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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#5127* | |
Dossier title | Allgemeines, Band 2 (1991–1991) | |
File reference archive | B.51.10 |
dodis.ch/58938Gespräch des Direktors der Völkerrechtsdirektion, Botschafter Krafft, mit IKRK-Präsident Sommaruga1
Studiengruppe Neutralität: Gespräch mit Herrn C. Sommaruga, Präsident des IKRK
1. Am 5. Juli 1991 hat Herr Sommaruga (S) Herrn Krafft (KT) zu einem informellen Gespräch über die Auswirkungen einer allfälligen Änderung der schweizerischen Neutralitätspolitik auf das IKRK empfangen. Dem Gespräch wohnten auf Seiten des IKRK Herr André Pasquier (P), persönlicher Berater von S[ommaruga], sowie Herr T. G. Borer, Völkerrechtsdirektion, bei.
2. K[rafft] legte einleitend das Mandat der Studiengruppe Neutralität und die Ergebnisse des ersten Seminars dar;2 es zeichne sich ab, dass die Studiengruppe dem Bundesrat empfehle, die Neutralität beizubehalten, aber sie auf ihren strikten militärischen Kern zu reduzieren und auf diese Weise einen grösseren aussenpolitischen Handlungsspielraum zu gewinnen. Die Studiengruppe stelle sich nun die Frage, ob eine derartig veränderte Neutralitätspolitik Auswirkungen auf die Institution des IKRK, namentlich auf dessen Neutralität und Mononationalität habe. K[rafft] hob hervor, dass die Studiengruppe sicherlich dem Bundesrat nicht den Verzicht auf die Neutralität empfehlen werde.3
S[ommaruga] zeigte sich über die Möglichkeit zu einem Gedankenaustausch mit dem EDA über diese Frage sehr erfreut.4 Das IKRK habe das Problemfeld «Schweizerische Neutralität und Auswirkungen auf das IKRK» bereits 1990 erkannt und durch Herrn Pasquier darüber eine interne Studie erstellen lassen. Diese werde am 1. Oktober 1991 dem Komitee vorgelegt und im Anschluss daran eine gefestigte Position des IKRK ermittelt. Gemäss S[ommaruga] dürfe die Institution des IKRK nie ein Hindernis für die Schweiz darstellen, einen aussenpolitischen Schritt in die Wege zu leiten. Es müsse zum Beispiel vermieden werden, dass die Gegner eines EG-Beitrittes das IKRK als Argument gegen eine Integration der Schweiz in die EG missbrauchten, indem sie etwa geltend machen würden, das IKRK könne in diesem Falle seine Tätigkeit nicht mehr ausüben. Diese Politisierung der Stellung des IKRK und seine Einbeziehung in die EG-Beitrittsdiskussion wäre gefährlich und müsse daher vermieden werden.5 Die Diskussion über die zukünftige schweizerische Neutralitätspolitik müsse klar von der Institution IKRK getrennt werden. Die Neutralität des IKRK bestehe unabhängig von der schweizerischen Neutralität und stelle eine prinzipielle politische Haltung der Institution dar.6 Sie sei Ausfluss der Erkenntnis, dass das IKRK unparteiisch sein müsse, wenn es seine humanitären Dienstleistungen in einem Konfliktsfalle erbringen wolle.
3. Nach dieser grundsätzlichen Stellungnahme hob S[ommaruga] hervor, dass das IKRK weniger mit allfälligen Veränderungen in der Neutralitätspolitik der Schweiz als vielmehr mit der derzeit aktiveren, engagierteren Aussenpolitik der Schweiz mitunter in eine schwierige Lage komme. So sei etwa dem IKRK nach der Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen den Irak durch die Schweiz7 vorgeworfen worden, die Schweiz und damit das IKRK seien nicht mehr neutral und unabhängig. Ferner könne z. B. ein verstärktes Engagement der Schweiz zu einer friedlichen Regelung in Afghanistan dazu führen, dass gewisse Gruppen innerhalb des afghanischen Widerstandes, die mit diesen Friedensvorschlägen nicht einverstanden seien oder sich übergangen fühlten, ihre Opposition in Worten und Taten statt gegen die Schweiz gegen das IKRK zum Ausdruck brächten.8 Im weiteren habe die Geschichte gezeigt, dass die mononationale schweizerische Basis des IKRK ein wichtiges Element seiner Anerkennung und seines Erfolges darstellten. Die immerwährende Neutralität der Schweiz und ihre Glaubwürdigkeit hätten bewirkt, dass Schweizer als Delegierte besser akzeptiert würden, als dies der Fall für Staatsbürger vieler anderer Länder wäre.9 Mit anderen Worten sei die Mononationalität des IKRK weitgehend die Konsequenz der schweizerischen Neutralität. Mit einer aktiveren Aussenpolitik der Schweiz könnte mittelfristig diese Mononationalität des IKRK in Frage gestellt werden.
4. Aus diesen Gründen hielt es S[ommaruga] für äusserst wichtig, dass der Bundesrat alles vorkehre, um die Unabhängigkeit des IKRK von der Schweiz deutlich zu machen. Das IKRK müsse von Dritten und insbesondere von ausländischen Staaten als unabhängig und von der Schweiz nicht beeinflussbar perzeptiert werden. In der Aussenpolitik des Bundesrates dürfe dem IKRK in einem Einzelfall nicht eine besondere Rolle zugewiesen werden. Wesentlich zur Verdeutlichung der Unabhängigkeit des IKRK von der Schweiz würde gemäss S[ommaruga] beitragen, wenn der Bundesrat mit dem IKRK ein Sitzabkommen aushandeln und der Institution darin die für internationale Organisationen üblichen Immunitäten und Privilegien einräumen würde. Dies würde dem IKRK im übrigen auch ermöglichen, Finanzmittel, die gegenwärtig zur Bezahlung von Steuern und Zöllen aufgebracht werden müssten, zur direkten humanitären Hilfe zu verwenden. Das IKRK habe mittlerweilen mit einer ganzen Reihe von Staaten ein derartiges Sitzabkommen abgeschlossen. Auch die Vereinten Nationen hätten 1990 durch die Einräumung des Beobachterstatus die besondere Rechtspersönlichkeit des IKRK anerkannt. Es sei nicht auszuschliessen, dass das Komitee im Oktober 1991 beschliesse, dass der Bundesrat um den Abschluss eines derartigen Sitzabkommens angegangen werden solle. S[ommaruga] hält es allerdings für zweckmässiger, wenn ein derartiger Vorschlag von dritter Seite, zum Beispiel durch die Studiengruppe Neutralität, gemacht würde.10 Damit könnte vermieden werden, dass unmittelbar im Anschluss an das Gesuch des IKRK die Liga der Rotkreuzgesellschaften ein ähnliches Gesuch an den Bundesrat stellen werde. – In diesem Zusammenhang merkte P[asquier] kritisch an, dass man sich fragen könne, ob es der Perzeption des IKRK als unabhängiger Instanz förderlich sei, wenn immer wieder ehemalige hohe Vertreter der Eidgenossenschaft, wie z. B. Herr Sommaruga oder Frau Pometta, in das Komitee des IKRK gewählt würden.
5. Bezüglich der 26. Internationalen Rotkreuzkonferenz vom Oktober/November 1991 in Budapest wäre S[ommaruga] an einer vertieften Diskussion mit der Direktion für Internationale Organisationen und der Direktion für Völkerrecht gelegen. Über dieser Konferenz hänge das Problem des Beitritts Palästinas zu den Genfer Konventionen wie ein Damoklesschwert. Ein Teil der Staaten vertrete bekanntlich die Auffassung, dass Palästina als Staat zur Konferenz eingeladen werden müsse. Dies hätte zur Folge, dass sich Israel und höchstwahrscheinlich auch die Vereinigten Staaten von Amerika von der Konferenz zurückziehen würde. Ein Teil der Staaten hielten dafür, die PLO als Beobachter einzuladen. Einige Staaten möchten schliesslich weder Palästina noch die PLO einladen, weil Palästina als Staat nicht existiere und die PLO kein Gesuch um Beobachterstatus eingereicht habe. Die Schweiz müsse auf diese schwierigen Diskussionen vorbereitet sein. Die Konferenz von Budapest sei aber auch im Hinblick auf die zukünftige Rechtsentwicklung, z. B. im Bereich der Laser-Waffen,11 von grosser Bedeutung.12
- 1
- CH-BAR#E2010A#2001/161#5127* (B.51.10). Diese Notiz wurde von Thomas Borer von der Direktion für Völkerrecht des EDA verfasst und unterzeichnet. Das Gespräch wurde vom Chef der Direktion für Völkerrecht, Botschafter Matthias Krafft, geleitet. IKRK-Präsident Cornelio Sommaruga wurde von seinem persönlichen Berater, André Pasquier, begleitet.↩
- 2
- Für das Mandat der Studiengruppe Neutralität des EDA vgl. das BR-Prot. Nr. 482 vom 11. März 1991, dodis.ch/57635 sowie die Notiz des Vorstehers des EDA, Bundesrat René Felber, vom 13. März 1991, dodis.ch/58855. Das erste Seminar der Studiengruppe fand am 22. und 23. Juni 1991 statt, vgl. dodis.ch/58871. Für die restlichen Sitzungen und weitere Dokumente zur Studiengruppe vgl. die thematische Zusammenstellung dodis.ch/C1981. Zur Studiengruppe Neutralität des EDA vgl. zudem DDS 1991, Dok. 30, dodis.ch/57379 sowie Dok. 46, dodis.ch/58731.↩
- 3
- Für die Empfehlungen der Studiengruppe Neutralität vgl. den im März 1992 veröffentlichten Bericht Schweizerische Neutralität auf dem Prüfstand – Schweizerische Aussenpolitik zwischen Kontinuität und Wandel, dodis.ch/60120.↩
- 4
- Bundesrat Felber und eine Delegation des EDA hatten IKRK-Präsident Sommaruga bereits am 25. Februar 1991 zu ausführlichen Gesprächen in Bern empfangen, vgl. DDS 1991, Dok. 14, dodis.ch/57263.↩
- 5
- In der Auslegeordnung der gängigsten Argumente gegen einen EG-Beitritt der Arbeitsgruppe Eurovision wurde dieses Argument nicht erwähnt, vgl. DDS 1991, Dok. 31, dodis.ch/58250.↩
- 6
- Vgl. dazu das Referat von IKRK-Präsident Sommaruga vom 13. September 1991, dodis.ch/57264.↩
- 7
- Zur Haltung der Schweiz gegenüber den UNO-Sanktionen gegen den Irak vgl. DDS 1990, Dok. 30, dodis.ch/54497 sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C1674.↩
- 8
- Zum schweizerischen Engagement in Afghanistan vgl. DDS 1991, Dok. 29, dodis.ch/57737 sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C1985.↩
- 9
- Vgl. dazu auch die Ausführungen des Rechtberaters des Generalsekretariats der UNO, Carl August Fleischhauer, im Rahmen des Gesprächs mit der Studiengruppe Neutralität des EDA, DDS 1991, Dok. 30, dodis.ch/57379.↩
- 10
- Die Studiengruppe nahm diesen Wunsch von IKRK-Präsident Sommaruga in ihren Bericht Schweizerische Neutralität auf dem Prüfstand – Schweizerische Aussenpolitik zwischen Kontinuität und Wandel auf: «Die Bundesbehörden müssen eine Vermengung der Politik der Schweiz mit der Tätigkeit des IKRK sowie der Neutralität des Staates mit der humanitären Neutralität des IKRK vermeiden. [...] Ein Mittel zur Verdeutlichung dieser Haltung bestünde darin, dass die Schweiz mit dem IKRK ein Sitzabkommen abschliessen und ihm die für internationale Organisationen in Genf üblichen völkerrechtlichen Immunitäten und Privilegien einräumen würde.» Vgl. dodis.ch/60120, Punkt 10 Neutralität und IKRK, S. 24 f., hier S. 25.↩
- 11
- Vgl. dazu die Zusammenstellung dodis.ch/C2098.↩
- 12
- Die vom 29. November bis zum 6. Dezember 1991 vorgesehene 26. internationale Rotkreuzkonferenz in Budapest wurde schliesslich aufgrund der ungelösten Frage der Zulassung einer palästinensischen Delegation 60 Stunden vor Beginn der Eröffnungsfeier auf unbestimmte Zeit verschoben. Sie wurde schliesslich vom 3.–7. Dezember 1995 in Genf durchgeführt. Vgl. dazu dodis.ch/60242 sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C2095.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/58938 | refers to | http://dodis.ch/58871 |
Tags
Relations with the ICRC Report on Switzerland's foreign policy in the 1990s (1993)