Vgl. dazu ferner DDS, Bd. 22, Dok. 3, dodis.ch/30118; Dok. 4; dodis.ch/30120; Dok. 6, dodis.ch/30122 und Dok. 17, dodis.ch/30126. Vgl. ferner das BR-Verhandlungsprot. der 24. Sitzung vom 30. März 1965, E 1003(-) 1994/26 Bd. 3, S. 5: F. T. Wahlen[…]: Es soll verzichtet werden, eine zweite Londonerklärung zu erlangen.↩
- 7
- Für das vollständige Dokument vgl. dodis.ch/31083.↩
Tags
Austria (Economy) European Union (EEC–EC–EU)