Eine "de facto" Vermittlung zwischen Bern und Moskau durch Grossbritannien; Frage einer schweizerischen Mission beim Alliierten Kontrollrat in Berlin. Schweizerische Interessen in Deutschland.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 16, doc. 14
volume linkZürich/Locarno/Genève 1997
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001D#1000/1558#21* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(D)1000/1558 3 | |
Dossier title | Beziehungen zu Russland nach der russischen Absage: Allgemeines (1944–1945) | |
File reference archive | B.15 • Additional component: Russland: Anerkennung Sowjet-Russlands |
dodis.ch/1914 Der schweizerische Gesandte in London, P. Ruegger, an den Chef der Abteilung für Auswärtiges des Politischen Departements, W. Stucki1
Empfangen Sie meinen besten Dank für Ihr Schreiben vom 19. Juni2 betreffend unser Verhältnis zu Soviet-Russland und die Erlebnisse der Schweizer Diplomaten unter russischer Herrschaft. Ihre Mitteilungen haben mich ganz besonders interessiert.
Was den ersten Punkt anbetrifft, so habe ich, wie Sie aus meinem Telegramm3 ersehen haben, allen Grund zur Annahme, dass vor oder anlässlich der bevorstehenden Dreier-Konferenz von englischer Seite ein Vorstoss unternommen werden wird, um in geeigneter Form das Problem unseres Verhältnisses zu Soviet-Russland zur Sprache zu bringen4. Ohne dass wir irgendwie die «Mediation» Englands nachsuchten, besteht offenbar ein britisches Interesse daran, unsere Beziehungen zu der URSS einigermassen erträglicher zu gestalten. De facto übt bereits, wenn wir die zahlreichen Interventionsgesuche summieren, das Foreign Office via die Britische Botschaft in Moskau die Funktion einer Schutzmacht für unsere Interessen im russisch besetzten Gebiete aus. England selbst muss es daran liegen, im ersten geeigneten Zeitpunkt die Wahrung dieser Interessen uns selbst zu überlassen, bezw. einen Kanal des regulären Verkehrs, wenigstens de facto, zwischen uns und den sovietrussischen Behörden zu eröffnen. Die Andeutung, die mir der Ständige Unterstaats-Sekretär, Botschafter Cadogan, nach dieser Richtung hin in mehreren unserer letzten Gespräche machte, sind präzis. Freilich fragt es sich, ob und in welchem Masse sich die Gelegenheit ergibt, mit einem gewissen Nachdruck anlässlich der bevorstehenden Konferenz in Potsdam auf die Wünschbarkeit einer Art Regelung der Beziehungen von Moskau zu uns zu drängen. Der erste Schritt wird sein, zu eruieren, was die Russen eigentlich wollen. («to see where we stand»).
So wie die Dinge heute liegen, glaube ich, dass die Anbahnung der Errichtung einer Mission beim alliierten Kontrollrat für Deutschland5 auch unter der Perspektive unserer künftigen Beziehungen zu der URSS sehr wichtig ist. Auch darum habe ich es so sehr begrüsst, vom Departement ausdrücklich ermächtigt zu werden, den Wunsch auf eine reguläre Vertretung (sobald die kleineren Alliierten ihre Missionen bestellt haben werden) zu stellen. Auf weitere Sicht ist zu hoffen, dass unsere Mission sich in Berlin etablieren kann, nachdem unsere Gesandtschaftsgebäude sich offenbar in der englisch kontrollierten Zone Berlins befinden. Hieraus könnten sich – auch wenn eine de jure Regelung des Verhältnisses der Schweiz zu Soviet-Russland auf sich warten liesse – de facto Beziehungen mit den russischen Behörden ergeben, die noch bedeutend wichtiger sein werden als diejenigen in Prag, Bukarest, Sofia und Helsinki (und wohl einmal auch in Polen). Überhaupt dürfte die Mission beim Kontrollrat in Deutschland – wenn es gelingt, sie zu errichten – eine der wichtigsten sein. Von Seiten des Foreign Office besteht alles Verständnis für die Wichtigkeit der von uns in Deutschland zu wahrenden Interessen; auf wirtschaftlichem Gebiete redet schon für sich allein die dreiseitige Liste schweizerischer Zweigniederlassungen in Deutschland, die wir dem Foreign Office übermittelten, eine deutliche Sprache.
Streng vertraulich möchte ich Ihnen bei dieser Gelegenheit mitteilen, dass gewisse Anzeichen die Möglichkeit nicht als ausgeschlossen erachten lassen, dass sich in Soviet-Russland plötzlich ein revirement im Sinne der Bereitwilligkeit zur offiziellen Anknüpfung der Beziehungen mit uns vollziehen kann. Gerade heute habe ich aus der Umgebung der obersten Leitung des Foreign Office vernommen, dass möglicherweise unser Verhältnis zu der URSS sich rasch klären könne. (Dies wurde im Zusammenhang mit der Frage des Sitzes der künftigen Sicherheitsorganisationen gesagt, für dessen Wahl Wien nunmehr ausgeschlossen scheint, während Genf, wenigstens für technische Institutionen, noch einige Befürworter besitzt).
Sodann – und ohne dieser letzten Äusserung zuviel Bedeutung beizumessen – möchte ich eine Besprechung erwähnen, die anscheinend einer der Botschaftsräte der Soviet-Botschaft hier in London mit Herrn Kullmann, vom Völkerbundskommissariat für Flüchtlingsfragen, hatte und über die der Letztere einem meiner Mitarbeiter berichtete. Darnach soll der betreffende Botschaftsrat ebenfalls eine Andeutung bezüglich der Möglichkeit eines plötzlichen revirements gemacht haben, unter Beifügung, dass diesfalls von der Schweiz Kredite für die URSS verfügbar wären. Natürlich kann es sich hiebei um eine rein persönliche Boutade handeln. Da ich auf Herrn Kullmann zu sprechen komme, möchte ich auf die Teilnahme zurückkommen, die dieser an der Vorbereitung gewisser der Besprechungen hatte, welche im Frühjahr letzten Jahres von Herrn Legationsrat Rezzonico im Auftrag des Departements in London durchgeführt wurden6 und deren sich Herr Rezzonico, wie ich erneut feststellen möchte, im Rahmen der ihm erteilten Instruktionen und des damals Möglichen trefflich entledigt hat. Für diese offiziösen Vorbesprechungen war, wie Sie sich erinnern, mit Hülfe des Herrn Dejean der Weg über den Soviet-Vertreter bei den Exilregierungen, Herrn Lebedew, gewählt worden7. Nach Äusserungen, die Herr Kullmann anscheinend hier und offenbar auch anderswo gemacht hat, ist dieser Völkerbundsbeamte der Ansicht, dass auch im Herbst des letzten Jahres8 auf dem gleichen Wege hätte weitergefahren werden sollen. Es ist Ihnen bekannt – doch ist es vielleicht nicht unnütz, dies Ihnen in Erinnerung zu rufen – dass einem solchen Vorgehen nicht nur der Wortlaut der mir im Juni 1944 übergebenen Instruktionen9 widersprach, die eine Fühlungnahme mit «dem offiziellen Vertreter der URSS in London» vorschrieb, namentlich aber, und dies ist es verfrüht, Herrn Kullmann zu explizieren, dass die höchsten Exponenten des Foreign Office, mit denen ich ebenfalls auftragsgemäss, in konstanter Fühlungnahme blieb, ausdrücklich davor abrieten, irgendeinen andern Weg einzuschlagen als über den des offiziellen Vertreters Soviet-Russlands, d. h. des Botschafters bei der britischen Regierung. Nicht nur war der Unterstaatssekretär im Foreign Office dieser bestimmten Ansicht, sondern namentlich auch der beste Experte des Foreign Office für russische Angelegenheiten, Botschafter William Strang, der erklärte «that is the only proper thing to do».
Ich möchte diese Reminiszenz festgehalten wissen für den Moment in dem, hoffentlich nach einer günstigen Lösung der Russland-Angelegenheit10, möglicherweise auf früheres zurückgegriffen werden kann.
Ich wäre Ihnen dankbar, vom Inhalt dieses Schreibens auch dem Herrn Departementschef Kenntnis geben zu wollen.
- 1
- Schreiben: E 2001 (D) 9/3.↩
- 2
- Vgl. E 2200 London 44/14.↩
- 3
- Vgl. das Telegramm P. Rueggers an das EPD vom 26. Juni 1945, ebd.↩
- 4
- Zur Vorgeschichte der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und der UdSSR siehe E 2001 (E) 3/1, E 2001 (D) 9/1 –4, DDS, Bd. 16, Dok. 64, dodis.ch/50 sowie Thematisches Verzeichnis in diesem Band: UdSSR – Politische Beziehungen. Siehe auch DDS, Bd. 15, Thematisches Verzeichnis: II.24.2. Union soviétique – Reprise des relations diplomatiques.↩
- 5
- Zur Frage einer schweizerischen Mission beim AKR in Berlin siehe DDS, Bd. 16, Dok. 85, dodis.ch/1698; zur selben Problematik vgl. die Notiz von R. Bindschedler an A. Huber vom 8. November 1946, dodis.ch/1741, sowie die Notiz von F. de Diesbach an das EPD vom 8. Februar 1946, dodis.ch/1742. Vgl. auch E 2001 (E) 1/261.↩
- 6
- Siehe E 2001 (D) 9/2.Vgl. auch DDS, Bd. 15, Dok. 98, dodis.ch/47702, Dok. 110, dodis.ch/47714, Dok. 113, dodis.ch/47717.↩
- 7
- Vgl. das Telegramm der schweizerischen Gesandtschaft in London an das EPD vom 30. März 1944, ebd.↩
- 8
- Vgl. DDS, Bd. 15, Dok. 277, dodis.ch/47881.↩
- 9
- Vgl. Instructions à M. le Ministre Ruegger pour ses contacts officieux avec les représentants des Soviets en Angleterre vom 5. Juli 1944, E 2200 London 63/1.↩
- 10
- Zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und der UdSSR siehe E 2001 (E) 3/1, E 2001 (E) 1979/28/1 sowie Thematisches Verzeichnis in diesem Band: UdSSR – Politische Beziehungen. Siehe auch DDS, Bd. 16, Dok. 64, dodis.ch/50.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/1914 | is the completion to | http://dodis.ch/1742 |
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http://dodis.ch/1914 | is quoted in | http://dodis.ch/1741 |
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