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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 25, doc. 80
volume linkZürich/Locarno/Genève 2014
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2003A#1984/84#571* | |
Old classification | CH-BAR E 2003(A)1984/84 286 | |
Dossier title | Collaboration entre l'Europe et les USA au sujet du programme POST-APOLLO (1970–1972) | |
File reference archive | o.191.010.6 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2200.36#1984/185#863* | |
Old classification | CH-BAR E 2200.36(-)1984/185 109 | |
Dossier title | Post-Apollo Programm (Shuttle etc) (1970–1972) | |
File reference archive | 652.63 |
dodis.ch/35403 Notiz des Chefs der Rechtsabteilung, E. Diez, an die Abteilung für internationale Organisationen des Politischen Departements1
EUROPÄISCH-AMERIKANISCHE ZUSAMMENARBEIT IM RAHMEN DES APOLLO-NACHFOLGE-PROGRAMMS DER NASA2
Mit Notiz vom 14. Mai 19713 haben Sie uns gebeten zu prüfen, ob eine schweizerische Beteiligung an der Zusammenarbeit im Rahmen des Apollo-Nachfolge-Programms, zu der die USA die europäischen Staaten der CSE eingeladen haben, mit der Neutralität vereinbar wäre. Ins Gewicht fällt dabei insbesondere, dass die NASA und die amerikanische Luftwaffe übereingekommen sind, die wichtigsten Bestandteile des Apollo-Nachfolge-Programms, den Raumtransporter und die Raumfähre, gemeinsam zu entwickeln. Dies wirft in der Tat heikle und schwierige Fragen auf.
1. Die Pflichten der gewöhnlichen Neutralität, die das Bestehen eines Krieges und die Nichtbeteiligung eines Staates an demselben zur Voraussetzung hat, lassen sich auf den Grundsatz zurückführen, dass der neutrale Staat nicht in den Konflikt zugunsten einer Partei eingreifen darf (Verbot der Intervention). Der neutrale Staat ist verpflichtet, sein Territorium und seinen Luftraum wenn nötig mit Waffengewalt zu verteidigen, dies nach Massgabe seiner Mittel.
Für den dauernd neutralen Staat bestehen im Unterschied zur gewöhnlichen Neutralität Rechte und Pflichten schon in Friedenszeiten, des Inhalts, keinen Krieg zu beginnen und die Neutralität und Unabhängigkeit zu verteidigen (Hauptpflichten). Hinzu kommen die sekundären Pflichten (Vorwirkungen) des dauernd neutralen Staates: alles zu tun, um nicht in einen Krieg hineingezogen zu werden, und alles zu unterlassen, was ihn in einen Krieg hineinziehen könnte. Der ständig neutrale Staat ist verpflichtet, eine Neutralitätspolitik zu führen, deren Durchführung indessen Sache seines freien Ermessens ist. Im Sinne der Vorwirkungen darf der ständig neutrale Staat insbesondere keine Bündnisse abschliessen, die ihn zum Kriegführen verpflichten würden.
Der Zweck der Neutralität besteht in der Wahrung der Unabhängigkeit. Alles, was der Unabhängigkeit dient, ist also grundsätzlich erlaubt, wenn es nicht in offenem Widerspruch zur Neutralität steht. Die Neutralitätspolitik besteht einerseits darin, die Neutralitätspflichten restriktiv auszulegen. Andererseits liegt es oft im Interesse der Glaubwürdigkeit, ein Mehreres zu tun. Hierin besteht ein gewisser Widerspruch, den es nach den Erfordernissen im Einzelfalle zu lösen gilt.
2. Die geplante europäisch-amerikanische Zusammenarbeit dürfte voraus sichtlich, um es vorderhand allgemein auszudrücken, gewisse militärische Aspekte aufweisen. Ein Teil des Apollo-Nachfolge-Programms verfolgt bereits in seiner Konzeption auch militärische Ziele («Erhöhung der nationalen Sicherheit durch Ausweitung der Raumfahraktivität auf militärische Bereiche»4). Es ist deshalb zunächst grundsätzlich der Rahmen abzustecken, in dem sich Beziehungen mit militärischem und rüstungspolitischem Einschlag für einen neutralen Staat bewegen dürfen. Dabei sind drei Problemkreise zu unterscheiden, nämlich die Waffenimporte durch den neutralen Staat, die Unterstützung der Aufrüstung eines Staates durch den Neutralen und die beidseitige Rüstungszusammenarbeit.
a) Weder das Neutralitätsrecht noch die Pflicht zur Führung einer Neutralitätspolitik schreiben der Schweiz vor, wo sie ihr Kriegsmaterial beziehen soll. Sie ist völlig frei, dasselbe im eigenen Land zu erstellen oder aus dem Auslande einzuführen. Wählt sie den letzteren Weg, so hat sie die Freiheit, das Kriegsmaterial aus denjenigen Staaten zu importieren, wo es überhaupt erhältlich ist oder wo es zu den günstigsten Bedingungen angekauft werden kann. Dabei müssen nicht etwa alle ausländischen Staaten oder wenigstens die Parteien in einem zukünftigen Konflikte gleichmässig berücksichtigt werden. Diese Freiheit könnte ihre Grenzen höchstens dann erreichen, wenn wir durch dauernde Bezüge von Kriegsmaterial aus einem bestimmten Staate uns in dessen Abhängigkeit begeben würden und essentielle Teile unserer Rüstung ohne dessen Mithilfe überhaupt nicht mehr zu unterhalten, zu reparieren oder mit Munitionsnachschub zu versehen in der Lage wären.
Die Beschaffung hat sich ferner auf rein kommerzieller Basis abzuspielen und darf nicht mit irgendwelchen politischen Bedingungen verknüpft werden. Mit der Neutralitätspolitik kaum vereinbar wäre auch die Entgegennahme von ausländischem Kriegsmaterial in direkter oder verschleierter Form eines Geschenkes (z. B. «lend and lease», mietweise Überlassung, stark reduzierte Preise, besonders vorteilhafte Tauschgeschäfte)5.
Dies bedeutet aber nicht etwa, dass aus aussenpolitischen Gründen eine möglichst umfangreiche Beschaffung von Kriegsmaterial aus neutralen Staaten nicht sehr zu begrüssen wäre.
b) Das Neutralitätsrecht untersagt es dem neutralen Staat, den Kriegführenden finanzielle Unterstützung – z. B. Anleihen oder finanzielle Leistungen zur direkten Verwendung für die Kriegführung – zu gewähren oder ihnen Waffen und Munition zu liefern. (Anders verhält es sich für die Privatpersonen.)
Der ständig neutrale Staat darf nicht, auch nicht z. B. durch wirtschaftspolitische Massnahmen, die Aufrüstung anderer Staaten ausdrücklich oder absichtlich unterstützen, da er dadurch wohl seine Haltung in einem Krieg präjudizieren und Zweifel an seinem Verhalten aufkommen lassen würde6.
c) Die Fragen der Landesverteidigung werden für kleine und mittlere Staaten immer schwieriger, nicht nur aus Gründen der Rüstungsfinanzierung, sondern auch der Technologie selbst. Es sind grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten der Rüstungszusammenarbeit denkbar: – Informations- und Erfahrungsaustausch – gemeinsame oder arbeitsteilige Entwicklung von Kriegsmaterial – gemeinsame oder arbeitsteilige Forschung – gemeinsame Ausbildungsplätze.
Für die Schweiz nicht in Frage kommt eine operative Zusammenarbeit, auch nicht mit neutralen Staaten. Neutralitätsrechtlich wäre an sich eine militärische oder rüstungstechnische Zusammenarbeit zulässig, die nur der Schweiz Vorteile brächte und ihr keine Verpflichtungen auferlegen würde. Neutralitätspolitisch wäre eine solche Zusammenarbeit aber bedenklich, stellt sie eben doch eine Anlehnung dar.
Nach der bisherigen Praxis der Schweiz erfolgt eine militärische Zusammenarbeit nur mit neutralen Staaten7, und zwar beschränkt auf Informationsaustausch, gemeinsame Forschung, Projektierung und Beschaffung sowie gemeinsame Benützung von Einrichtungen für Erprobungszwecke.
3. Im Lichte dieser Grundsätze kommt es entscheidend darauf an, welcher Art die militärischen Elemente sind, die das vorgesehene Post-Apollo-Projekt in sich schliesst. Hierüber sind offenbar erst fragmentarische Hinweise erhältlich.
Positiv fällt ins Gewicht, dass gemäss Agreement zwischen der NASA und dem Department of the Air Force vom 10. Februar 19708 «the development of the STS (Space Transportation System) will be managed by NASA». Gegenstand dieses Vertrages ist übrigens nur der Raumtransporter (shuttle). Wie wir einer Notiz von Botschaftsrat Chavaz vom 27. April 19719 entnehmen, ist ebenfalls vorgesehen, dass das Programm aus dem Budget der NASA finanziert werden soll. Aus einer weiteren Notiz von Herrn Chavaz vom 28. April 197110 ergibt sich, dass sich, wenigstens vorderhand, auf europäischer Seite nur zivile Stellen für das Projekt interessieren.
Offen und von schweizerischen Fachleuten noch abzuklären ist, inwiefern sich das Shuttle auch für militärische Zwecke eignen würde. An und für sich würde eine allfällige Ambivalenz des Transporters einer Zusammenarbeit Schweiz–USA nicht von vorneherein im Wege stehen. Es ist etwa darauf hinzuweisen, dass z. B. die gemeinsame Entwicklung von Lastwagen unbedenklich wäre, obschon solche auch für Truppen- oder Munitionstransporte verwendbar sind. Im vorliegenden Fall verhält es sich jedoch anders, da die Air Force von Anfang an auf die Spezifikationen einen beträchtlichen Einfluss nimmt, wie namentlich aus der Mitteilung auf raschem Wege aus Washington vom 28. Mai 197111 hervorgeht; auch nach dem erwähnten Agreement muss das STS «be of maximum utility to both NASA and the DOD (Department of Defense)», «fulfill the objectives of both the NASA and the DOD», «meet DOD and NASA requirements». (Ziffer I, II lit. A und lit. B).
4. Von grosser Bedeutung ist sodann, in welcher Weise die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten und den USA ausgestaltet würde. Hierüber sind erst vage Besprechungen geführt worden. Wie wir dem Bericht vom 7. April 197112 über die vierte Ministerkonferenz der Europäischen Weltraumkonferenz, Seite 16, entnehmen, verstehen die USA im Sinne einer Arbeitshypothese unter Beteiligung die Verpflichtung der europäischen Staaten, mindestens 10% an die Entwicklungskosten beizutragen; in bezug auf den Anteil Europas an Programmentscheidungen, am Management und an Informationen blieben die Amerikaner in ihren Zugeständnissen bisher zurückhaltend.
Wie wir weiter oben ausgeführt haben, verbietet das Neutralitätsrecht dem neutralen Staat, den Kriegführenden finanzielle Unterstützung für die Kriegführung zu gewähren. Angesichts dessen ist im Frieden – immer vorausgesetzt, dass beim Post-Apollo-Programm militärische Komponenten ins Gewicht fallen – aus neutralitätspolitischen Gründen hinsichtlich der Mitfinanzierung immerhin Vorsicht geboten. Andererseits soll der neutrale Staat, wie wir ebenfalls dargelegt haben, auf dem Rüstungssektor keine Geschenke entgegennehmen. Aus diesen beiden Erwägungen ergibt sich das Postulat, dass die vorgesehene Zusammenarbeit in Leistung und Gegenleistung ausgewogen sein müsste, was sich im übrigen nicht nur aus neutralitätspolitischen, sondern zweifellos auch aus anderen Überlegungen aufdrängen wird.
Was den Informationsaustausch anbelangt, so dürften jedenfalls keine geheimen Informationen in einer Weise ausgetauscht werden, die im Kriegsfall die Verteidigung der Schweiz gegen amerikanische Neutralitätsverletzungen oder Angriffe in Frage stellen würde. In dieser Hinsicht wirkt es sich vorteilhaft aus, dass gemäss dem mehrfach zitierten Agreement zwischen NASA und Department of the Air Force «the project will be generally unclassified».
5. Angesichts der zahlreichen unbekannten Faktoren, namentlich der noch vagen Informationen über die militärische Verwendbarkeit, die Intensität der Zusammenarbeit zwischen NASA und Air Force, die Art der Zusammenarbeit Europa–USA und die Motive der USA, können wir uns selbstverständlich nicht abschliessend äussern. Wir konnten lediglich einige Überlegungen aufzeigen, die es im Rahmen der künftigen Verhandlungen zu berücksichtigen gilt. Sollte es zur Realisierung gewisser, jetzt erkenn barer Tendenzen kommen, wären jedenfalls erhebliche neutralitätspolitische Bedenken vorhanden. Die Schweiz wird sich bemühen müssen, im Rahmen des Möglichen die als negativ bezeichneten Faktoren auszuschalten oder doch zu mildern. Erst anhand der allfälligen Ergebnisse der Verhandlungen wird unter Abwägung aller Elemente die Frage nach der Vereinbarkeit mit der Neutralität beantwortet werden können.
Obschon bereits in der heutigen Situation zahlreiche neutralitätspolitische Bedenken bestehen, glauben wir nicht, dass sich die Schweiz überhaupt von den Besprechungen zurückziehen muss. In Anbetracht des bedeutenden, um nicht zu sagen lebenswichtigen Interesses der Schweiz an einer internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Raumfahrt lässt es sich verantworten, dass die Schweiz auf Zusehen hin an den Besprechungen weiterhin teilnimmt, nicht zuletzt um ihr die Möglichkeit zu geben, auf das Projekt den Einfluss zu nehmen, der ihr die Erfüllung ihrer Neutralitätspflichten ermöglichen wird.
P. S. Wir möchten noch erwähnen, dass trotz der Zusammenarbeit NASA– Air Force kaum anzunehmen ist, dass die USA den allfälligen europäischen Partnern Einblick in irgendwelche militärische Geheimnisse gewähren wer den.
- 1
- Notiz: CH-BAR#E2003A#1984/84#571* (o.191.010.6). Verfasst von F. Moser. Gemäss der handschriftlichen Marginalie von P. Niederberger gingen Kopien an die Abteilung für Wissenschaft und Forschung des Departements des Innern, die schweizerischen Botschaften in Paris und Washington, an die Finanzverwaltung des Finanz- und Zolldepartements z. H. von H.- U. Ernst und an R. Wermuth.↩
- 2
- Zur Frage der Beteiligung europäischer Staaten am Post-Apollo-Programm vgl. die Notiz von O. Uhl an E. Vallotton vom 1. Mai 1970, dodis.ch/36117; die Notiz von G. Chavaz vom 21. September 1970, dodis.ch/36119; das Protokoll vom 24. November 1970 der Sitzung vom 20. November 1970 von G. Chavaz, dodis.ch/36121; das Schreiben von R. Bonvin an H. Leussink vom 29. Dezember 1970, dodis.ch/36122; das BR-Prot. Nr. 1122 vom 26. Juni 1972, dodis.ch/36123 und die Notiz von J. O. Quinche vom 10. Juli 1972, dodis.ch/36124.↩
- 3
- Notiz von R. Keller an die Rechtsabteilung des Politischen Departements vom 14. Mai 1971, Doss. wie Anm. 1.↩
- 4
- Fussnote im Originaltext: The Post-Apollo Space Program: Directions for the Future, Space Task Group Report to the President, September 1969.↩
- 5
- Fussnote im Originaltext: R. L. Bindschedler, Die Schweiz und die Ferngeschosse – völkerrechtliche und aussenpolitische Probleme, ASMZ 1958, S. 412.↩
- 6
- Zum Kriegsmaterialexport durch neutrale Staaten vgl. DDS, Bd. 25, Dok. 64, dodis.ch/35690.↩
- 7
- Vgl. dazu DDS, Bd. 25, Dok. 64, dodis.ch/35690, Anm. 10.↩
- 8
- Agreement between the National Aeronautics and Space Administration and the Depart- ment of the Air Force concerning the Space Transportation System vom 17. Februar 1970, Doss. wie Anm. 1.↩
- 10
- Notiz von G. Chavaz Quelques premières questions au sujet de Post Apollo et la neutralité vom 28. April 1971, Doss. wie Anm. 1.↩
- 11
- Telegramm Nr. 316 der schweizerischen Botschaft in Washington an die Abteilung für internationale Organisationen des Politischen Departements vom 28. Mai 1971, Doss. wie Anm. 1.↩
- 12
- Rundschreiben von E. Choisy an die Mitglieder und Stellvertreter der Eidgenössischen Beratenden Kommission für Weltraumfragen vom 7. April 1971, Doss. wie Anm. 1.↩
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