Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
II. BILATERALE BEZIEHUNGEN
8. Frankreich
8.6. Zonenfrage
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 5, doc. 212
volume linkBern 1983
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2#1000/44#1664* | |
Old classification | CH-BAR E 2(-)1000/44 282 | |
Dossier title | BB vom 19.6.1908 betr. die Einfuhr aus den zollfreien Zonen von Hochsavoyen und Gex (1907–1909) | |
File reference archive | B.137.2 |
dodis.ch/43067
Protokoll einer orientierenden Besprechung über die freie Zone1
[...]2
[...]
Eines wissen Sie bereits, dass schon vor der Eingabe des franz. Botschafters an den Bundesrat in der freien Zone eine industrielle Partei bestand, die eine Bewegung zur Aufhebung der Zonen inszeniert hat. Dieser drohenden Bewegung steht die landwirtschaftliche Bevölkerung gegenüber, die im Gegenteil Fortbestand der Zonen und grössere Zollerleichterungen für die Ausfuhr ihrer Produkte nach der Schweiz wünscht.
Offiziellen Ausdruck fand diese Bewegung, die von Stadt und Kanton Genf unterstützt wird, dadurch, dass der franz. Botschafter im September 1907 ein mündliches Begehren an den Bundesrat richtete. Erst auf mein Verlangen wurde dann eine kurze «Verbalnote» ohne Begründung eingereicht. Es scheint, dass die franz. Regierung absichtlich so gehandelt hat, um der Sache nicht eine zu grosse politische Bedeutung zu geben. Es konnte auch uns konvenieren, möglichst freie Hand zu haben, und das Nötige vorkehren zu können, ohne unter französischem Drucke zu stehen.
[...]3
Anders und viel schwieriger ist die Frage mit bezug auf Vieh und Fleisch.
Vieh und Fleisch, die aus der Zone kommen, geniessen keine besondern Vergünstigungen und entrichten demnach die vertraglichen Zollansätze, die heute bedeutend höher sind als vor dem Jahre 1906. Das Begehren der französ. Handelskammer in Genf geht nun nicht etwa dahin, für diese drei Artikel die alten Zollverhältnisse wieder herzustellen, sondern verlangt geradezu Zollfreiheit für ein bestimmtes Quantum Ochsen, Kälber und Fleisch.
Da stehe ich nun auf dem Boden der absolutesten Ablehnung. Abgesehen von der grossen finanziellen Einbusse, sind wir schon wegen der unbedingt notwendigen Viehseuchenkontrolle darauf angewiesen, Zölle zu haben. Nie und nimmer kann hier von Zollfreiheit die Rede sein.
Förmlich unverständlich ist das Begehren der sog. französischen Handelskammer in Genf, die nicht weniger als 10000 Mastkälber zollfrei haben möchte. Die Zahl ist so exorbitant, dass man staunen muss, woher die Leute den Mut zu dieser Forderung genommen haben.
Wir würden demnach:
Die Zollfreiheit für Vieh unbedingt ablehnen und auf die Begehren zum Fleisch unter keinen Umständen eintreten. Aus hygienischen und viehpolizeilichen Gründen kann die zweite Forderung (Fleisch) nicht berücksichtigt werden; im Interesse Genfs wäre dies ja nicht einmal nötig, sagt man doch selber in Genf, man könne sogar das Fleisch verbieten, wenn man nur beim Vieh Konzessionen mache. Die Genfer beziehen grosse Schlachtgebühren; sie sollen diese zuerst ermässigen, bevor sie Opfer von der Eidgenossenschaft fordern.
Dass Genf für seinen Viehbedarf auf die Zone angewiesen ist, kann man billigerweise nicht in Abrede stellen, und es drängt sich dabei die Frage auf, ob man vielleicht für eine beschränkte Anzahl Stück Schlachtvieh einen ermässigten Zoll gewähren könnte. Von den Zahlen der franz. Handelskammer müsste jedoch von vorneherein abgesehen werden.
[...]
Aus dem Gesagten werden Sie ersehen, meine Herren, dass das Departement gewillt ist, etwas zu tun, aber nicht in dem Masse, wie es von Frankreich begehrt wird. Und was geschehen wird, geschieht nur im Interesse Genfs, nicht wegen Frankreich.
Unserer Ausfuhr von 10 Millionen nach den Zonen steht eine Einfuhr von 20 Millionen gegenüber. Und es ist offenbar, dass unter den nach den Zonen gelieferten Waren noch sehr viele sind, die nicht einmal aus der Schweiz stammen, sondern aus fremden Staaten kommen.
Über die Weineinfuhr habe ich noch nachzutragen, dass neben den 10000 hl zollfreien Wein noch etwa 20000 hl unter der Rubrik «Landwirtschaftl. Grenzverkehr» zollfrei eingeführt werden. Bei all dieser Einfuhr bedarf es ausgedehnter Vorsichtsmassregeln, damit wir nicht betrogen werden; es wird eben grosser Missbrauch getrieben mit den Bons de crédit.
Da uns Frankreich kein Äquivalent bieten kann für allfällige Konzessionen, wird es sich auch nicht um eine vertragliche Abmachung handeln können, sondern einzig und allein um autonome Zugeständnisse.
Nach diesen orientierenden Ausführungen des Chefs des Handelsdepartements bemerkt
Bundesrat Comtesse, dass die finanzielle Frage hier keine grosse Rolle spiele. Die politischen und rein wirtschaftlichen Verhältnisse müssen bestimmend wirken, und die Stellung Genfs zu den Zonen, dessen Abhängigkeit von diesen Gebieten ist ausschlaggebend. Seit Jahren besteht in den Zonen eine feindliche Partei, die es am liebsten hätte, wenn die gegenwärtigen Zustände aufhörten. Auf ihrer Seite steht auch die französische Zollverwaltung. Sobald wir keine oder nur ungenügende Zugeständnisse machen, liefern wir dieser zonenfeindlichen Partei willkommene Waffen in die Hände. Wir müssen wohl bedenken, dass wir die Freiheit der Zonen behalten, aber mit dem neuen Zolltarif die Einfuhr aus denselben erschwert haben. Wir haben also das bisherige Gleichgewicht gestört und gegenüber der Zone uns einer Unbilligkeit schuldig gemacht.
Wenn wir unter den gegenwärtigen Umständen keinerlei Zugeständnisse machen, werden die Forderungen in kurzer Zeit, und vielleicht in verschärfter Form wiederkehren und die ganze Frage sich dann in unerquicklicher Weise zuspitzen. Es ist daher jedenfalls vorzuziehen, die Gelegenheit nicht vorübergehen zu lassen, sondern durch greifbare Konzessionen beizeiten die Gemüter zu beruhigen.
Er glaubt, dass man die begehrten 10000 hl Wein schon zugestehen und auch in den ändern Positionen Entgegenkommen beweisen könnte.
Namentlich betont er die politische Seite der Angelegenheit. Das wirtschaftliche Interesse muss unter allen Umständen zurücktreten hinter der viel wichtigem und äusserst delikaten politischen Frage.
In der Savoyer Angelegenheit sind schon viele politische Fehler begangen worden, und wenn wir diesmal nicht in wohlbedachter Weise den Wünschen der Zonenbewohner und der Genfer entgegenkommen, so begehen wir den letzten grossen politischen Fehler und könnten uns damit für die Zukunft eine verhängnisvolle Lage schaffen.
Begnügen wir uns mit der Ausfuhr von 10 Millionen Franken nach den Zonen, suchen wir sie uns weiterhin zu erhalten und sorgen wir vor allem dafür, dass Genf unsern guten Willen anerkennen muss.
Laur. Der Bauernverband hat in seiner letzten Sitzung die Antwort auf die Anfrage des Handelsdepartementes besprochen; sie liegt auch im Manuskripte vor, konnte aber noch nicht gedruckt werden; deshalb sind wir etwas im Verzüge.4 Um die Herren nun mit dem Standpunkte unseres Verbandes doch einigermassen vertraut machen zu können, muss ich etwas eingehend werden. Ich folge dabei im wesentlichen den Punkten des vor mir liegenden Gutachtens.
Der erste Eindruck, den die franz. Begehren auf mich machten, war eine grosse Überraschung. Bei den Handelsvertragsunterhandlungen war man auf beiden Seiten damit einverstanden, dass der Status quo das Leitmotiv bilden sollte, auch mit bezug auf die Zonenfrage. Wenn Frankreich nun nachträglich neue Opfer von uns verlangt, so soll es erklären, dass es bereit ist für Gegenleistungen. Aus der Zuschrift des Handelsdepartementes habe ich gemerkt, dass Frankreich an unser Billigkeitsgefühl appelliert. Wenn irgend jemand diesem Gefühle nicht zugänglich ist, so ist es gewiss Frankreich selbst. Im neuen Vertrage hat es das grosse Los gezogen, und es wäre viel eher an ihm, uns Konzessionen zu machen. Es gewinnt, wir verlieren. Für Produkte aus der Zone hat Frankreich im Jahre 1899 Zölle erhoben im Betrage von Fr. 28000, und im Jahre 1906 für 82000 Fr. Der Export der Zonen nach Frankreich beträgt (1906) 22 Millionen, deren Einfuhr dorther aber 48 Millionen. Diese Verhältnisse verstimmen in der Zone, und es wäre viel eher an Frankreich, ihnen Konzessionen zu machen, als an der Schweiz; diese hat hiezu keine Ursache. Alle Staaten, nicht bloss die Schweiz, gemessen die Zollfreiheit der Zonen. Der grösste Teil unseres Exportes dahin setzt sich zusammen aus nichtschweizerischen Produkten, oder doch solchen, die in der Schweiz aus fremden Rohstoffen hergestellt worden sind. Wir haben also nach dieser Richtung gegenüber den Zonen keine Ausnahmestellung, sind aber dennoch das einzige Land, das ihnen spezielle Konzessionen macht.
[...]
Wir sind weder Frankreich noch den Zonen etwas schuldig und Frankreich hat kein Recht, an unser Billigkeitsgefühl zu appellieren. Die Frage darf daher nur von unserm und Genfs Standpunkte aus erwogen werden. Und da sind es besonders die landwirtschaftlichen Interessen des Kantons Genf und der ganzen übrigen Schweiz, die in Mittleidenschaft gezogen werden. Die Interessen Genfs an der Zone sind gewiss politisch, ja hochpolitisch; aber heute sind sie abgeklärt. Seit Jahrhunderten hat Genf Abrundung seines Gebietes gesucht und diese durch die neutrale Zone erreicht, sodass das Gebiet Genfs heute nicht mehr gefährdet ist als irgend ein anderes Gebiet der Schweiz; seine Neutralität ist so gut gewahrt, wie diejenige der übrigen Landesteile. Zudem haben wir eine Schweiz. Armee, die wir letzten Herbst neu gestärkt haben, und die nötigenfalls imstande ist, unsere Neutralität zu wahren. Ich wüsste daher nicht, was für ein politisches Interesse nun noch massgebend sein sollte.
Man kann die Vaterlandsliebe einzelner Bürger nicht durch Konzessionen erhalten; das wäre eine Beleidigung für Genf. Für mich ist die Zonenfrage rein wirtschaftlich; von Genf aus kehrt man immer mit Vorliebe die hochpolitische Seite hervor.
Ich werde dann bei der Besprechung der einzelnen Positionen beweisen, dass Genf besser situiert ist als irgend eine andere Schweizerstadt. Die billigsten Lebensmittel kommen aus dem Auslande, und Genf ist im angenehmen Falle, unmittelbar aus dem nahen Frankreich sich verproviantieren zu können.
Die Schweiz hat nicht unbedeutende Interessen an den Zonen; doch soll man nicht übertreiben. Es steht eine Ausfuhr von rund 10 Millionen Franken auf dem Spiele; es ist aber zu prüfen, ob wirklich dieser ganze Betrag auf dem Spiele stehe.
Ein Teil der freien Zone, das Pays de Gex und die kleinsardinische Zone, muss besonders behandelt werden; denn durch den Wiener Vertrag von 1815 sind dessen völkerrechtliche Verhältnisse ein- für allemal festgelegt. Nur die grössere Zone kann aufgehoben werden, aber wohl nicht ohne Volksabstimmung. Als es sich vor 50 Jahren um die politische Zugehörigkeit Savoyens handelte, wurde die Entscheidung dem Savoyervolke mit der Doppelfrage vorgelegt: «France avec zone, oui ou non», und nur dem Zugeständnis einer zollfreien Zone ist der frankreichfreundliche Entscheid zu verdanken. Auch heute noch kann von einer Aufhebung der Zone ohne Volksabstimmung keine Rede sein.
Es sind namentlich die Industriellen Savoyens, die andere Zollverhältnisse anstreben und viel Lärm machen. Die grosse Masse der Bevölkerung hat ganz andere Interessen. Die Zone bildet eine Oase in Europa. Die fiskalischen Gebühren, die Frankreich sonst im ganzen Lande bezieht, in der Zone werden sie nicht erhoben. Alle landwirtschaftlichen Produkte gehen zollfrei nach Frankreich und für den Rest zahlen sie bescheidene Zölle nach der Schweiz. Wegen dieser Bevorzugung erfreuen sich die savoyischen Produkte besonders hoher Preise. W'as könnte deshalb die Masse von der Aufhebung profitieren? Nachher bliebe ihr nur noch der franz. Markt und ausserdem würde sie auch mit allen fiskalischen Gebühren belastet. Die Gefahr ist für mich deshalb sehr klein.
Welches wären aber die Folgen, wenn die Zone dennoch aufgehoben werden sollte:
[...]5
Die grosse Zone hat also mehr als 4/5 der Gesamtbevölkerung, allein der Export dorthin beträgt nicht 4/5 unseres Gesamtexportes nach den Zonen. Nach den Angaben der Genfer Handelskammer betrug die gesamte Ausfuhr nach den Zonen im Jahre 1905 10,5 Millionen Franken; von diesen waren nur für 4,5 Millionen schweizerische Produkte und unter den letztem waren wieder für 1,9 Millionen Franken, an denen Genf gar nicht beteiligt war. In sehr vielen Produkten befinden sich ausländische Rohstoffe. Ich glaube daher nicht, dass das Risiko Genfs einen Arbeitswert von 1 Million Franken übersteige. Aber selbst im schlimmsten Falle wäre diese Summe nicht ganz verloren, denn es bleibt doch ein Teil des Exportes. Die Zonenfrage hat meines Erachtens für Genf wohl einige Bedeutung, doch darf diese nicht überschätzt oder gar zur Lebensfrage aufgebauscht werden.
Die franz. Begehren stellen an die Schweiz die Zumutung eines Opfers von über 600000Fr.; das ist eine höhere Versicherungsprämie, als wir zahlen können, auch dann noch, wenn nicht alle Begehren erfüllt würden.
[...]
Die Genfer Landwirte zerfallen in zwei Gruppen: Die erste Gruppe beklagt sich beständig über die Seuchenpolizei; die andere warnt vor der Seuchengefahr und bekämpft jede Ermässigung des Viehzolls, weil die Ansteckungsgefahr aus Savoyen gross ist. Tatsächlich ist die Viehseuchenpolizei in Savoyen absolut ungenügend. (Herr Laur zeigt einen Gesundheitsschein, der im Jahre 1907 verwendet wurde, der aber von einem Inspektor unterschrieben ist, der bereits zwei Jahre bei den Toten weilt!) Die Gesundheitsscheine seien durchaus unzuverlässig, da sie gewöhnlich in blanco ausgestellt würden. Ganz Hochsavoyen hat um 8000 Ochsen und schickt uns jährlich 2000 Stück. Es ist unmöglich, dass diese alle aus der Zone kommen; es befinden sich darunter viele französische Ochsen, die mit gefälschten Scheinen eingeführt werden.
Zollfreiheit für savoyische Ochsen bedingt den Ruin der Genfer Landwirtschaft. Auf die Viehseuchenpolizei könnn wir nicht verzichten und dürfen daher die Ochsen nicht zollfrei hereinlassen. Aber nicht nur die Genfer Landwirtschaft hätte einen grossen Schaden, sondern es würde die gesammte schweizerische Landwirtschaft in Mitleidenschaft gezogen.
Honig. Das Begehren um Vergünstigungen der Honigeinfuhr hat mich am meisten überrascht, weil die verlangten Konzessionen schon jetzt bestehen. Es scheint, dass die Gesuchsteller von dieser Tatsache gar keine Kenntnis haben; jedenfalls sind es keine Bauern, wohl aber vielleicht Genfer Biscuits-Fabrikanten. Es soll gegenwärtig häufig Vorkommen, dass die Exporteure in den Zonen billigen Chilehonig kommen lassen und ihn unter dem Schutze des Marktverkehrs nach Genf bringen. Von einem Entgegenkommen auf dieses Begehren kann unter keinen Umständen die Rede sein.
Nach diesen Untersuchungen komme ich zum Schlüsse, dass alle drei Begehren abzuweisen sind; die Zonen und Frankreich haben keine Ursache und keine Berechtigung, sich zu beklagen. Jedenfalls ist das von uns geforderte Opfer von 630000 Fr. zu gross. Die Zolleinnahmen wachsen nicht so, wie man es erwartet hat, und endlich würden die verlangten Vergünstigungen die Genferische Landwirtschaft ruinieren. Schon jetzt leidet sie am meisten unter der Seuchenpolizei; man darf ihr keinen Extraschaden mehr zufügen.
Aus diesen Gründen möchte ich Ihnen sehr empfehlen, die Begehren abzuweisen und den Status quo zu belassen; auch sollte ein System gesucht werden, das in höherm Masse als das bisherige garantiert, dass die aus den Zonen eingeführten Waren auch wirklich aus den Zonen stammen.
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Lardy, der in längern Ausführungen einen Überblick gibt über die historische und politische Seite der Zonenfrage. Bei den Verhandlungen im Jahre 1869 wurde Zollfreiheit für 20000 hl Wein gefordert; die Schweiz gestand nur die Hälfte zu. Infolgedessen sind uns die Franzosen - wie es sonst vorgesehen war - in Eisenbahnfragen nicht entgegengekommen und haben z. B. die Strecke Bellegarde-Annemasse mit Umgehung Genfs gebaut.
Es ist allerdings richtig, dass wir Frankreich und der Zone nichts schulden; aber in praxi stellt sich die Frage doch anders. Anlässlich des Zollkrieges im Jahre 1893 hatte die Schweiz den Differenzialtarif auch auf die Zone angewendet, deswegen verlangte und erhielt die Zone Gegenmassregeln (Garnisonen).
Herr Dr. Laur hat behauptet, die Zonen würden nicht aufgehoben. Dieser Behauptung kann man entgegenhalten, dass in Frankreich verlangt wurde, in Savoyen Festungen zu bauen und mit der Schweiz zu unterhandeln, dass sie auf die Neutralität Savoyens verzichte. In Frankreich besteht eine starke Tendenz, die Zonen aufzuheben, und dazu tragen auch die Nationalitätsverhältnisse in Genf bei. Um die Neutralität der Zonen zu schützen, werden wir immer auf die Hilfe des übrigen Europa zählen können; aber bevor wir vor das internationale Forum treten, müssen wir selber tun, was in unsern Kräften liegt. Weiter gibt Herr Lardy eine kurze Zusammenfassung der in der Zonenfrage begangenen politischen Fehler und kommt dadurch zum Schlüsse, dass gegenüber dem hohen politischen Interesse die paar tausend Hektoliter Wein nicht in Betracht kommen können. Durch Ablehnung der gegenwärtigen Begehren würden wir einen Verstoss gegen die Neutralität begehen und uns wertvolle Sympathien verscherzen.
[...]
Martin. Herr Dr. Laur hat die Angelegenheit viel zu sehr von der materiellen Seite aus behandelt und die politische Seite zu wenig in Betracht gezogen, die in Wirklichkeit viel bedeutender ist, als man vielerorts glaubt. Herr Martin kommt infolgedessen zu ganz ändern Schlüssen als Herr Laur. Genf ist von Frankreich nicht bloss umgeben, sondern sogar von allen Seiten eingeengt; es hat selbst eingeschriebene Wähler, die Savoyarden sind. [...]Hätte im Jahre 1860 für die Savoyarden Freiheit der Abstimmung bestanden, so hätten 80% sich für die Schweiz erklärt. Im Jahre 1893 hatte sich die Situation schon stark geändert; aber immerhin lebte damals noch ein Teil der schweizerfreundlichen Partei; heute ist er verschwunden; man kennt nur noch Frankreich. Die Sympathien für uns sind kleiner geworden; es besteht sogar eher Abneigung, weil das nicht eingetroffen ist, was man von der Schweiz erwartet hatte. Früher war die ganze Einfuhr zollfrei oder hatte doch nur sehr mässige Abgaben zu entrichten; die Schweiz hat aber den Zolltarif zu verschiedenen Malen erhöht und infolgedessen hat sich die Industriefrage in den Zonen immer mehr zugespitzt. Die Industrie kann mit ihren Produkten nicht nach Frankreich und nicht mehr nach der Schweiz. Aus diesem Grunde wächst die Abtrennungspartei mit der Industrie und die Zonenfrage wird gestellt werden.
Die Schweiz kann allerdings ohne die Zonen bestehen; aber wie würde sich dann Genf stellen? Es ist bekannt, dass Frankreich und seine Zollverwaltung gegen die Zonen sind, und wenn wir jetzt nicht nachgeben, wird Frankreich den Knoten lösen und die Konsequenzen ziehen. In Genf aber müsste die Aufhebung der Zonen eine wirtschaftliche Depression zur Folge haben, die von den zahlreichen fremden Elementen ausgebeutet würde. Der Bruch mit den Zonen würde Genf und die Schweiz in eine verzweifelte Lage bringen.
Die wirtschaftliche Seite der Angelegenheit, so ernst und so bedrohlich sie von einem gewissen Standpunkt aus erscheinen mag, wird von der politischen weit überragt und die Schweiz hat allen Grund, Konzessionen zu machen.
Künzli. Es ist kein Geheimnis, dass Frankreich es mit allen Mitteln versucht, die Zonen wirtschaftlich der Schweiz zu entfremden, um dann im geeigneten Augenblicke einen Schritt weiterzugehen. Viele Leute in der Schweiz wissen, dass der nächste Krieg Genf losreissen oder Savoyen zur Schweiz bringen wird.
[...]
Die Herren Minister Lardy und Nationalrat Martin haben bewiesen, dass die politische Frage eine weit grössere Rolle spielt als die ökonomische, dass die Schweiz. Interessen im Verkehr mit Savoyen mit Füssen getreten worden sind. - Er erinnert an die Verhältnisse im Tessin und in Konstanz und schliesst daraus, dass das schweizerische Gefühl, das Schweiz. Bewusstsein heute besser entwikkelt seien als früher.
Da die Zonen, wie viele behaupten, uns nichts nützen, könnten wir die Begehren ablehnen und es riskieren, ob Frankreich den Vertrag kündigt; in diesem Falle müssten schwere Verwicklungen mit Frankreich kommen. Aber den Anstoss geben dazu, nein! Wenn wir den Anstoss geben, dann haben wir die ganze Genfer Bevölkerung wider uns, wie Herr Martin gesagt hat. So weit dürfen wir unter keinen Umständen gehen, sondern müssen vielmehr in vernünftigem Masse entgegenkommen. Ich bedaure, dass wir den Bericht des Bauernverbandes noch nicht vor uns haben. Herr Dr. Laur hat uns allerdings eingehend und schlagend den Standpunkt des Verbandes dargelegt; aber er wird auch zugeben müssen, dass wir nicht einer ökonomischen Frage wegen die Zukunft Genfs aufs Spiel setzen können. Wenn Frankreich findet, es sei an der Zeit, die Maske abzunehmen und seine Zollgrenze bis an die Schweizergrenze vorzurücken, dann werden wir auch Genf auf unserer Seite haben.
Aus diesen Gründen halte ich es für angezeigt, den neuen Begehren nach Möglichkeit zu entsprechen. Wenn wir auch ein Opfer von 100 oder 150000 Fr. bringen, so dürfte damit die Rettung der Situation nicht zu teuer bezahlt sein, und unser Fiskus kann ein solches Opfer bringen; Genf wird uns dafür Dank wissen.
Frey. Ich stehe auf dem gleichen Boden, wie Herr Oberst Künzli; das hindert aber nicht, dass ich mit Herrn Dr. Laur überzeugt bin, dass uns die ganze Geschichte von der französischen Handelskammer in Genf angerichtet worden ist. Schon die Art und Weise, wie Frankreich das Begehren vorgebracht hat, beweist mir das genügend. Ich muss auch bekennen, dass für mich die Frage wohl eine wirtschaftliche Seite hat, dass aber der politische Punkt dominiert. Die Genfer Regierung selbst gibt ja zu, dass die Angelegenheit mehr politisch als wirtschaftlich sei. Die industrielle Schweiz hat hier eine gegebene Stellung und der Vorort des H.I.V. hat recht gehabt, wenn er sich über die ganze Angelegenheit so kurz als möglich aussprach: es möchte den Begehren insoweit entsprochen werden, als sich dies mit den agrikolen Interessen vereinbaren lässt.7
[...]
Industrie und Handel sind sich klar, dass die Schweiz den Zonen so viel bieten kann als sie will, dass wir doch kein Kilogramm mehr dorthin werden liefern können als bisher. Dass die Zonen doppelt so viel nach der Schweiz bringen, als wir ihnen, beweist mir gar nichts, oder höchstens, dass Genf eben auf diese Gebiete angewiesen ist. Es macht sich eigentümlich im Berichte der Genfer Regierung, dass sich die Zonen beklagen über unsere höhern Zölle, während solche Klagen am besten angebracht wären gegenüber dem eigenen Mutterlande. Es hat nicht die Meinung, als ob aus unserm autonomen Entgegenkommen ein Präjudiz geschaffen werde für die Erneuerung des Übereinkommens vom Jahre 1881. Die Opfer, die wir allenfalls bringen, rechtfertigen sich vollauf durch die politische Bedeutung der Angelegenheit.
Die Landschaft Gex fällt dabei aus dem Spiel; da deren Verhältnisse zur Schweiz seit 1864 in allen Verträgen geregelt worden sind und die neuesten Abmachungen auch wieder im Handelsverträge niedergelegt sind.
[...]
Deucher. Ich habe heute schon durchblicken lassen, dass ich keine Zugeständnisse machen würde bloss mit Rücksicht auf die wirtschaftliche Seite der Frage. Aber wir müssen die politischen Konsequenzen ziehen. Zufolge der früher gemachten Fehler ist es allerdings heute nicht mehr möglich, die politische Situation so zu gestalten, wie wir sie haben möchten. Ich werde es wohl nicht mehr erleben, dass die Frage des Verschwindens der Zonen latent wird; aber sie wird kommen, und vielleicht eher als wir vermuten. Wir können sie höchstens hinausziehen, aber nicht verhindern, weil die Zustände politisch und Wirtschaftlieh unhaltbar sind. Hierin gehe ich einig mit den Herren Comtesse und Künzli, dass nicht wir den Anstoss zum Bruche geben sollen; dazu muss auch die Landwirtschaft sich bequemen. Wir müssen Konzessionen machen; aber es gibt eine Grenze. Und als kleiner Staat dürfen wir uns nicht als Schwächling zeigen.
Cramer-Frey wollte während des Zollkrieges den Zonen nicht die Ansätze des Gebrauchstarifs zubilligen.
Die franz. Begehren sind nur damit begründet, dass unsere Zölle grösser geworden seien; wir müssen daher auf die frühem Ansätze zurück, nicht aber Zollfreiheit zugestehen. Mit bezug auf das Fleisch soll Ordnung geschaffen werden, dann wird auch dessen Einfuhr abnehmen.
Künzli. Wenn der Bund Zugeständnisse machen will, soll er auch verlangen, dass Genf die Schlachthausgebühren ermässigt. - Seit Kramer-Frey haben sich die Verhältnisse in Savoyen wesentlich verändert; dieses Land besitzt ausgedehnte Wasserkräfte, die der Industrie gute Dienste leisten könnten; allein diese sieht sich in ihrer Entwicklung gehemmt durch die franz. Zollschranken.
Laur. Die Herren haben sich auf einen Standpunkt gestellt, den ich immer noch nicht teilen kann. Ich fühle mich zwar nicht kompetent, hiermitzusprechen; dennoch möchte ich gerne meine persönliche Meinung mitteilen. Die Fehler, die in der Zonenpolitik gemacht worden sind, können nicht mehr geändert werden. Mit unsern Konzessionen erreichen wir nur, dass die guten Genfer Landwirte verschwinden. Der schweizerische Weinbau geht sowieso schwierigen Zeiten entgegen und wenn wir nun noch mehr Wein zollfrei hereinlassen, so beschleunigen wir nur diese Krisis.
Bundespräsident Brenner konstatiert, dass die heutige Besprechung allseitig orientierend gewirkt habe, dass sie aber durchaus konfidentiell sei und der Presse nichts mitgeteilt werden dürfe.8
- 1
- E 2, Archiv-Nr. 1664. Teilnehmer: Bundespräsident Brenner, Vorsitzender, Bundesrat Deucher (Handels-, Industrieund Landwirtschaftsdepartement), Bundesrat Comtesse (Finanz- und Zolldepartement), Minister Lardy, Schweiz. Gesandter in Paris; Oberst & Nat.-Rat A. Künzli; Nationalrat Alfred Frey und Nationalrat Louis Martin (Handelsvertragsdelegation); Dr. Laur, Bauernsekretär; Dr. A. Eichmann, Chef der Handelsabteilung; Suter, Schweiz. Oberzolldirektor; Müller, Chef der Landwirtschaftsabteilung; Dr. Potterat, eidg. Viehseuchenkommissär. Protokollführer: J. Schmid.↩
- 2
- Brenner referiert den Stand des Vernehmlassungsverfahrens. Zur Zeit kann lediglich eine unverbindliche Besprechung abgehalten werden.↩
- 3
- Deucher äussert sich ähnlich wie in seinem Schreiben an das EPD vom 14. Oktober 1907 (Nr. 203). Er schlägt zunächst wiederum vor, eine Menge von bis zu 5000 hl Wein zum früheren Zollansatz von Fr. 3.50 hereinzulassen.↩
- 4
- Am 20. Februar 1908 sandte der Bauernverband sein Gutachten zur Zonenfrage an den Bundesrat. Im Begleitschreiben warnt der Verband nochmals eindringlich vor Konzessionen: Man[=der Verbandsvorstand]betrachtet diese Vergünstigung Genfs als eine Ungerechtigkeit und befürchtet, dass die Gewährung neuer Konzessionen in Genf, in Paris und in der Zone als Schwäche ausgelegt werde. Wir können deshalb nur das dringende Gesuch wiederholen, der Bundesrat möge den unheimlichen Einflüssen der französischen Handelskammer in Genf mit Festigkeit entgegentreten und hier den Anfängen wehren (E 2, Archiv-Nr. 1664). In der gedruckten Antwort vom 18. Februar 1908 auf die Anfrage des Handelsdepartementes schreibt der Verband u. a.: Der Hinweis auf politische Interessen ist uns völlig unverständlich. Die Ausländergefahr in Genf wird durch solche Konzessionen ebensowenig bekämpft, als man die Agitation der Industriellen in den Zonen für Aufhebung des Zollausschlusses dadurch abschwächen wird, dass man der savoyischen Landwirtschaft entgegenkommt. Wir können nur ein politisches Interesse erkennen, nämlich die Erhaltung des Bauernstandes in der Umgebung von Genf, der in der Lage und bereit ist, die unruhige internationale Bevölkerung der Stadt, wenn nötig, in Ordnung zu halten. Dieses Interesse spricht aber für Ablehnung der französischen Forderungen.[...] Wir rufen auch Art.4 der schweizerischen Bundesverfassung an, der bestimmt: «Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich.» «Es gibt in der Schweiz keine Vorrechte des Orts.» Wir verlangen gleichmässige Anwendung des Zolltarifgesetzes auf alle Gegenden und Orte. Der Bund kann nicht einer einzelnen Stadt einen Zollerlass von über 600000 Fr. jährlich gewähren. Er kann aber auch nicht der Landwirtschaft eines Landesteils den Zollschutz entziehen. Gleichzeitig reichte auch der Schweizerische Gewerbeverband seine Stellungnahme ein. Er empfahl, einen massigen Kredit für die zollfreie Einfuhr von Vieh, nicht aber von Fleisch zu gewähren. Für Honig sollte dem französischen Begehren ebenfalls mässig entsprochen werden. Bezüglich Wein enthielt sich der Verband einer Stellungnahme.↩
- 5
- Für die Tabelle vgl. dodis.ch/43067. Pour le tableau, cf. dodis.ch/43067. For the table, cf. dodis.ch/43067. Per la tabella, cf. dodis.ch/43067.↩
- 6
- Unterbruch der Sitzung.↩
- 7
- Vgl. Nr. 207.↩
- 8
- Am 5. März 1908 diskutierten die interessierten Kreise die französischen Begehren nochmals ausführlich. Der Genfer Staatsrat Maunoir bemerkte: [...] La vérité, c’est que la France dans son ensemble a intérêt à cette suppression, qu’elle se trouve cependant en face d’un engagement d’honneur, le «oui et zone» de 1860, mais que, avec l’aide de sa douane, qui elle aussi voudrait reculer sa frontière jusqu’à nos portes, elle cherche à ameuter les populations des zones contre celles-ci et à leur faire demander à elles-mêmes la suppression de la zone pour pouvoir la consacrer. C’est le calcul que nous devons déjouer, en accordant à la France les concessions qu’elle nous demande (E 2, Archiv-Nr. 1664). Eine vom Handels- und vom Zolldepartement aus gearbeitete Botschaft mit Beschlussentwurf wurde am 14. April 1908 vom Bundesrat mit gewissen Änderungen gutgeheissen (BBl 1908, II, S. 715 ff.). Der Nationalrat nahm den Entwurf des Bundesrates am 18. Juni 1908 mit grosser Mehrheit an, ebenso am 14. Juni der Ständerat (AS 1908, NF 24, S. 687 ff.).↩
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Free zones of Haute-Savoie and Pays de Gex