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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1991, doc. 17
volume linkBern 2022
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#1740* | |
Dossier title | Besuch von Aussenminister Géza Jeszenszky in Bern, 12.Dezember 1991 (1991–1991) | |
File reference archive | B.15.21(19) • Additional component: Hongrie |
dodis.ch/57905Gespräche des Vorstehers des EDA, Bundesrat Felber, und des Vorstehers des EVD, Bundesrat Delamuraz, mit dem ungarischen Präsidenten in Bern1
Offizieller Arbeitsbesuch in der Schweiz des ungarischen Präsidenten Arpad Göncz am 30. April 1991
Der Präsident der Republik Ungarn, Arpad Göncz (G),2 welcher dieser Tage an einer Tagung der «Evangelischen Akademie für Ungarn in Europa» in Magliaso (TI) teilnimmt, weilte am 30.4. zu einem offiziellen Arbeitsbesuch in Bern. Auf dem Programm standen ein Höflichkeitsbesuch bei Bundespräsident Flavio Cotti, Gespräche mit den Bundesräten René Felber (BRF) und Jean-Pascal Delamuraz (DZ), sowie ein offizielles Mittagessen, an dem auch die Bundesräte Arnold Koller und Kaspar Villiger teilnahmen.3
Seit Bestehen der diplomatischen Beziehungen zu Ungarn (1920)4 ist dies das erste Mal, dass ein offizieller Besuch eines ungarischen Staatsoberhauptes in der Schweiz stattfindet. Gegenstand der Gespräche waren, nebst den bilateralen Beziehungen, die Lage in Ungarn sowie die Entwicklungen in Ost- und Mitteleuropa.
BRF [Bundesrat Felber] sicherte seinem Gesprächspartner die unverminderte Unterstützung Ungarns durch die Schweiz zu, welche nach der Annahme des zweiten Osteuropa-Rahmenkredits breiter und zielgerichteter sein wird.6 Das Ziel unserer Hilfe ist nach wie vor die Festigung der ungarischen Demokratie. Dieser Demokratie wurde durch die Aufnahme Ungarns in den Europarat jüngst ein erstes Reifezeugnis ausgestellt.7 Wie bisher sollen im Sinne unserer gemeinsamen Absichtserklärung8 und im gegenseitigen Einvernehmen bilaterale Projekte in den von Ungarn als prioritär erachteten Bereichen durchgeführt werden. In erster Linie sind dies die Bereiche Ausbildung und politische Kultur (Lokalverwaltung), wobei in Zukunft auch dem Umweltschutz vermehrte Bedeutung zukommen soll.9
Daneben erhofft sich G[öncz] von der Schweiz, dass sie auch die wirtschaftspolitischen Bestrebungen Ungarns unterstütze. Das diesbezüglich vordringlichste Anliegen Ungarns ist der baldige Abschluss von den asymmetrischen Zollabbau vorsehenden Freihandelsabkommen mit den EFTA-Staaten.10 D[elamuraz] bestätigte, dass diese Abkommen auf gutem Wege seien, und er drückte die Hoffnung aus, dass sie noch in diesem Jahr abgeschlossen werden könnten. Er wies auch darauf hin, dass die Schweiz anlässlich ihrer EFTA-Präsidentschaft tatkräftig auf das Zustandekommen dieser Abkommen gedrängt habe.11 Im Rahmen unserer bestehenden Möglichkeiten sollen die ungarischen Bestrebungen auch weiterhin unterstützt werden. Im Bereich des bilateralen Handelsaustausches liegt es nun vor allem an der Privatwirtschaft, die durch die Investitionsschutz- und Doppelbesteuerungsabkommen geschaffenen günstigen Rahmenbedingungen auszunützen.12 D[elamuraz]wünscht sich vor allem, dass Joint Ventures abgeschlossen werden.
Angesichts der in Ungarn herrschenden Kapitalknappheit plädierte G[öncz] für die vermehrte Präsenz westlicher Banken, insbesondere der 3 Schweizer Grossbanken.13 Wer sich diesen «Luxus» jetzt leiste, der investiere in die Zukunft.
Zum Schluss erkundigte sich G[öncz], ob die Schweiz an der im Jahre 1995 stattfindenden Weltausstellung Wien–Budapest teilzunehmen gedenke.
In politischer Hinsicht erfreut sich Ungarn – im Vergleich zu seinen Nachbarn, die teils mit grossen Minoritätsproblemen zu kämpfen haben – laut G[öncz] einer für die Region wichtigen Stabilität.14 Die Institutionen seines Landes seien bereit für die Demokratie. Bedrohungen erwachsen der ungarischen Demokratie allerdings aus dem gegenwärtigen wirtschaftlichen Umfeld. Angesichts der prekären Wirtschaftslage in diesem Lande läuft gemäss G[öncz] die ungarische Gesellschaft gegenwärtig Gefahr, Demokratie mit Armut und Arbeitslosigkeit gleichzusetzen. G[öncz] ist verständlicherweise darüber besorgt und benützt die Gelegenheit, nochmals darauf hinzuweisen, dass Ungarn auf die Hilfe des Westens angewiesen ist.15
Aussenpolitisch strebt Ungarn die politische und wirtschaftliche Einbindung in den Westen an. Damit verbunden ist auch die Wiederherstellung der vollständigen Souveränität gegenüber der Sowjetunion, sowie der Ausbau der regionalen Kooperation mit den übrigen Nachbarländern. Letztere erfolgt vor allem mit P[olen] und der CSFR (Treffen von Visegrad),16 aber auch im Rahmen der Pentagonale.17 Obwohl gemäss G[öncz] die Beziehungen Ungarns zur Sowjetunion als korrekt zu betrachten sind, mussten die laufenden Verhandlungen über einen neuen Freundschaftsvertrag vorläufig abgebrochen werden. Grund dazu war die von der Sowjetunion vorgeschobene Befürchtung, Ungarn könne dann allenfalls versucht sein, sich «der UdSSR feindlich gesinnten Organisationen» anzuschliessen. Gemäss G[öncz] sind solche Befürchtungen jedoch unbegründet, da Ungarn gar nicht daran gelegen sein kann, kein gutes Nachbarverhältnis zur Sowjetunion zu unterhalten. Allfällige Spekulationen über einen Beitritt Ungarns zur NATO seien falsch. Ungarn wünsche keinen solchen Beitritt.18
Sicherheitspolitisch strebt Ungarn – in Ermangelung gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen – die Zusammenarbeit mit anderen Staaten der Region an. Gemäss G[öncz] müsse man nämlich vor allem vermeiden, dass Mitteleuropa zur Pufferzone werde.
Mit der EG verhandelt Ungarn gegenwärtig – in Erwartung eines späteren Beitritts – über ein Assoziationsabkommen.
Ebenso wie für BRF [Bundesrat Felber], liegt auch für G[öncz] ein einheitliches Jugoslawien im Interesse ganz Europas. Für G[öncz] besteht die Gefahr, dass der serbische Kommunismus durch einen serbischen Nationalismus ersetzt wird.
Aufgrund kürzlicher Gespräche mit Vertretern der slowakischen Republik gelangt G[öncz] zur Einsicht, dass ein Auseinanderfallen der CSFR verhindert werden kann.
Für G[öncz] ist der Prozess des Zerfalls der UdSSR nicht mehr aufzuhalten. Zur Zeit zeichnet sich eine Spaltung des Landes entlang der Front 6 Republiken – 9 Republiken ab. G[öncz] befürchtet vor allem, dass Gorbatchev die ihm auferzwungenen drastischen Wirtschaftsmassnahmen nicht über längere Zeit wird aufrecht erhalten können.
Für G[öncz] ist die Revolution in Rumänien noch nicht abgeschlossen. Die Frage der ungarischen Minorität wird dort immer noch zu innenpolitischen Zwecken missbraucht. Ungeachtet dessen strebt Ungarn mittels einer Politik der kleinen Schritte die Normalisierung seiner Beziehungen mit dem Nachbarland an. Eine grosse Gefahr für die innere Stabilität Rumäniens sieht G[öncz] für den Fall, dass sich Moldawien diesem Land anschlösse. Dadurch entstünde nämlich eine ca. 1,5 Mio. Personen zählende neue Minorität.
- 1
- CH-BAR#E2010A#2001/161#1740* (B.15.21(19)). Diese Notiz wurde höchstwahrscheinlich von Patrick Pardo von der Politischen Abteilung I des EDA verfasst und als Punkt 2 im Wochentelex 19/91 vom 6. Mai 1991, dodis.ch/59623, versendet. Präsident Arpad Göncz wurde u. a. von den Staatssekretären László Bogár und Károly Szunyogh, dem Vizepräsidenten der ungarischen Zentralbank, Frigyes Hárshegyi, und dem ungarischen Botschafter in Bern, László Ódor, begleitet. Auf schweizerischer Seite nahmen nebst dem Vorsteher des EDA, Bundesrat René Felber, und dem Vorsteher des EVD, Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz, der schweizerische Botschafter in Budapest, Max Dahinden, der Delegierte des Bundesrats für Handelsverträge, Botschafter Silvio Arioli, Vizekanzler Achille Casanova sowie diverse Abteilungsleiter des EDA an den Gesprächen teil. Für die vollständige Liste der Gesprächsteilnehmer vgl. das Dossier CH-BAR#E2010A#2001/161#1738* (B.15.21(18)).↩
- 2
- Im Hinblick auf den Besuch übermittelte Botschafter Dahinden einige Bemerkungen zur Person Göncz, vgl. dodis.ch/58656.↩
- 3
- Für eine vollständige Liste der Teilnehmenden am Mittagessen im Landgut Lohn in Kehrsatz vgl. das Dossier CH-BAR#E2010A#2001/161#1738* (B.15.21(18)).↩
- 4
- Zur Frage der Anerkennung Ungarns nach dem Ende der Doppelmonarchie vgl. DDS, Bd. 7-II, Dok. 407, dodis.ch/44618.↩
- 5
- Für einen Überblick über die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und Ungarn, vgl. das für den Besuch verfasste Vorbereitungsdokument, dodis.ch/59301.↩
- 6
- Vgl. DDS 1991, Dok. 35, dodis.ch/57522 sowie die thematische Zusammenstellung Hilfe für die Länder Osteuropas, dodis.ch/T1676.↩
- 7
- Vgl. dodis.ch/58658.↩
- 8
- Vgl. DDS 1990, Dok. 33, dodis.ch/55680.↩
- 9
- Für einen Überblick der Projekte in Ungarn, die über den ersten Osteuropa-Rahmenkredit finanziert wurden, vgl. dodis.ch/59005.↩
- 10
- Vgl. dazu dodis.ch/57552 sowie dodis.ch/59302.↩
- 11
- Vgl. DDS 1990, Dok. 40, dodis.ch/55958.↩
- 12
- Für das Investitionsschutzabkommen vgl. das BR-Prot. Nr. 1329 vom 17. August 1988, dodis.ch/59633. Für das Doppelbesteuerungsabkommen vgl. die Botschaft über ein Doppelbesteuerungsabkommen mit der Ungarischen Volksrepublik vom 2. September 1981, dodis.ch/59307 sowie für die Ratifikation das BR-Prot. Nr. 652 vom 14. April 1982, dodis.ch/59797.↩
- 14
- Für die ungarische Minoritätenpolitik vgl. dodis.ch/59309.↩
- 15
- Zur wirtschaftlichen Lage Ungarns und anderer Staaten Mittel- und Osteuropas vgl. die Notiz von Botschafter Arioli vom 15. März 1991, dodis.ch/59043.↩
- 16
- Zum Treffen von Visegrad vgl. den Politischen Bericht Nr. 3 von Botschafter Dahinden vom 26. Februar 1991, dodis.ch/60257.↩
- 17
- Zum Stand der Pentagonale, der multilateralen Vereinigung von Italien, Jugoslawien, Österreich, der Tschechoslowakei und Ungarn, vgl. dodis.ch/58616.↩
- 18
- Für eine Einschätzung zur sicherheitspolitischen Lage Ungarns 1991, vgl. dodis.ch/57904. Vgl. ferner die Informationsnotiz des Vorstehers des EMD, Bundesrat Kaspar Villiger, über seinen Besuch in Ungarn vom 17. bis 19. Februar 1991, dodis.ch/55752.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/60342 | see also | http://dodis.ch/57905 |
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