Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
II. BILATERALE BEZIEHUNGEN
6. Deutsches Reich
6.5. Mehlzollfrage
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 5, doc. 222
volume linkBern 1983
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E6#1000/953#70* | |
Old classification | CH-BAR E 6(-)1000/953 12 | |
Dossier title | Berichte, Zeitungsausschnitte, Amtsbuch und Korrespondenz (vor allem betr. Ausführungsbegünstigungen für deutsches Weizenmehl) (1908–1909) |
dodis.ch/43077
Antrag des Vorstehers des Handels-, Industrie- und Landwirtschaftsdepartementes, A. Deucher, an den Bundesrat1
Der Bundesrat hat am 6. dies auf unsern Antrag beschlossen:
1. Es sei durch das Handelsdepartement eine Konferenz zur Erörterung der
Frage zu veranstalten, ob auf das Begehren der Müller betreffend Erhebung eines Zollzuschlags für deutsches Backmehl I. Klasse einzutreten sei, oder ob allenfalls andere Massregeln ergriffen werden sollten;
2. Es sei das Justizdepartement zu beauftragen, das genannte Begehren inzwischen von den rechtlichen Gesichtspunkten aus zu begutachten.
Das Justizdepartement ist dem Auftrag mit einer Vorlage vom 2. dies nachgekommen und zu dem Schlüsse gelangt, dass Deutschland den schweizerischen
Mehlzoll von Fr. 2.50 durch Bindung im Handelsvertrag ausdrücklich als Schutz
für die schweizerische Müllerei anerkannt habe und deshalb nicht berechtigt sei,
denselben durch eine Exportprämie für Mehl, das nach der Schweiz ausgeführt wird, illusorisch zu machen.
Die beschlossene Konferenz hat am 16. dies stattgefunden. Dass das deutsche
System auf eine Exportprämie hinauslaufe, wurde in der Diskussion allgemein anerkannt. Ebenso wurde konstatiert, dass diese Prämie und die in der Statistik zu Tage getretene Wirkung derselben einen grossen Teil unserer Müllerei konkurrenzunfähig machen und dem Ruin entgegenführen müsse. Von Herrn
Dr. Laur wurde ausgeführt, dass auch die Landwirtschaft erheblich geschädigt
würde, indem sie hinsichtlich des Bezugs der Viehfuttermehle und der Kleie vom
Ausland abhängig würde und diese Artikel, die zwar durch andere Futtermittel ersetzt werden könnten, deshalb in Zukunft teurer bezahlen müsste, wenn unsere Mühlen geschlossen würden. Aus Landwirtschaftskreisen sei daher keine
Opposition gegen allfällige Massregeln zu gunsten der Müller zu erwarten. Der
Vertreter des Militärdepartements setzte das militärische Interesse am Bestand von Mühlen im Innern des Landes und an der mit dem Bestände der Mühlenindustrie verknüpften Einfuhr guter Weizenqualitäten, die eine lange Lagerung ertragen, auseinander2.
Über den Rechtsstandpunkt traten verschiedene Auffassungen zu tage. Vom Herrn Bundespräsidenten und den Herren Vorstehern des Justiz- und Zolldepartements wurde die Ansicht vertreten, dass die Prämie mit dem Handelsvertrag unvereinbar sei, weil sie den schweizerischen Mehlzoll von Fr. 2.50 als Schutz der schweizerischen Mühlenindustrie illusorisch mache, dieser Zoll aber von Deutschland durch die Bindung im Vertrag anerkannt worden sei. Die Schweiz müsse daher energische diplomatische Vorstellungen erheben. Vom Herrn Vorsteher des Justizdepartements wurde dabei besonders betont, dass einstweilen auf Selbsthülfe durch Erhebung eines Prämienzuschlags oder ähnlicher Massregeln verzichtet werden müsste, um nicht selbst das Odium eines Vertragsbruchs auf sich zu laden. Für die Selbsthülfe könnten nur heroische Mittel, wie z.B. eine Ausfuhrprämie für einen, vom Handelsvertrag unberührten Artikel der schweizerischen Ausfuhr nach Deutschland, oder eine Bundessubsidie an die Müller oder das Monopol in Betracht kommen.
Von Herrn Nationalrat Frey wurde hingegen die Ansicht geäussert, dass von einer Vertragsverletzung nicht gesprochen werden könne, weil das heutige deutsche Prämiensystem schon lange vor dem Abschluss des Handelsvertrages bestanden habe. Eine Änderung sei nur dadurch eingetreten, dass die Prämie infolge der am 1. März 1906 erfolgten Erhöhung des deutschen Weizenzolles von Mark 3.50 auf Mark 5.50 sich von selbst vergrössert habe und dadurch erst zur vollen praktischen Wirkung gelangt sei. Der Vertrag komme gar nicht in Betracht. Jeder Teil sei autonom, und die Schweiz könne daher der deutschen Prämie einfach die in Art. 4 des Zolltarifgesetzes vorgesehene Selbsthülfe durch einen Prämienzuschlag entgegensetzen. Repressalien seien trotz den Drohungen des Herrn v. Koerner nicht zu erwarten, und wenn sie allenfalls doch erfolgen sollten, müsste man eben der Gewalt weichen und den Zuschlag wieder aufheben. Der Vorsteher des Handelsdepartements trat dieser Auffassung entgegen, indem er ein allfälliges Zurückgehen als das Schlimmste bezeichnete und sich im übrigen ebenfalls für eine energische diplomatische Verfolgung der Angelegenheit aussprach.
Die Zweckmässigkeit der allfälligen Anrufung eines Schiedsgerichts stellte sich in der Diskussion als fraglich heraus. Ein Spruch könnte zu lange auf sich warten lassen, der Ausgang wäre zudem ungewiss und würde im ungünstigsten Falle jede Aktion gegen Deutschland lähmen.
Schliesslich wog allseitig die auch vom Herrn Minister von Claparède verfochtene Ansicht vor, es sei von der Ergreifung einer autonomen Massregel oder der allfälligen Anrufung eines Schiedsgerichts vorläufig Umgang zu nehmen. Statt dessen sei entweder durch ein Erinnerungsschreiben an Herrn v. Koerner auf eine baldigste schriftliche Mitteilung des deutschen Untersuchungsergebnisses zu dringen oder durch eine förmliche Note an das Auswärtige Amt unter Andeutung unseres Rechtsstandpunktes eine Änderung des deutschen Systems zu verlangen. Bis zum Eintreffen einer Antwort wären die Massregeln zu studieren, die allenfalls ergriffen werden könnten, um der schweizerischen Müllerei zu Hülfe zu kommen.
Die formelle Frage, ob zunächst ein Erinnerungsschreiben oder aber eine Note vorzuziehen sei, haben wir nun näher erwogen und auch noch mit Hrn. Minister von Claparède eingehend erörtert.
Vom Handelsdepartement wurde bereits mit seinem Antrag vom 22. Februar, allerdings nur zu einer vorläufigen eigenen Orientierung über die Form eines allfälligen Vorgehens, der Entwurf einer Note an das Auswärtige Amt in Berlin vorgelegt3, in welcher die Frage sachlich und formell kurz auseinandergesetzt, sodann die Hoffnung ausgedrückt würde, dass sich die k. Regierung von der Richtigkeit unserer Darlegung überzeugen und sobald als möglich zu einer Remedur entschliessen werde, mit dem Beifügen, dass infolge der wachsenden Mehleinfuhr aus Deutschland die Lage der schweizerischen Müllerei immer unerträglicher werde, zudem auch die öffentliche Meinung in der Schweiz sich mit der Angelegenheit zu beschäftigen beginne und sich der Bundesrat daher genötigt sehen werde, einstweilen die Vorbereitungen für die Erhebung eines der deutschen Ausfuhrprämie entsprechenden Zuschlags für deutsches Mehl erster Klasse zu treffen.
Herr Minister von Claparède setzte diesem Entwurf, der ihm von uns zur Kenntnis gebracht wurde, in formeller Beziehung die Ansicht entgegen, dass es immer bedenklich sei, eine mündliche Besprechung zum Ausgangspunkt für die Begründung einer Note zu nehmen, und dass es daher vorzuziehen wäre, wenn er nicht beauftragt würde, eine Note an das Auswärtige Amt zu richten, sondern wenn von Bern aus eine Depesche an ihn gerichtet und er beauftragt würde, Hrn. von Koerner eine Abschrift zu hinterlassen. Er fügte den Entwurf einer solchen Depesche bei. Der Inhalt derselben würde sich darauf beschränken, im Ingress die mündlichen Mitteilungen des Hrn. von Koerner zu rekapitulieren, daran anschliessend zu erklären, der Bundesrat werde von den Vertretern der Mühlenindustrie gedrängt, baldige Massnahmen zu ergreifen, und es müsse damit gerechnet werden, dass die Angelegenheit in der bevorstehenden Session der Bundesversammlung zu Erörterungen Anlass geben werde. Es würde ferner auf die Statistik hingewiesen und schliesslich die Hoffnung ausgedrückt, dass die k. Regierung uns ihren Standpunkt und die Grundlagen für fernere Besprechungen und Verhandlungen ohne weiteren Verzug bekannt geben werde. Von einer neuen rechnerischen Darstellung des deutschen Prämiensystems wäre nach Ansicht des Hrn. von Claparède in diesem Schreiben Umgang zu nehmen, weil unsere Auffassung in dieser Hinsicht in Berlin durch die bisherigen Erörterungen und die Denkschrift der Müller als genügend bekannt vorausgesetzt werden könne.
Wir sind nun zu dem Schlüsse gekommen, dass in einer Note nicht einfach an das vorausgegangene angeknüpft werden könnte, sondern die ganze Frage sozusagen neu dargestellt und anhängig gemacht werden müsste, weil sie der Reichsregierung bis jetzt noch nie in dieser Form, sondern nur in mündlichen Erörterungen (Handelsvertragsunterhandlungen von 1903 und Delegationskonferenz von 1907) vorgelegt wurde. Deutscherseits könnte eine solche Note aber leicht zum Ausgangspunkt einer ganz neuen Behandlung der Sache gemacht und damit eine weitere lange Hinausschiebung motiviert werden wollen. Ein blosses Erinnerungsschreiben dagegen würde, wie bereits gesagt, nur an die letzten mündlichen Mitteilungen des Hrn. von Koerner anknüpfen und daher schneller zu dem Ziele führen können, das darin besteht, sobald als möglich eine schriftliche Erklärung als Grundlage für unsere weitern Entschliessungen zu erhalten. Sicher wäre dies allerdings keineswegs, aber sehr wahrscheinlich, sofern gleichzeitig, wie Herr von Claparède nun vorschlägt, der hiesige deutsche Gesandte, Herr von Bülow, durch den Herrn Bundespräsidenten von der'Situation unterrichtet und ihm ein gedrängtes Exposé des Sachverhalts, wie es in einer förmlichen Note auch gegeben werden müsste, überreicht würde. Dieses Vorgehen würde Herr von Claparède für sehr zweckmässig und selbst für wirksamer als eine blosse Note halten, die doch wieder in erster Linie an die Handelsabteilung des Auswärtigen Amts, als deren Geschäftskreis berührend, gewiesen würde.
Wir geben dieser Kombination aus den genannten Gründen ebenfalls den Vorzug vor einer Note, legen aber den Entwurf einer solchen ausser demjenigen eines Erinnerungsschreibens und eines Exposés für Herrn von Bülow bei, für den Fall, dass der Bundesrat einer Note den Vorzug geben sollte. Eine gleichzeitige Benachrichtigung des Hrn. von Bülow wäre selbstverständlich auch im letztem Falle nicht ausgeschlossen. Wir stellen den Antrag:4
1. Es sei an Hrn. Minister von Claparède durch die Bundeskanzlei ein Erinnerungsschreiben nach beiliegendem Entwurf zu richten, mit der Ermächtigung, Hrn. von Koerner eine Abschrift desselben zu überreichen.
2. Es sei der deutsche Gesandte in Bern durch den Hrn. Bundespräsidenten von der Situation in Kenntnis zu setzen, unter Überreichung eines kurzen Exposés nach beiliegendem Entwurf, sowie eines Exemplars der Denkschrift des schweizerischen Müllerverbandes;
3. Es sei das Handelsdepartement zu bauftragen, einstweilen gemeinsam mit dem Politischen, dem Zolldepartement, dem Militär- und dem Justizdepartement die Massregeln zu studieren, welche im Falle einer ungünstigen Antwort der deutschen Regierung zum Schutze der bedrohten Interessen ergriffen werden könnten.