Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 21, Dok. 25
volume linkZürich/Locarno/Genève 2007
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2001E#1979/28#18* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2001(E)1979/28 4 | |
Dossiertitel | Berichte der schweiz. Vertretungen sowie Pressekommentare über die Neutralität der Schweiz (1958–1960) | |
Aktenzeichen Archiv | B.51.10.1 |
Archiv | Archiv für Zeitgeschichte, Zürich |
Signatur | CH-AfZ NL Alfred Zehnder 69 |
Dossiertitel | Korrespondenz mit Max Petitpierre (1957–1961) |
Aktenzeichen Archiv | 2.1.7. |
dodis.ch/9559 Der schweizerische Botschafter in Moskau, A. Zehnder, an den Generalsekretär des Politischen Departements, R. Kohli1
Sie haben mir mit dem letzten Kurier Photokopien Ihrer Notizen über eine
Besprechung mit Bundesrat Petitpierre2 betreffend die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Sowjetunion übermittelt. Ich danke Ihnen für diese Aufmerksamkeit und möchte meinerseits einen Beitrag zur Frage leisten.
Aus ernsten Gesprächen mit Russen, aus spontan hingeworfenen Bemerkungen oder aus polemischen Auseinandersetzungen mit ihnen scheint mir das Urteil der Sowjetmachthaber über die Schweiz und ihre Aussenpolitik mit ziemlicher Klarheit hervorzugehen. Es handelt sich dabei einerseits um die
Kritik der Generallinie der schweizerischen Aussenpolitik und anderseits um die täglichen Erfahrungen in den gegenseitigen Beziehungen.
1) Generallinie. Die Schweiz war und ist heute noch im Bewusstsein der
Russen ein neutraler Staat, dessen Neutralität und Neutralitätspolitik geschätzt werden. Aber bis anhin wurde diese Neutralität als etwas Gewohntes, ja
Selbstverständliches einfach hingenommen, so dass der Begriff «neutral» auch dann bestehen blieb, als die öffentliche Meinung der Schweiz emotional anti sowjetisch reagierte, wie etwa während und nach den ungarischen Ereignissen oder sogar noch im Juli letzten Jahres nach der Verkündung der Exekution von Nagy und Maleter.
Man verstand es, einen Unterschied zu machen zwischen der amtlichen
Politik des Bundesrates und den Reaktionen der öffentlichen Meinung oder der Presse.
Es wurde erst anders nach der Bekanntgabe des grundsätzlichen Entscheides des Bundesrates in der Frage der atomaren Bewaffnung der schweizerischen Armee3. Selbst der Schweiz so wohl gesinnte Leute wie Botschafter
Arutunian konnten nicht einfach über diese neue Tatsache sich hinwegsetzen.
Warum eigentlich? Weil eben das Dossier Schweiz, das bisher unter der Etikette «neutral» irgendwo ruhte, hervorgeholt und untersucht werden musste.
Dieses Dossier, mit kritischem Blicke nachgeprüft, ergab aber, dass die offizielle schweizerische Politik nach russischer Auffassung vielleicht doch nicht so neutral war, wie es sich diese Russen vorstellten. Man stellte ungefähr folgendes fest: a) Die offizielle Schweiz betrachtet einen Krieg zwischen USA und der
Sowjetunion als unvermeidlich (Artikel von Oberst-Korpskommandant
H. Frick in der NZZ4, gewisse veröffentlichte Reden unserer Stabsoffiziere). b) Die öffentliche Meinung erachtet diesen Krieg als erwünscht, um mit dem
Kommunismus und der Expansion der Sowjetunion ein für allemal Schluss zu c) Entgegen anderen neutralen Staaten hat die Schweiz in keinem einzigen
Falle etwas unternommen, um die bestehende Spannung zwischen West und
Ost zu mildern. Die offizielle Schweiz blieb passiv, um so stärker aber griff die
Presse in die Auseinandersetzungen zwischen West und Ost ein und zwar nicht nur im Sinne einer Verschärfung der Spannung, sondern mit guten Ratschlägen an die Atlantikmächte und insbesondere die USA, wie diese am besten den
Russen entgegentreten sollten. d) Schweizerische Regierungsstellen belehren oft die Bevölkerung, wie sie sich im «kommenden» Krieg zu verhalten hätte. Es werden Kurse organisiert für die Handhabung neuer Waffen, Luftschutzübungen, Aufrufe erlassen über die Notwendigkeit der Vorratshaltung in jedem Haushalt, Festungen werden gebaut und Schiessplätze ausgebaut. e) Die Kredite für die militärische Bereitschaft der Schweiz sind nicht nur im Jahresbudget sehr hoch, sondern werden durch Zusatzkredite im Verlaufe des Jahres noch wesentlich erhöht.
Die Betriebsamkeit auf militärischem und paramilitärischem Gebiet in der Schweiz in Verbindung gebracht mit Reden und Artikeln massgebender
Persönlichkeiten des schweizerischen öffentlichen Lebens in der Schweizer
Presse sowie mit der allgemeinen Haltung der schweizerischen Bevölkerung gegenüber dem «Staat» Sowjetunion und nicht etwa gegenüber dem Kommunismus, ergeben durch die sowjetische Lupe betrachtet ein Bild der Schweiz, das mit dem russischen Begriff der Neutralität nicht mehr ganz übereinstimmt.
Dazu kommt die Konkurrenz der anderen neutralen Staaten in Moskau (als
Beispiel die betont russophile Haltung des österreichischen Botschafters5), international (etwa die sehr betont freundliche Haltung Indiens, Schwedens, oder sogar Argentiniens) und in den Vereinigten Nationen bei gewissen Abstimmungen.
Ich habe Ihnen den Standpunkt der Russen etwas summarisch und ohne jede Kritik umschrieben. Und trotzdem bin ich der Auffassung, wir sollten diesen Stimmungswechsel, unter dem ich als Botschafter der Schweiz am meisten zu leiden habe, nicht übertrieben tragisch nehmen. Der Durchschnittsrusse und die regierenden Männer in Moskau betrachten die Schweiz als neutral, als ein gutes, ja als ein idyllisches und friedliches Land. Diese traditionelle im russischen Bewusstsein fest verankerte Vorstellung wird auf die Dauer
Oberwasser gewinnen.
Was könnte unsererseits gemacht werden, um hier Abhilfe zu schaffen?
Ist es überhaupt notwendig, mit den Russen auszukommen, werden wohl die
Parlamentarier fragen und sofort auf den Präzedenzfall Hitlerdeutschland und die mutige Haltung der Schweizerpresse hinweisen. Hitlerdeutschland ist aus vielen Gründen kein Präzedenzfall, denn in erster Linie ist die Schweiz gegen den Kommunismus als Ideologie immun. Anders als die Deutschen verstehen es die Russen durchaus, dass man Kommunisten überwacht und einkerkert, und sind bereit, auch in einem solchen Falle recht freundschaftliche Beziehungen zu unterhalten. Die Russen begreifen den Unterschied zwischen Neutralität und Gesinnungsneutralität, zwischen offizieller Politik und den Reaktionen so ist dass für die hiesigen Machthaber ein gültiges Argument, denn sie tun ja genau dasselbe gegenüber ihren eigenen Gesinnungsfreunden im Auslande.
Die UdSSR ist aber heute eine Weltmacht, die Weltpolitik betreibt. Das ist der grosse Unterschied gegenüber der stalinistischen Ära. Auch wir müssen die Sowjetunion als massgeblichen Faktor der Weltpolitik in unsere Neutralitätspolitik einbeziehen. Je grösser die Kriegsgefahr, umso sorgfältiger müssen wir die Politik der Sowjetunion analysieren. Es wäre nämlich möglich, dass sie unsere Neutralität respektiert. Ich glaube es, denn die neutrale Schweiz ist, wie ich bereits erwähnt habe, im Bewusstsein des Russen tief verankert. Es wäre einfach nicht klug, diese uns so günstige Voraussetzung zu erschüttern. Weshalb auch? Nur um zu zeigen, wie antikommunistisch mutig wir uns gebärden! Es geht ja aber nicht um die Gesinnung, sondern um die politische Generallinie.
Ich kann Ihnen keinen praktischen Rat geben, es sei denn ruhig und konsequent unsere Neutralitätspolitik weiter aufbauen, als wäre die Sowjetunion nicht unbedingt der potentielle Feind Nr. 1, und in der Öffentlichkeit weniger vom Krieg sprechen und weniger Ratschläge an andere erteilen. Die Zeit und das Gefühl der Achtung der Russen vor der schweizerischen Neutralität wer den im übrigen ihre heilsame Wirkung ausüben. Um beim Bilde zu bleiben: das Dossier Schweiz wird unter diesen Voraussetzungen wieder in einem Aktenschrank mit der Überschrift «neutral» verschwinden. Für den Augenblick wünsche ich nicht mehr als das.
2) Um vollständig zu sein, darf ich die Routinegeschäfte, d. h. die alltäglichen bilateralen Einzelbeziehungen nicht übergehen. Auf diesem Gebiete sieht es leider ganz bedenklich aus. Russische Staatsminister und Beamte, die berufen sind, sich mit diesen Alltäglichkeiten zu befassen, sind zur Zeit auf die Schweiz sehr schlecht zu sprechen. Vorfälle wie mit der russischen Hockeymannschaft in Genf oder den russischen Beamten der Weltgesundheitsorganisation in
Bern, die stagnierenden Wirtschaftsbeziehungen, die vollständig ruhenden kulturellen Beziehungen im Vergleich zu dem immer intensiver werdenden kulturellen Austausch der Russen mit den Ländern des Atlantikpaktes, ja sogar mit Westdeutschland, sind für die hiesigen Beamten Tatsachen, die den Stand des Verhältnisses der Schweiz zur Sowjetunion charakterisieren. Die Bilanz, die man hier zieht, sieht für uns schlecht aus. Was auf diesem Gebiet getan werden kann, werden Sie aus der Perspektive Bern besser beurteilen können als ich.
Ein Minimum sollte aber zur Auflockerung der Atmosphäre getan werden.
Bisher haben die Beamten noch keine Weisungen von «oben» erhalten, die
Schweiz unfreundlich zu behandeln. Meine letzten Gespräche mit Mitgliedern des Präsidiums, der Regierung, mit Gromyko und Zorin mahnen noch nicht zum Aufsehen.
- 1
- Schreiben: E 2001(E)1979/28/4. Paraphe: DZ.↩
- 2
- Vgl. die Notiz Besprechung mit dem Departementschef von R. Kohli vom 23. Dezember 1958, E 2808(-)1974/13/5.↩
- 3
- Vgl. Nrn. 10, 11, 72 und 73 in diesem Band.↩
- 4
- Vgl. den Artikel von H. Frick Neutralität der Schweiz und Neutralisierung Mitteleuropas vom 23. Juni 1958 in der NZZ, E 2001-05(-)1000/125/77.↩
- 5
- N. Bischoff.↩
Tags
Russland (Politik) Frage der Atombewaffnung Atomenergie