Professor Erhard und die Preisstabilisierung in Deutschland. Ruhrstatut. Arbeiten der Konstituante in Bonn. Besatzungsstatut. Deutsche öffentliche Meinung und die Entwürfe einer europäischen Föderation durch Schuman.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 17, doc. 115
volume linkZürich/Locarno/Genève 1999
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#296* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 144 | |
Dossier title | Frankfurt a.M., Konsularberichte und Berichte der "Schweiz. Hauptvertretung für die britische Zone" bzw. der "Schweiz. Diplomatischen Mission in ", Band 3 (1941–1950) |
dodis.ch/4429 Der schweizerische Generalkonsul in Frankfurt, A. Huber, an den Vorsteher des Politischen Departements, M. Petitpierre1
Der Erfolg der deutschen Währungs- und Wirtschaftsreform war im Herbst des vergangenen Jahres ernstlich bedroht, als die Preise anfingen, auf der ganzen Linie in Bewegung zu geraten und dieser Auftrieb sich derart steigerte, dass es wieder zu den aus der Zeit vor der Währungsreform so berüchtigten Warenhortungen kam2. Immer lauter wurde die Forderung nach Warenbewirtschaftung und einer neuen Preiskontrolle erhoben. In dieser Auseinandersetzung um freie Marktwirtschaft und Planbewirtschaftung blieb die Regierung und ihr Wirtschaftsminister, Prof. Erhard, in der Verteidigung der freien Preisbildung fest. Der Erfolg hat ihm Recht gegeben. Seit Mitte Dezember ist ein Tendenzumschwung festzustellen: Die Preise steigen augenblicklich nicht mehr, sie fallen. Insbesondere ist bei industriellen Erzeugnissen ein Preisrückgang festzustellen. Die Ware wird nicht gehortet, sondern wiederum angeboten, und, was besonders wichtig ist, die Löhne sind stabil geblieben und es ist zu keiner nennenswerten Arbeitslosigkeit gekommen. Es sind auch keine Anzeichen für ein Nachlassen der Beschäftigung zu sehen. Der von vielen Seiten so stürmisch geforderte Preiskommissar ist momentan nicht aktuell. Dieser Ansicht haben sich auch die Gewerkschaften, die sich übrigens sehr diszipliniert verhalten haben, nicht verschlossen. Interessant ist die mit dieser Entwicklung parallel laufende Höhenbewertung der Mark auf den Schweizerbörsen, wo der Kurs seit Ende Dezember von SFr. 17 auf SFr. 44.– stieg. Die Bedeutung dieser Notierungen darf zwar nicht überschätzt werden, da es sich nicht um ein offizielles Devisengeschäft handelt, sondern um einen kleinen Markt Marknoten, die illegal aus Deutschland aus- und wieder eingeführt werden. Immerhin ist diese Höherbewertung ein Barometer für die Besserung der westdeutschen Wirtschaftsverhältnisse.
Allerdings ist das Schiff noch bei weitem nicht in sicherem Fahrwasser. Es ist lediglich eine von vielen Stromschnellen überwunden. Bereits zeichnen sich neue Sorgen ab. In den nächsten Monaten ist eine Verteuerung der deutschen Lebensmitteleinfuhren zu erwarten. Bisher wurden die Gegenleistungen für die amerikanischen Hilfssendungen dem sogenannten «Gegenwertsfonds» lediglich in Höhe der deutschen Inlandspreise einbezahlt. Ab 1. Mai müssen diese Einzahlungen – um auch ein indirektes deutsches Preisdumping auszuschalten – zu Weltmarktpreisen erfolgen.
In der Atmosphäre dieser wirtschaftlichen Stabilisierung ist eine innenpolitische Beruhigung eingetreten. Die Wogen der Aufregung über das Ruhrstatut haben sich gelegt3. Die Nachricht von der Einrichtung eines militärischen Sicherheitsamts, welches eine vielleicht noch einschneidendere internationale Kontrolle bringt als die Ruhrbehörde, wurde mit bemerkenswerter Ruhe hingenommen. Der Chef der bizonalen Verwaltung, Oberdirektor Pünder, erklärte sogar, dass er das Sicherheitsamt bejahe, sofern es sich auf die Aufgabe beschränke, eine Remilitarisierung in Deutschland zu verhindern und nicht als Instrument im internationalen wirtschaftlichen Konkurrenzkampf benützt werde. Im gleichen Sinne sprach sich Dr. Adenauer aus. Sowohl im Wirtschaftsrat4 wie im Parlamentarischen Rat in Bonn beruhigten sich die Fehden zwischen den zwei grossen Parteien, der Sozialdemokratie und der Christlich Demokratischen Union. Die Arbeiten der Konstituante in Bonn nehmen einen günstigen Fortgang5. Der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates hat die dritte Lesung des Verfassungsentwurfes beendet6. Da es gelang, über die strittigen Probleme weitgehend Übereinstimmung zu erzielen, ist im Plenum nicht mehr mit grossen Schwierigkeiten zu rechnen. Bleibt die Genehmigung des Entwurfes durch die Alliierten. Eine vorläufige Erörterung des Grundgesetzes durch die Generäle Clay, Robertson und König hat bereits stattgefunden. Die Aussetzungen scheinen nicht gravierend zu sein. Es dürfte sich um kleinere Berichtigungen handeln. Eine gefährliche Klippe bildete der neue Versuch Stalins, die Verschiebung der westdeutschen Regierungsbildung zu erreichen, durch das Versprechen, die Blockade Berlins aufzuheben7. Es ist bemerkenswert, dass dieser in vieler Hinsicht sowohl für Deutsche wie Alliierte so lockende Vorschlag kein Echo gefunden hat, weder bei den Alliierten noch in Deutschland. Diese Reaktion zeigt, dass bei Angelsachsen wie Deutschen der Wille besteht, so schnell als möglich zu einer westdeutschen Regierung zu gelangen.
Es ist nach wie vor das Besatzungsstatut, das Schatten auf die Zukunft wirft8. Bis zur Stunde ist den deutschen Behörden keine offizielle Mitteilung über dessen Inhalt zugegangen. In alliierten Kreisen hört man besorgte Äusserungen über eine ablehnende Aufnahme seitens der Deutschen. Immerhin scheinen die Londoner Verhandlungen über das Okkupationsstatut, die nunmehr bereits 4 Wochen dauern, vor dem Abschluss zu stehen. Zwei Fragen scheinen noch offen zu sein: ob die Beschlüsse der drei Militärregierungen einstimmig oder mit blosser Mehrheit gefasst werden müssen, sowie die Zusammensetzung und die Kompetenz des obersten Schiedsgerichts für die Auslegung des Besatzungsstatuts. England schloss sich dem französischen Standpunkt an, keine Deutschen in das Schiedsgericht aufzunehmen, während die amerikanische Delegation darauf beharrt. Eine Einigung ist darüber erzielt worden, dass die Entscheidungen des Schiedsgerichts nicht nur für die deutsche Regierung, sondern auch für die Besetzungsmächte bindend sein sollen. Der Verlauf der Konferenz bestätigt die in letzter Zeit sich abzeichnende Tendenz einer Annäherung zwischen England und Frankreich in der Deutschlandpolitik.
Die deutsche Öffentlichkeit verfolgt mit gespannter Aufmerksamkeit die Vorarbeiten zur Gründung einer europäischen Föderation. Minister Schumans Äusserung, Westdeutschland in die europäische Union einzubeziehen und ihren Vertretern einen Platz in der Assemblée Européenne vorzubehalten, weckt grösste Hoffnungen9. In den deutschen politischen Kreisen hofft man, auf diesem Wege einer deutsch-französischen Aussöhnung näher zu kommen und damit ein stark retardierendes Moment auszuschalten. Darüber hinaus glaubt man, dass die Aufnahme Deutschlands dessen Stellung in der Völkergemeinschaft wesentlich beeinflussen könnte. In der Tat könnte die Einbeziehung Deutschlands in die europäische Union die Normalisierung der völkerrechtlichen Stellung Westdeutschlands beschleunigen und die Entwicklung fortführen, welche der Marshall-Plan angebahnt hat. Fast ebenso wertvoll in seinen materiellen Hilfen war die Durchsetzung des Gedankens, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau Deutschlands im Interesse aller Länder ist. Davon gingen ununterbrochen Impulse zur Überwindung der Isolierung und Diskriminierung Deutschlands aus. Ähnlich könnte die Aufnahme in die europäische Föderation zum wirksamen Wegbereiter für eine sukzessive völkerrechtliche Gleichstellung werden.
- 1
- E 2300 Frankfurt/3.↩
- 2
- Die Währungsreform wurde am 21. Juni 1948 durchgeführt. Vgl. Nrn. 81 und 88 in diesem Band. Zur Währungsreform im allgemeinen vgl. E 2001(E)-/1/341 sowie dodis.ch/2791, 4381, 4849, 4850, 4851, 4860.↩
- 3
- Das Ruhrstatut trat am 22. April 1949 in Kraft, nachdem am 28. Dezember 1948 das Londoner Sechs-Mächte-Abkommen zur Errichtung einer Internationalen Ruhrbehörde abgeschlossen worden war. Vgl. auch DDS, Bd. 17, Dok. 81, dodis.ch/4423.↩
- 4
- Mit dem Abkommen zwischen den USA und Grossbritannien vom 29. Mai 1947 wurden als Übergangslösung deutsche bizonale Verwaltungsorgane geschaffen, um die wirtschaftlichen Probleme zu bewältigen. Neben exekutiven Gremien wurde der aus verschiedenen Mitgliedern der Länderparlamente zusammengesetzte Wirtschaftsrat eingesetzt.↩
- 5
- Der Parlamentarische Rat nahm am 1. September 1948 seine Arbeit auf. Zur Bildung der verfassunggebenden Versammlung vgl. DDS, Bd. 17, Dok. 81, dodis.ch/4423.↩
- 6
- Die dritte Lesung wurde am 8. und 10. Februar 1949 durchgeführt.↩
- 7
- Vgl. DDS, Bd. 17, Dok. 81, dodis.ch/4423.↩
- 8
- Am Aussenministertreffen vom 6.–8. April 1949 in Washington einigten sich die drei Westmächte über den endgültigen Inhalt des Besatzungsstatuts und beschlossen die Errichtung einer Alliierten Hohen Kommission als höchste Kontrollbehörde über Westdeutschland.↩
- 9
- Die Bundesrepublik Deutschland wurde 1951 Vollmitglied des Europarats. Vgl. auch Nrn. 49 und 80 in diesem Band.↩
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