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Documents Diplomatiques Suisses, vol. 1991, doc. 50
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Archives | Archives fédérales suisses, Berne | |
Cote d'archives | CH-BAR#E2024B#2002/7#167* | |
Titre du dossier | KSZE - Dienst (1991–1993) | |
Référence archives | a.155.8 |
Archives | Archives fédérales suisses, Berne | |
Cote d'archives | CH-BAR#E2200.55A#1998/50#110* | |
Titre du dossier | sd. KSZE / Nationale Minderheiten (1991–1992) | |
Référence archives | 303.0(1.0) |
Archives | Archives fédérales suisses, Berne | |
Cote d'archives | CH-BAR#E2200.36#2001/71#259* | |
Titre du dossier | Expertentreffen und Konferenz über nationale Minderheiten (1989–1992) | |
Référence archives | 303.3 |
Archives | Archives fédérales suisses, Berne | |
Cote d'archives | CH-BAR#E2010-01A#2000/217#706* | |
Titre du dossier | CSCE, vol. I (1991–1992) | |
Référence archives | B.58.71 |
dodis.ch/58114Notiz des stv. Delegationschefs1
Bericht der Schweizer Delegation über das KSZE-Expertentreffen über nationale Minderheiten (Genf, 1.–19. Juli 1991).2 Ergänzung zum Bericht vom 12. August3
Im Bericht des Chefs der Schweizer Delegation am KSZE-Expertentreffen über nationale Minderheiten werden Ablauf und Ergebnisse dieses Treffens mit viel Weitsicht analysiert. In einigen Bereichen bedarf der Bericht indessen nach Ansicht der übrigen Delegationsmitglieder (EDA und EDI)4 einer Ergänzung oder einer anderen Wertung. Insbesondere sind sie der Ansicht, dass das Genfer Treffen, bei aller Kritik, insgesamt eine wesentlich positivere Wertung verdient als im Schlussbericht.
Die Schweiz, welche dieses Treffen anregte, setzte sich mit grossem Nachdruck für die Abhaltung ein.5 Dies war um so nötiger, als sich am Anfang viele Staaten gegen ein solches Treffen sträubten. Die Schweiz war sich auch bewusst, welche Bedeutung einer Minderheitenkonferenz zukommt. Denn seit der Zwischenkriegszeit gab es in Europa keine Veranstaltung, welche sich ausschliesslich diesem Thema widmete. Deshalb wurde die Vorbereitung des Treffens auch besonders sorgfältig an die Hand genommen. Bevor der designierte Delegationschef sein Amt in Bern antrat, wurden nicht bloss alle Botschaften in den KSZE-Staaten angeschrieben,6 sondern es wurde auch eine departementsübergreifende Arbeitsgruppe eingesetzt. Diese arbeitete seit dem Spätherbst 1990 Positionen und Vorschläge für die schweizerische Delegation aus.7 Überdies wurde ein akademischer Beirat geschaffen, welcher vier grössere Studien und vier kleinere Beiträge zum Problem der Minderheiten in Europa erstellte. Mit diesem Beirat fanden auch individuelle und gemeinsame Sitzungen statt.8 Die Bemerkung des Delegationschefs, wonach dieses Treffen nicht sorgfältig genug vorbereitet worden sei, trifft nicht zu.9 Tatsächlich ist in den letzten Jahren – abgesehen von der friedlichen Streitbeilegung, die sich auf eine jahrelange, um nicht zu sagen jahrzehntelange Vorbereitung stützen kann10 – kein KSZE-Treffen so intensiv und in so breitem Kreis vorbereitet worden.
Genf war erwartungsgemäss kein einfaches Treffen. Kompromisse mussten überall formuliert werden. Unglücklich aber war, dass der Schweizer Delegationschef immer wieder betonte, in der Schweiz gäbe es keine nationalen Minderheiten. Diese Ansicht kann man durchaus vertreten. Aber wenn man sie häufig vorträgt, vermittelt man den Eindruck, das Minderheitsthema gehe inhaltlich die Schweiz nichts an. Eine ähnliche Haltung hatte die Schweiz ja lange auch auf anderen Gebieten eingenommen, also etwa: Man ist für ein gemeinsames Europa, aber ohne uns. Glücklicherweise wurde diese Ansicht auf den Ausflügen ins Tessin und in den Kanton Graubünden von den jeweiligen regionalen oder lokalen Vertretern korrigiert.11
Diese degagierte12 Haltung kam auch in der sogenannten «Clause 12» oder, wie sie in Genf genannt wurde, «Clause Ritter» zum Ausdruck. Sie besagt, dass nicht alle ethnischen, kulturellen, sprachlichen oder religiösen Unterschiede notwendigerweise zur Bildung nationaler Minderheiten führen müssen.13 Dies trifft gewiss zu. Aber die Besorgnis, welche diese Feststellung in Form einer allgemeinen Bestimmung erweckte, zeigt sich schon darin, dass nicht weniger als sieben Staaten eine interpretative Erklärung zu diesem Abschnitt abgaben – ein in der Geschichte der KSZE ziemlich seltener Vorgang. Die Gefahr, dass dieser Passus nur allzugerne als «clause échappatoire» benutzt wird, war den meisten Delegationen bewusst.
Die Schweizer Delegation setzte sich mit viel Verve für den Beobachtermechanismus ein. Dieses Thema wurde von uns prioritär behandelt. War dies ein Irrtum? Die Schweiz hatte immer die Ansicht vertreten, dass die Verabschiedung von Standards und Normen zwar wichtig ist, dass aber deren Einhaltung noch mehr Aufmerksamkeit verdient. In diesem Sinne brachten wir diesen wichtigen Vorschlag ein.14 In Genf kamen wir trotz grossem Einsatz mit unserem Anliegen nicht durch. Aber beträchtliche Vorarbeit wurde geleistet. Ohne das Genfer Treffen wäre der Erfolg in Moskau nur schwerlich möglich gewesen. Dort wurde ein Mechanismus verabschiedet, der teilweise über dem liegt, was man in Genf zu erhoffen wagte.15 Nachträglich darf man wohl sagen, dass die Hartnäckigkeit, mit welcher die Schweizer Delegation dieses wichtige Anliegen verfochten hat, gerechtfertigt war.
Schaut man, was bis anhin in anderen internationalen Foren zum Schutz von nationalen Minderheiten geschehen ist, dann hat man Grund, mit dem Genfer Treffen zufrieden zu sein. Die Vereinten Nationen brachten bisher keine allgemein akzeptierte Definition zustande. Im Europarat verläuft die Diskussion sehr harzig. So wurde beispielsweise der «Venedig-Kommission» («Commission européenne pour la Démocratie par le Droit») nicht einmal gestattet, ihren Entwurf im Namen des Europarates in Genf einzuführen.16
Eine nüchterne Betrachtung ergibt, dass erstmals ein offener Gedankenaustausch unter allen KSZE-Teilnehmerstaaten erfolgte. Im Dokument von Genf17 sind auch etliche neue Massnahmen enthalten, die weiterführen. Zu diesen gehören: Die Bestimmung, dass Minderheitenprobleme nicht ausschliesslich eine nationale Angelegenheit sind und somit internationale Demarchen zugunsten von Minderheiten nicht als Einmischung in die inneren Angelegenheiten zurückgewiesen werden können; die Empfehlung, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit auch im Kontext von nationalen Minderheiten zu fördern; die Möglichkeit, Wahlbeobachtungen auch bei Wahlen auf regionaler oder lokaler Ebene vorzunehmen – eine Bestimmung, welche für Minderheiten oft wichtiger sein kann als Wahlen auf nationaler Ebene. Dass das Genfer Treffen wertvolle Vorarbeit für den Mechanismus in der menschlichen Dimension leistete, wurde schon erwähnt.
Weshalb der schweizerische Einsatz zugunsten nationaler Minderheiten unseren Bemühungen im Bereich der friedlichen Streitbeilegung abträglich sein soll, ist nicht einsichtig.18 Eine derartige Ansicht wurde übrigens in Genf auch nirgends gehört. Tatsächlich ist es nicht so, dass die beiden Bereiche einander das Wasser abgraben. Sie ergänzen sich vielmehr. Bezeichnenderweise sind es überwiegend die gleichen Staaten, welche sich sowohl gegen Fortschritte bei der friedlichen Streitbeilegung als auch bei den nationalen Minderheiten stemmen. Gute Verhandlungsergebnisse auf einem Gebiet dürften sich positiv auf das andere auswirken.
Schliesslich darf man festhalten, dass sich das Genfer Treffen positiv auf das Ansehen der Schweiz ausgewirkt hat. Unser Land hat frühzeitig – und somit auch rechtzeitig – eine wichtige Initiative ergriffen. Denn tatsächlich kann es keine politische Neuordnung in Europa geben, wenn das Problem der nationalen Minderheiten nicht ernsthaft behandelt wird. Die Schweiz erkannte diesen Sachverhalt und lenkte die Aufmerksamkeit der Staatengemeinschaft darauf. Viele Staaten würdigten dies in Genf. Wie dringend nötig die Schweizer Initiative war, beweist der Fall Jugoslawien zur Genüge. Auf der Jugoslawien-Konferenz im Haag bilden die Minderheitenfragen eine Scharnierstelle im Lösungsversuch.19 Dass im Vertragsentwurf der EG vom 23. Oktober20 auf den Bericht des KSZE-Treffens von Genf verwiesen wird, dürfte beweisen, dass das von der Schweiz initiierte Treffen über den Tag hinausweist. Genf entsprach wohl dem, was Bundesrat Felber in seiner Eröffnungsrede als Hoffnung ausdrückte, nämlich: dass dieses Treffen «einen wichtigen Schritt in Richtung neuer Lösungen» bilde.21 Es war ein Schritt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger – ein Schritt, der immerhin bereits operationell verwertbar ist; so geschehen in Den Haag, so geschehen aber auch in Sofia, wo dank den Interventionen von KSZE-Staaten die Partei der Türkischstämmigen zu den Wahlen vom letzten Monat zugelassen wurde.22
- 1
- CH-BAR#E2010-01A#2000/217#706* (B.58.71). Diese Notiz wurde von Paul Widmer, Chef des KSZE-Diensts des EDA und stv. Delegationschef, als Ergänzung zum offiziellen Schlussbericht der schweizerischen Delegation am KSZE-Expertentreffen über nationale Minderheiten in Genf verfasst. Die Notiz ging u. a. an den Vorsteher des EDA, Bundesrat René Felber, Staatssekretär Klaus Jacobi, an alle Direktoren des EDA, an die schweizerischen Vertretungen in den KSZE-Teilnehmerstaaten sowie an die Mitglieder der Schweizer Delegation. Die hier edierte Kopie ging an den Chef des Politischen Sekretariats, Botschafter Guy Ducrey, und wurde von dessen Stellvertreter Johannes Kunz visiert, vgl. das Faksimile dodis.ch/58114.↩
- 2
- Vgl. zum Expertentreffen die Zusammenstellung dodis.ch/C1875. Allgemein zu den Entwicklungen im KSZE-Prozess vgl. DDS 1991, Dok. 46, dodis.ch/58731.↩
- 3
- Bericht des Chefs der schweizerischen Delegation, Botschafter Jean-Pierre Ritter, vom 12. August 1991, dodis.ch/58111.↩
- 4
- Der Delegation gehörten neben Botschafter Ritter und Widmer der Chef des Menschenrechtsdiensts, Jean-Daniel Vigny, und Reto Dürler vom KSZE-Dienst des EDA sowie Rolf Ritschard, Sektionschef im Bundesamt für Kultur des EDI, an.↩
- 5
- Der Vorschlag zur Abhaltung eines Expertentreffens über nationale Minderheiten war eine von zwei Initiativen der Schweiz am zweiten Treffen der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE im Juni 1990 in Kopenhagen, vgl. dazu DDS 1990, Dok. 34, dodis.ch/56205 sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C1778.↩
- 6
- Für die Kreisschreiben vom 7. Januar 1991, unterzeichnet von Paul Widmer, und 11. Januar 1991, signiert von Botschafter Ritter, sowie für die Rückmeldungen über die Minderheitenlage in den respektiven Ländern vgl. die Dossiers CH-BAR#E2010A#2001/161#5579*und CH-BAR#E2010A#2001/161#5580* (B.72.09.15.1(30)).↩
- 7
- Zum Stand der Vorarbeiten vgl. die Notiz an Bundesrat Felber vom 14. Dezember 1990, dodis.ch/59400.↩
- 8
- Am 25. März 1991 fand eine Tagung des akademischen Beirats mit Vertreterinnen und Vertretern der Bundesverwaltung in Bern statt, vgl. dazu dodis.ch/59653.↩
- 9
- Vgl. dazu die Observations critiques von Botschafter Ritter, dodis.ch/58111, Punkt 6.↩
- 10
- Zum schweizerischen Projekt der Erarbeitung eines Systems der friedlichen Streitbeilegung im Rahmen der KSZE vgl. die Zusammenstellung dodis.ch/C1874.↩
- 11
- Die Exkursion der Delegationsmitglieder im Sonderzug nach Disentis, Lugano und Bellinzona fand am Wochenende des 6. und 7. Juli 1991 statt. Am 13. Juli 1991 fand zudem ein Ausflug in die Grenzregion um Basel statt. Vgl. dazu das Dossier CH-BAR#E2010A#2001/161#5584* (B.72.09.15.1(30)).↩
- 12
- Handschriftliche Marginalie des Empfängers: (saloppe).↩
- 13
- Vgl. den Bericht des KSZE-Expertentreffens über nationale Minderheiten, Genf 1991 vom 18. Juli 1991, dodis.ch/58112, S. 5.↩
- 14
- Der Vorschlag wurde von den neutralen und nichtgebundenen Staaten (N+N) am 27. Juni 1991 an den Exekutivsekretär des KSZE-Expertentreffens über nationale Minderheiten eingereicht, vgl. dodis.ch/59829.↩
- 15
- Zum Moskauer Treffen der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE vom 10. September bis 4. Oktober 1991 vgl. die Zusammenstellung dodis.ch/C1940.↩
- 16
- Vgl. dazu das Dossier CH-BAR#E2010A#2001/161#5581* (B.72.09.15.1(30)).↩
- 17
- Bericht des KSZE-Expertentreffens über nationale Minderheiten, Genf 1991 vom 19. Juli 1991, dodis.ch/58112.↩
- 18
- Vgl. dazu dodis.ch/58111, Punkt 7.↩
- 19
- Vgl. dodis.ch/58579. Vgl. zu Jugoslawien auch DDS 1991, Dok. 55, dodis.ch/57983.↩
- 20
- Gemeint ist der am 23. Oktober 1991 von Chef-Unterhändler Lord Peter Carrington im Rahmen der von der EG im September 1991 einberufenen Haager Friedenskonferenz für Jugoslawien vorgelegte Vermittlungsplan.↩
- 21
- Für die Eröffnungsrede Bundesrat Felbers vom 1. Juli 1991 vgl. dodis.ch/58562.↩
- 22
- Vgl. dazu dodis.ch/59206. Auch die Schweiz beteiligte sich an der Wahlbeobachtungsmission im Rahmen der Parlamentswahlen vom 13. Oktober 1991 in Bulgarien, vgl. dodis.ch/57489 und dodis.ch/58602.↩
Liens avec d'autres documents
http://dodis.ch/60357 | voir aussi | http://dodis.ch/58114 |
http://dodis.ch/58114 | fait référence à | http://dodis.ch/58111 |
Tags
Organisation pour la sécurité et la coopération en Europe (OSCE)
Bulgarie (Politique) Questions des minorités