Durch die Unterzeichnung des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft in Paris erhält die Bundesrepublik praktisch volle Souveränität über ihre inneren und äusseren Angelegenheiten. Ungelöst bleibt das Problem der Zweiteilung Deutschlands.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 19, doc. 3
volume linkZürich/Locarno/Genève 2003
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#390* | |
Dossier title | Köln, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 16 (1952–1952) |
dodis.ch/9646 Der schweizerische Gesandte in Köln, A. Huber, an den Vorsteher des Politischen Departements, M. Petitpierre1 DIE UNTERZEICHNUNG DES DEUTSCHLANDVERTRAGES
Der Deutschlandvertrag ist heute in Bonn unterzeichnet worden2. Morgen findet die Unterzeichnung des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft in Paris statt. Viele Anzeichen deuten nunmehr darauf, dass das Vertragswerk auch die Ratifizierung durch die Bundesrepublik finden werde. Die Entscheidungen sollen noch vor den Parlamentsferien (20. Juli) fallen. Die Zustimmung durch den Bundestag ist wahrscheinlich, fraglich aber diejenige des Bundesrats. Nachdem Adenauer in dieser Kammer durch die Fusion von Baden und Württemberg seine Mehrheit verlor, bildet dieses Land das Zünglein an der Waage! So paradox es klingt: Stuttgart ratifiziert!
Eine weitere Klippe besteht beim Bundesverfassungsgericht: Bekanntlich schwebt dort die sozialdemokratische Feststellungsklage, dass der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG-Vertrag) als verfassungsändernde Norm nur mit Zweidrittelmehrheit ratifiziert werden kann – was ohne die sozialistischen Stimmen unmöglich wäre!
Was die alliierten Vertragspartner anbetrifft, dürfte der amerikanische Senat als erstes Parlament an die Ratifizierung schreiten. Jedenfalls fährt McCloy sofort nach dem Unterzeichnungsakt in Paris nach den USA, um die Ratifizierung durch den Senat zu betreiben, wenn möglich bis Anfang Juli. Das französische Parlament wird sich wahrscheinlich als letztes mit der Ratifizierung befassen, also kaum vor dem Herbst3.
Das Vertragswerk ist ein grosser Erfolg für Adenauer; es verändert die Stellung der Bundesrepublik von Grund auf. Sie erhält praktisch ihre volle Souveränität über ihre inneren und äusseren Angelegenheiten. Dem Besatzungsregime wird ein Ende gesetzt: das Besatzungsstatut aufgehoben und die Hochkommission aufgelöst. Aufgabe der in der Bundesrepublik stationierten alliierten Truppen ist nicht mehr die Besetzung, sondern der Schutz des Landes. Als Beschränkungen bleiben nur die sogenannten «Vorbehaltsrechte». Sie ergeben sich aus zwei Umständen: Der Teilung Deutschlands und dem Verbleiben alliierter Truppen in der Bundesrepublik. Die Vorbehaltsrechte wahren die Rechte der Alliierten bei Friedensverhandlungen mit den Sowjets, ihre Stellung in Berlin und geben ihnen die erforderliche Handhabe zur Gewährleistung der Sicherheit ihrer in Deutschland stationierten Truppen. Im übrigen wird Westdeutschland zum unabhängigen, selbständigen und gleichberechtigten Staatswesen!
Die Opposition kritisiert, dass wesentliche Bestandteile des Besatzungsrechts inkraft bleiben und durch die deutsche Zustimmung «versteinert» werden. Inwiefern dies im einzelnen zutrifft, ist anhand der Texte noch zu prüfen; immerhin bringen die Verträge auch in dieser Hinsicht eine ganz wesentliche Erweiterung der deutschen Handlungsfreiheit. Die Einschränkungen sind die Ausnahmen, Schönheitsfehler. Die Bundesrepublik kann grundsätzlich frei darüber entscheiden, welche während der Besatzungszeit erlassenen Vorschriften aufrechterhalten bleiben sollen. Ausnahmen sind vorgesehen für die Verwirklichung der sogenannten «alliierten Programmpunkte», wie: Dekartellisierung, Entflechtung, Wiedergutmachung gegenüber Opfern des Nationalsozialismus4, etc.
Trotz dieser Fortschritte ist von Jubel nichts zu sehen. Charakteristisch für die Volksstimmung ist z. B., dass die vom Bundesinnenminister5 empfohlenen Feierlichkeiten (Beflaggung, schulfreier Tag) mit auffallender Reserve aufgenommen, teilweise sogar nicht befolgt wurden. Diese Zurückhaltung erklärt sich nicht etwa aus Abneigung oder gar Hass gegen den Westen, auch nicht wegen der Vorbehaltsrechte der Alliierten; sie erklärt sich auch nur zum Teil aus der Unsicherheit der Lage und der Sorge um russische Repressalien. In dieser Hinsicht ist vorläufig keine übertriebene Unruhe zu spüren. Ursache der gedämpften Stimmung, eines gewissen Malaise, ist, dass die Frage der deutschen Wiedervereinigung ungelöst bleibt. Weite Volksteile glauben, dass für die Fortschritte in der Stellung der Bundesrepublik als Preis die Wiedervereinigung Deutschlands bezahlt werde. Man vergisst in Deutschland, dass bei der gegenwärtigen Zweiteilung der Welt es ausgeschlossen erscheint, dass Russland zu beidem: Integration und Wiedervereinigung seine Zustimmung geben würde. Berücksichtigt man diese Grundtatsache der Ost-Westspaltung, so erscheint das von Adenauer Erreichte als Politik im Sinne der Kunst des Möglichen. Das wird im Ausland höher gewürdigt als von den eigenen Landsleuten.
- 1
- E 2300(-)-/9001/192.↩
- 2
- Der Originaltitel lautete: Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Westmächten – auch Generalvertrag genannt.↩
- 3
- Vgl. dazu Nr. 2, Anm. 3, in diesem Band.↩
- 4
- Vgl. DDS, Bd. 19, Dok. 106, dodis.ch/9457.↩
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