Die sechs Teilnehmerstaaten an der Londoner Konferenz zur Zukunft Westdeutschlands beschliessen die Währungsreform, die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung in Frankfurt und die Einsetzung einer internationalen Ruhrkommission. Wahrscheinliche Reaktion der UdSSR, sobald die Entscheide öffentlich werden.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 17, doc. 81
volume linkZürich/Locarno/Genève 1999
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#296* | |
Dossier title | Frankfurt a.M., Konsularberichte und Berichte der "Schweiz. Hauptvertretung für die britische Zone" bzw. der "Schweiz. Diplomatischen Mission in ", Band 3 (1941–1950) |
dodis.ch/4423 Der schweizerische Vertreter für die amerikanische und britische Zone, A. Huber, an den Vorsteher des Politischen Departements, M. Petitpierre1
Die Londoner Sechsmächtekonferenz, welche bereits im Februar und nun seit dem 21. April über die künftige Gestaltung Deutschlands beriet, wird nächste Woche zu Ende gehen. Wie ich aus zuverlässigen Quellen erfuhr, gelang es nach vielen Kompromissen, eine Einigung zu erzielen über die Währungsreform in den drei Westzonen, über die Bildung einer westdeutschen Regierung sowie über die Einsetzung einer internationalen Kontrollkommission für die Ruhr. Die gemeinsamen Empfehlungen der Konferenz werden nunmehr den sechs interessierten Staaten, USA, Grossbritannien, Frankreich und den Benelux-Staaten, unterbreitet werden. Ein Communiqué wird die allgemeinen Linien der Konferenz-Ergebnisse bekanntgeben.
Nach den hiesigen Verlautbarungen soll die deutsche Konstituante am 1. September 1948 in Frankfurt zusammentreten, um die Verfassung des künftigen westdeutschen Staates auszuarbeiten. Die verfassunggebende Versammlung wird aus ungefähr 55 Mitgliedern bestehen, je ein Abgeordneter auf 750’000 Einwohner. Die Umrisse der künftigen Verfassung werden der Konstituante von den Militärgouverneuren der drei Besetzungsmächte vorgezeichnet werden. Es handelt sich somit um eine halb oktroyierte Verfassung. In diesen Direktiven werden insbesondere die Kontrollbefugnisse, welche sich die Besetzungsmächte vorbehalten, umschrieben werden. Diese Überwachung wird sich hauptsächlich beziehen auf die politischen und Handelsbeziehungen mit dem Ausland, sowie auf militärische Fragen und gewisse Wirtschaftsprobleme. Völkerrechtlich wird der künftige Staat als Protektorat anzusprechen sein.
Was die staatsrechtliche Form anbetrifft, soll das künftige Westdeutschland ein Bundesstaat werden. In diesem Punkte hat Frankreich, das den Gedanken eines Staatenbundes vertrat, sich zu bedeutenden Konzessionen bereit gefunden. Um die Befürchtungen Frankreichs in dieser Hinsicht zu zerstreuen, sollen die Kompetenzen der künftigen Regierung nach gemässigt zentralistischen Prinzipien aufgebaut werden und ihr nur diejenigen Befugnisse zustehen, die das moderne Wirtschafts- und Verkehrsleben absolut erfordern. Die künftige Regierung soll zu Beginn des Jahres 1949 eingesetzt werden. Ihr Sitz wird voraussichtlich Frankfurt a. M. sein. Die legislativen Kompetenzen werden von einem aus zwei Kammern bestehenden Parlament ausgeübt werden. Die von der Konstituante ausgearbeitete Verfassung wird nicht einer Volksabstimmung unterbreitet werden. Sie gilt als angenommen, falls ihr 2/3 der deutschen Länder zustimmen.
Die Beziehungen zwischen der westdeutschen Regierung und den Militärgouverneuren der drei Besetzungsmächte soll durch ein Besetzungsstatut geregelt werden. Dieses Dokument wird vor allem die Befugnisse, die den Militärgouverneuren noch zustehen werden, umschreiben. Die seinerzeit viel besprochene Fusion der Bizone zur Trizone wird angesichts des neuen Planes, der über eine blosse Zonenverschmelzung weit hinausgeht, gegenstandslos.
In der Ruhrfrage hat Grossbritannien grosse Konzessionen gemacht: In der Ruhr soll eine internationale Kommission gebildet werden. Sie wird aus sieben Mitgliedern bestehen, und zwar aus sechs Vertretern der Westmächte und einem von den drei Besetzungsmächten bezeichneten deutschen Mitglied. Dem amerikanischen, britischen und französischen Vertreter sollen bei gewissen Beschlüssen der Kommission qualifizierte Rechte zustehen. Hauptaufgabe der Kommission wird sein, zu bestimmen, welche Kohlen- und Stahlmengen an die anderen europäischen Staaten exportiert und welche für den deutschen Bedarf zurückbehalten werden sollen.
Auch über die Durchführung einer Währungsreform soll eine grundsätzliche Einigung erzielt worden sein2. Die Meldung des schweizerischen Radios, wonach die Reform sofort in Kraft trete, ist unzutreffend. Die Reorganisation der Währung soll erst nach Einbringung der Ernte erfolgen, um der neuen Mark ein einigermassen äquivalentes Warenangebot gegenüberzustellen.
Es lässt sich nicht leugnen, dass die verschiedenen von der Londoner Konferenz geplanten Massnahmen in Widerspruch stehen zum Buchstaben des Potsdamer Abkommens. Nach dessen Bestimmungen haben über Fragen der Währung alle vier Mächte gemeinsam zu befinden und die Einsetzung einer westdeutschen Regierung ist zweifellos die Negation der Verwaltung Deutschlands durch die vier Mächte. Obwohl diese Viermächteverwaltung durch Schuld der Russen nie viel mehr als eine Fiktion war, ist mit ihrem heftigen Widerspruch zu rechnen. Für den Kreml ist das Problem Deutschland von grösster Bedeutung, denn er befürchtet, dass ein Gelingen der Währungsreform und des Marshall-Planes zusammen mit der staatlichen Konsolidierung Westdeutschlands zu einer Verschiebung des Potentials zwischen West und Ost führen könnten. Die Frage nach der Reaktion der Sowjets beschäftigt denn auch alle Gemüter. Wird die Ausrufung einer ostdeutschen Gegenregierung oder eine Aktion gegen den schwächsten Punkt der Westalliierten, gegen Berlin, die russische Antwort sein3? Mit dieser Eventualität wird hier ernsthaft gerechnet. Die Tatsache, dass in den letzten Wochen eine Reihe wichtiger Ämter von Berlin nach Frankfurt und in andere Städte der amerikanischen und britischen Zone verlegt wurden, deutet darauf hin.
Der Ausgang einer russischen Aktion gegen Berlin wäre für die Westalliierten in der Tat sehr zweifelhaft. Da die westlichen Sektoren ohne Landverbindung sind, können die Russen durch blosses Abschneiden der Lebensmittelzufuhren und, was noch schwerer ins Gewicht fiele, durch Unterbindung von Elektrizität und Wasser den Westmächten und besonders der Bevölkerung in ihren Sektoren das Verbleiben unerträglich machen. Die Russen sind überzeugt, dass sie ohne das Risiko eines casus belli vorgehen können. Für die öffentliche Meinung der Weststaaten wäre es kaum tragbar, auf eine gewaltlose Aktion mit militärischen Mitteln zu reagieren. Mourir pour Berlin? und noch dazu unter Umständen, die nicht den Charakter einer militärischen Agression haben? Die Westmächte können sich in den nächsten Wochen vor ein schweres Dilemma gestellt sehen, denn die Aufgabe Berlins wäre ein äusserst empfindlicher Prestigeverlust nicht nur bei den Berlinern, sondern bei der ganzen Bevölkerung Deutschlands. Ein sehr grosser Teil der Berliner Bevölkerung hat sich für den Westen bekannt und exponiert. Wenn diese Leute nunmehr fallen gelassen werden, würde das Ansehen der Alliierten einen schweren Stoss erleiden. Sollte unter diesen Umständen die Drohung gegen Berlin auf die Durchführung der geplanten Massnahmen doch noch retardierende Wirkung ausüben?
- 1
- E 2300 Frankfurt/3.↩
- 2
- Vgl. Nrn. 88 und 115, insbesondere Anm. 1, in diesem Band.↩
- 3
- Die Berlin-Blockade der Sowjetunion begann unmittelbar nach der Bekanntgabe der Währungsreform am 19. Juni 1948. Vgl. Nrn. 88 und 115 in diesem Band.↩
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