Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 27, Dok. 121
volume linkZürich/Locarno/Genève 2022
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2001E-01#1988/16#905* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2001(E)-01/1988/16 215 | |
Dossiertitel | Europäische Sicherheitskonferenz / Ostblock 1.2.1978 - 15.5.1978 (1976–1978) | |
Aktenzeichen Archiv | B.72.09.15.1 |
dodis.ch/49324Telegramm des Chefs der schweizerischen Delegation beim Belgrader Treffen der KSZE, R. Bindschedler, an den Vorsteher des Politischen Departements, P. Aubert1
KSZE Belgrad
Die nächsten Tage werden darüber entscheiden, ob die Konferenz aus ihrer gegenwärtigen Krise herausfindet und mit einem einigermassen zufriedenstellenden Schlussdokument beendet werden kann. Die Aussichten für ein substantielles Resultat sind gering, nachdem sich die UdSSR und ihre Verbündeten nach wie vor weigern, in den für Westen und Neutrale unabdingbaren Punkten (Menschenrechte, Rolle des Individuums, menschliche Kontakte, Information, vertrauensbildende Massnahmen) irgendwelche Zugeständnisse zu machen2. Die Eventualität eines knappen Schlusscommuniqués, welches lediglich feststellt, man habe getagt, sich nicht über ein Dokument geeinigt und werde sich in zwei Jahren in Madrid wieder treffen, rückt näher. Die Meinung, ein solches Kommuniqué, das in der Öffentlichkeit zweifellos als «constat d'echec» aufgefasst würde, sei einem wortreichen, aber inhaltslosen Schlussdokument vorzuziehen, gewinnt bei vielen westlichen aber auch einigen neutralen Staaten an Boden. Andererseits sind in den letzten Tagen Versuche festzustellen, die klaffende Lücke zwischen den östlichen und westlich/neutralen Auffassungen durch Kompromissformeln zu überkleistern. Der – entgegen der EG-Meinung eingereichte – französische Vorschlag3 vom vergangenen Freitag gehört in diese Reihe. Die gleichzeitig vorgelegte dritte Revision des sowjetischen Grundvorschlages4 scheint die Lücke optisch zu verkleinern, enthält jedoch bei näherer Durchsicht keinen einzigen Satz, der die erwähnten westlichen und neutralen Grundsatzpunkte befriedigt. Die Gefahr eines französisch-sowjetischen Kompromisses zeichnet sich ab, vielleicht von Jugoslawien als Gastland unterstützt. Angesichts dieser Möglichkeit stellen sich die EG- und NATO-Staaten mehr und mehr hinter das von den Neutralen und Blockfreien am 1. Februar vorgelegte informelle Papier5. Der Osten hat sich indessen geweigert, unser Papier in zwei wesentlichen Teilen (militärische Aspekte und Korb III) weiter als Verhandlungsgrundlage zu erachten. Der gegenwärtige Stand und die wenig hoffnungsvollen Aussichten auf einen guten Abschluss des Belgrader Treffens6 widerspiegeln ein getreues Bild des derzeitigen Zustandes der Entspannung. Diese wird zwar Belgrad so oder so überleben, denn die KSZE stellt ja nur einen Teil aller Bemühungen unter diesem Titel dar, aber Belgrad wird wohl zumindest für einige Zeit das Ende übertriebener Erwartungen und gewisser Illusionen im Hinblick auf diese spezifische Form der Entspannung bringen. Die UdSSR warnte wiederholt, sie könne keinerlei Änderung an Buchstabe und Geist der Schlussakte und keinerlei Einmischung in innere Angelegenheiten zulassen. Mit diesen beiden Argumenten hat sie bisher jede konkrete Arbeit an den ihr unangenehmen Bereichen der Schlussakte blockiert. Dies hat sie jedoch nicht daran gehindert, ihrerseits Vorschläge zu unterbreiten, die weit über die Schlussakte hinausgehen (Nichtersteinsatz von Atomwaffen, Nichterweiterung der Militärpakte etc.). Die UdSSR möchte die von Helsinki ausgegangene Eigendynamik nicht zusätzlich fördern und das Schwergewicht der KSZE vom menschlichen Bereich weg in jenen der Abrüstung lenken7.
- 1
- Telegramm Nr. 55 (Empfangskopie): CH-BAR#E2001E-01#1988/16#905* (B.72.09.15.1). Versandt durch die schweizerische Botschaft in Belgrad. Erhalten: 20. Februar 1978, 18.15 Uhr. Zuhanden aussenpolitische Kommission und KSZE-Verteiler. Kopie an die Handelsabteilung des Volkswirtschaftsdepartements, C. Sommaruga, W. Mark und die Operationssektion der Gruppe für Generalstabsdienste des Militärdepartements. An der Sitzung der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats vom 21. Februar 1978 wurde die Angelegenheit nicht besprochen. Vgl. dazu das Protokoll vom März 1978, dodis.ch/48485. Zum Beginn des Belgrader Treffens der KSZE vgl. DDS, Bd. 27, Dok. 89, dodis.ch/49323.↩
- 2
- Zur Haltung der UdSSR vgl. das Telegramm Nr. 48 von R. Bindschedler an P. Aubert und A. Weitnauer vom 15. Februar 1978, dodis.ch/49387.↩
- 3
- Zum Vorschlag der französischen Delegation vom 16. Februar 1978, doc. CSCE/BM/73 vgl. das Telegramm Nr. 50 von R. Bindschedler an P. Aubert und A. Weitnauer vom 16. Februar 1978, dodis.ch/49385.↩
- 4
- Vorschlag der Delegation der UdSSR vom 17. Januar 1978, doc. CSCE/BM/70.↩
- 5
- Vgl. dodis.ch/52283. Vgl. ferner das Telegramm Nr. 35 von R. Bindschedler an P. Aubert und die Politische Direktion des Politischen Departements vom 1. Februar 1978, dodis.ch/49386.↩
- 6
- Zum Abschluss des Belgrader Treffens vgl. DDS, Bd. 27, Dok. 126, dodis.ch/49325 sowie das Telegramm Nr. 52 von R. Bindschedler an P. Aubert, A. Weitnauer und die Politische Direktion des Politischen Departements vom 24. Februar 1978, dodis.ch/49384.↩
- 7
- Zur Abrüstung vgl. DDS, Bd. 27, Dok. 166, dodis.ch/48273.↩
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Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)
Neutralitätspolitik Europäische Organisationen Militärpolitik Menschenrechte KSZE-Folgetreffen von Belgrad (1977–1978)