Politische und wirtschaftliche Lage Österreichs: positive Auswirkungen der Teilnahme am Marshallplan. Hoffnung auf einen Staatsvertrag mit den Alliierten. Äusserungen Figls.
Pubblicato in
Documenti Diplomatici Svizzeri, vol. 17, doc. 57
volume linkZürich/Locarno/Genève 1999
Dettagli… |Österreich zwischen den Mächten. Die politische Berichterstattung der schweizerischen Vertretung in Wien 1938–1955, vol. 4, doc. 84
volume linkBern 2014
Dettagli… |▼▶Collocazione
Archivio | Archivio federale svizzero, Berna | |
▼ ▶ Segnatura | CH-BAR#E2300#1000/716#1267* | |
Vecchia segnatura | CH-BAR E 2300(-)1000/716 524 | |
Titolo dossier | Wien, Politische Berichte und Briefe, Militär- und Konsularberichte, Band 56 (1947–1948) |
dodis.ch/5340 Der schweizerische Gesandte in Wien, P. A. Feldscher, an den Vorsteher des Politischen Departements, M. Petitpierre1
Wer die gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in Wien mit den Zuständen vergleicht, die vor einem Jahr in der österreichischen Hauptstadt geherrscht haben, der kann nicht umhin anzuerkennen, dass beachtliche Fortschritte in der Wiederbelebung der Wirtschaft und auch in der Festigung der moralischen Widerstandskraft der Bevölkerung gegenüber allen destruktiven Einflüssen erzielt worden sind. Ob dieses erfreuliche Ergebnis in erster Linie der amerikanischen Hilfe, der allgemeinen Hebung der Produktion oder der Währungsreform2 zuzuschreiben ist, lässt sich nicht leicht beantworten, aber es ist wohl nicht zu bestreiten, dass der entschlossenen und klugen Haltung der österreichischen Regierung das Hauptverdienst an diesem Erfolg zukommt. Sie hat es immer wieder verstanden, die beiden Regierungsparteien trotz allen Sprengungsmanövern der Geschlossenheit des Regierungskurses einzuordnen, und damit den unverminderten Schwierigkeiten, die ihr infolge der Besetzung des Landes erwachsen, mit Mut und Entschlossenheit zu begegnen. Nicht ohne Berechtigung hat der Bundeskanzler dem Unterzeichneten gegenüber auf die Tatsache verwiesen, dass das unter militärischer Besetzung befindliche Österreich es gewagt hat, an den Beratungen des Marshall-Planes sich vertreten zu lassen3, während die Tschechoslowakei die hierzu erforderliche Handlungsfähigkeit nicht mehr aufgebracht habe. Es darf in diesem Zusammenhang streng vertraulich auch die Tatsache festgehalten werden, dass die tschechoslowakischen «Oppositionsparteien» Fühlung mit der österreichischen Regierung suchen, weil sie sich offenbar immer mehr dessen bewusst werden, dass sie im Kampf um die Erhaltung der Unabhängigkeit ihres Landes in gleicher Front stehen.
Wenn somit im österreichischen Osten ein gewisser gemässigter Optimismus sich geltend macht, so geht anderseits das Rätselraten um den Staatsvertrag weiter. Der österreichische Aussenminister, den ich vor seiner Abreise nach London4 gesprochen habe, hat mir gegenüber keine allzu grosse Zuversicht an den Tag gelegt, während Herr Bundeskanzler Figl seine optimistische Grundeinstellung stets bewahrt hat und an einem baldigen positiven Ergebnis nicht zweifeln will. Von alliierter Seite wie auch in Kreisen der Wirtschaft ist man dagegen in dieser Frage nach wie vor skeptischer eingestellt und will nicht recht glauben, dass noch das Jahr 1948 dem österreichischen Volke die ersehnte Befreiung von den Befreiern bringen werde. Obschon die österreichische Regierung, um nur die Besetzung des Landes loszuwerden, zu weitgehenden Konzessionen bereit wäre, ist es doch offenkundig, dass die Entscheidung über das Schicksal Österreichs vorab in amerikanischer Hand liegt, nachdem das verlangte Lösegeld in Dollar unter den heutigen Verhältnissen nur von den Vereinigten Staaten geleistet werden könnte5.
Dass das österreichische Problem im übrigen nach wie vor von der russischamerikanischen Spannung beherrscht wird, zeigte sich gestern, anlässlich einer Feier zum 30. Gründungstag der Roten Armee, in deren Verlauf der sowjetrussische Hochkommissar, Generaloberst Kurassov, eine Rede hielt und darin den «imperialistisch-kapitalistischen» Westmächten vorwarf, dass sie mit den im zweiten Weltkrieg verdienten Dollars einen neuen Krieg zu entfachen sich anschicken. Der britische und amerikanische Geschäftsträger6 verliessen daraufhin demonstrativ die Festversammlung, zu der sie von der Veranstalterin, der sowjetrussisch-österreichischen Gesellschaft, eingeladen worden waren.
Angesichts des Verlaufes der Dinge in der Tschechoslowakei und in den Staaten des Donauraumes hat Herr Bundeskanzler Figl mir gegenüber mit Nachdruck hervorgehoben, dass Wien wieder wie im Jahre 1683 Bollwerk gegen den Ansturm des Ostens sei und wie es damals für den Westen von entscheidender Bedeutung gewesen sei, dass auf dem Stephansdom nicht der Halbmond wehe, so handle es sich heute um eine Frage von gleicher Tragweite, nämlich darum, ob auf dem ehrwürdigen Wahrzeichen Wiens der sowjetrussische Stern mit Sichel und Hammer gehisst werden solle. Mit dieser Bemerkung beabsichtigte er auf das hohe Interesse hinzuweisen, das auch die Schweiz am Ausgang der Auseinandersetzung habe, doch hat er damit wohl auch dem von ihm stets bekundeten offiziellen Optimismus einen gewissen Dämpfer aufgesetzt.
- 1
- E 2300 Wien/56.↩
- 2
- Die österreichische Währungsreform wurde im November 1947 durchgeführt.↩
- 3
- Österreich hat am 13. Juni 1947 die Einladung zur Pariser Konferenz angenommen.↩
- 4
- Karl Gruber war nach London gereist, um an der Wiederaufnahme der Verhandlungen der alliierten Staaten zum österreichischen Staatsvertrag teilzunehmen.↩
- 5
- Am 24. Januar 1948 hat die Sowjetunion Vorschläge zur Behandlung des ehemaligen deutschen Eigentums in Österreich beim Sekretariat der vertagten Londoner Aussenministerkonferenz (25. November–15. Dezember 1947) eingereicht. Die Verhandlungen zu einem Staatsvertrag mit Österreich hatten ein Jahr zuvor – im Januar 1947 – mit einem Staatsvertragsentwurf der Stellvertreter der vier alliierten Aussenminister begonnen. Einer der neuen sowjetischen Vorschläge sah eine Ablösesumme von 200 Mio. Dollar für den sowjetischen Verzicht auf weitere Ansprüche auf deutsche industrielle Unternehmungen in Österreich vor.↩
- 6
- Die beiden Personen konnten nicht identifiziert werden.↩
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