Interpretation des Niederlassungsvertrags zwischen der Schweiz und Österreich. Österreichische jüdische Flüchtlinge müssen die Schweiz nicht verlassen, Unterstützung von Flüchtlingen durch die Eidgenossenschaft.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 18, doc. 64
volume linkZürich/Locarno/Genève 2001
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001E#1967/113#3482* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(E)1967/113 194 | |
Dossier title | Gegenseitige Abmachung mit Oesterreich über die Stellung der Schweizer in Oesterreich und Visumaufhebung (1949–1951) | |
File reference archive | B.31.11.2 • Additional component: Oesterreich |
dodis.ch/8281 Der Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements, E. von Steiger, an den Vorsteher des Politischen Departements, M. Petitpierre1
Am 14. September 1950 wurde in Wien das am 26. Juli 1950 paraphierte «Abkommen zwischen dem Schweizerischen Bundesrat und der Österreichischen Bundesregierung betreffend zusätzliche Vereinbarungen über die Niederlassungsverhältnisse der beiderseitigen Staatsbürger» unterzeichnet2. Artikel 1 dieses Abkommens legt fest, dass österreichische Staatsbürger nach einem ununterbrochenen, ordnungsgemässen Aufenthalt von 10 Jahren in der Schweiz Anspruch auf Erteilung der Niederlassungsbewilligung im Sinne des Art. 6 des schweizerischen Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 19313 erhalten. Dieses Abkommen wurde abgeschlossen für die künftige langfristige Entwicklung des Austausches der beiderseitigen Staatsangehörigen und auf der Grundlage, dass der Aufnahmestaat in voller Entscheidungsfreiheit über die Zulassung die Aufenthaltsgewährung und die Zurückweisung in den Heimatstaat befinden kann.
Die klare Fassung des Abkommens gewährleistet eine reibungslose Anwendung der Vereinbarung auf die künftig zureisenden österreichischen Staatsangehörigen. Dagegen stellt sich heute die Frage, inwieweit die in der Schweiz wohnhaften Österreicher Anrechnung der bisherigen Aufenthaltsdauer auf die vereinbarungsgemässe zehnjährige Frist verlangen können.
Im Bestreben, die sich bereits in der Schweiz aufhaltenden Österreicher möglichst weitgehend in den Genuss der Vorteile aus dem Abkommen treten zu lassen, wird jenen, die vor 1938 mit österreichischen Pässen eingereist sind, sich während der Dauer des Krieges ununterbrochen in der Schweiz aufgehalten und nach Kriegsende wiederum einen österreichischen Pass angenommen haben, der bisherige Aufenthalt auf die vertragliche Aufenthaltsdauer von 10 Jahren angerechnet. Dieses Entgegenkommen scheint uns angebracht und gerechtfertigt, da es hauptsächlich österreichischen Staatsangehörigen gewährt wird, deren Aufenthalt sich innerhalb der normalen fremdenpolizeilichen Praxis entwickelt hat und deren Aufenthaltsverlängerungen meistens erfolgten, weil die weitere Anwesenheit aus arbeitsmarktlichen Gründen erwünscht war. Bei diesen Ausländern bestand prinzipiell auch immer die fremdenpolizeiliche Möglichkeit, die Aufenthaltsverlängerung zu verweigern und sie zur Rückkehr nach Österreich zu verhalten.
Anders ist die Lage bei den Emigranten und Flüchtlingen österreichischer Herkunft (in der Folge Flüchtlinge genannt). Diese sind grösstenteils im Zusammenhang mit den Judenverfolgungen in Österreich in den Jahren 1938/39 eingereist und unser Land war weder in der Zulassung noch in der Aufenthaltsgewährung an diese Ausländer frei4. Aus der Asyltradition heraus erachtete sich unser Land moralisch verpflichtet, diese Bedrängten aufzunehmen und ihnen vorübergehend Aufenthalt zu gewähren. Die im Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer verankerten Grundsätze, die den Fremdenpolizeibehörden die Abwehr der wirtschaftlichen und kulturellen Überfremdung sowie den Schutz des Arbeitsmarktes zur Pflicht machen, hatten vor der Asyltradition zurückzutreten. Die Anrechnung des Aufenthaltes als Flüchtlinge auf die vertragliche Aufenthaltsdauer von 10 Jahren, die den Anspruch auf Erteilung der Niederlassungsbewilligung entstehen lässt, kann deshalb grundsätzlich nicht in Frage kommen.
In Erwägung haben wir dagegen gezogen, ob und in welcher Weise einem Flüchtling der Aufenthalt nach Kriegsende angerechnet werden kann, sofern er sich wiederum einen österreichischen Pass beschafft und diesen den Fremdenpolizeibehörden zur Regelung seines Aufenthaltes vorgelegt hat. Sofern in diesem Vorgehen der Verzicht des Ausländers auf alle Flüchtlingsrechte gesehen werden und die fremdenpolizeiliche Behandlung nach den Grundsätzen erfolgen kann, die für einen normal eingereisten Österreicher gelten, glauben wir die Anrechnung des Aufenthaltes seit der Passannahme auf die vertragliche Aufenthaltsdauer von 10 Jahren nicht verweigern zu können. Um nicht in jedem Einzelfall einen individuellen Fristenlauf beachten zu müssen, würde für alle jene Österreicher, die den Pass vor Abschluss des Abkommens am 14. September 1950 angenommen und zur Aufenthaltsregelung vorgelegt haben, der anrechenbare Aufenthalt vom 1. Januar 1946 an gezählt werden. Für Österreicher jedoch, die den Pass erst nach dem Abschluss des Abkommens annehmen und vorlegen, würde die zehnjährige Frist vom Datum der Passvorlage zur Aufenthaltsregelung zu laufen beginnen.
Die österreichischen Flüchtlinge können jedoch kaum ein Interesse an der Unterstellung unter das Wiener Abkommen haben, nachdem ihnen dieses nicht das sofortige Anrecht auf die Niederlassungsbewilligung geben kann. Sie werden voraussichtlich gegenteils sich weiterhin auf die Flüchtlingseigenschaft berufen, weil diese ihnen eine bessere Stellung in der Schweiz verschafft. In der Tat steht der Erlass neuer Richtlinien über die Behandlung der durch den Weltkrieg in die Schweiz gekommenen Flüchtlinge bevor5. Diese wurden in zwei Konferenzen jüngst auch mit den Vertretern der kantonalen Fremdenpolizeibehörden und der Polizeidirektionen besprochen und haben deren Zustimmung gefunden6. Das wesentlich Neue daran ist die grundsätzliche Aufhebung der bis jetzt für die Flüchtlinge geltenden Pflicht zur Weiterreise. Das heisst, dass künftig der Flüchtling die Bewilligung zum Aufenthalt erhalten soll in der Meinung, er möge selber über die Gestaltung seines weiteren Schicksals befinden. Um den Kantonen die fremdenpolizeiliche Bewilligung für die Flüchtlinge zu erleichtern, ist ein neuer Bundesbeschluss in Vorbereitung7, der bestimmen wird, dass der Bund, in Verbindung mit den privaten Hilfsorganisationen, die Unterstützung für die Flüchtlinge übernehmen soll, so dass die Kantone kein finanzielles Risiko tragen. Wir erwarten, dass die Grosszahl der älteren, nicht mehr oder nur noch teilweise arbeitsfähigen Flüchtlinge die Niederlassungsbewilligung erhalten werden. Die jüngeren noch arbeitsfähigen sollen zum mindesten eine Bewilligung erhalten, die sie zum beliebigen Stellenantritt ermächtigt. Ausgeschlossen sollen Flüchtlinge jedoch sein von der Betätigung im Import, Export und Transithandel. Selbstverständlich können auch die persönlich unerwünschten Elemente nicht damit rechnen, in der Schweiz zu bleiben. Ihre Zahl dürfte aber nicht gross sein.
Es ist klar, dass kein österreichischer Flüchtling, der Aussicht hat, sofort oder in naher Zukunft als solcher die Niederlassungsbewilligung zu erhalten und für den der Bund im Falle der Verarmung die Unterstützung übernehmen wird, ein Interesse hat, sich auf den Niederlassungsvertrag8 und auf die Wiener Vereinbarung zu berufen. Voraussichtlich werden es nur solche tun wollen, die als Unerwünschte nicht von den neuen Richtlinien werden profitieren können. Diesen nützt es aber nicht viel, weil sie ja heute noch keinen Anspruch auf die Niederlassungsbewilligung erhalten und weder der Niederlassungsvertrag noch die ausführenden Bestimmungen der Wiener Vereinbarung einer Wegweisung entgegenstehen.
Die Anrechnung der bisherigen Aufenthaltsdauer von fremdenpolizeilich normal eingereisten Österreichern, deren Aufenthalt sich auch während der Dauer des Anschlusses und des Krieges entsprechend entwickelt hat, bedarf schweizerischerseits keiner zusätzlichen Vereinbarung. Sollte aber die österreichische Regierung eine solche wünschen, so würde dem nichts entgegenstehen. Dagegen sollte für die oben dargelegte beschränkte Anwendung des Abkommens auf Flüchtlinge das Einverständnis der österreichischen Behörden erreicht und in einer Form festgelegt werden, der die gleiche rechtliche Verbindlichkeit zukommt wie dem Abkommen selbst. Wir ersuchen Sie deshalb, unsere diplomatische Vertretung in Österreich zu beauftragen, mit den zuständigen österreichischen Behörden zur Regelung der aufgeworfenen Fragen Fühlung aufzunehmen9.
Wir bitten Sie, uns über die unternommenen Schritte auf dem laufenden zu halten, und versichern Sie, Herr Bundespräsident, unserer ausgezeichneten Hochachtung.
- 1
- Schreiben: E 2001(E)1967/113/194.↩
- 2
- Nicht abgedruckt. Das Abkommen wurde nicht in der Amtlichen Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen veröffentlicht.↩
- 3
- Vgl. AS, 1933, Bd. 49, S. 279–304.↩
- 4
- Vgl. DDS, Bd. 12, Thematisches Verzeichnis: IV.1 La Suisse et l’immigration juive.↩
- 5
- Vgl. die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Beschlussentwurf über Beiträge des Bundes an die Unterstützung von Flüchtlingen (vom 15. Dezember 1950), BBl, 1950, Bd. 102, III, S. 712–729.↩
- 6
- Vgl. das Referat von H. Rothmund über die Abänderung der Richtlinien über die fremdenpolizeiliche Behandlung der Flüchtlinge an der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren vom 6./7. Oktober 1950 in Schwyz, E 4260(C)1969/146/10.↩
- 7
- Vgl. Anm. 4.↩
- 8
- Vgl. den Vertrag zur Regelung der Niederlassungsverhältnisse vom 7. Dezember 1875, AS, 1876/77, Bd. 2, S. 148–158 und den Vertrag über die Anwendung früherer den Rechtsverkehr betreffender Verträge zwischen der Schweiz und Österreich vom 25. Mai 1925, AS, 1926, Bd. 42, S. 169–174.↩
- 9
- Vgl. das Schreiben von A. Zehnder an P. A. Feldscher vom 24. Oktober 1950. Nicht abgedruckt.↩
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