Imprimé dans
Documents Diplomatiques Suisses, vol. 3, doc. 370
volume linkBern 1986
Plus… |▼▶Emplacement
Archives | Archives fédérales suisses, Berne | |
▼ ▶ Cote d'archives | CH-BAR#E2#1000/44#1644* | |
Ancienne cote | CH-BAR E 2(-)1000/44 271 | |
Titre du dossier | Die Neutralitätsfrage Nordsavoyens von 1888 bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges (1888–1913) | |
Référence archives | B.137.1 |
dodis.ch/42349
Im Verfolge meines Berichtes vom 25. April l.J.2 komme ich heute auf den Schlusspassus Ihres confidentiellen Schreibens vom 19. gl. Monats3 zurük und zwar also auf die Frage, ob wir bei der Beurtheilung der Haltung der Reichsregierung und der deutschen offiziösen Presse in der Angelegenheit der sog. Socialisten-Umtriebe in der Schweiz etc. etwa Factoren mit in Rechnung zu bringen haben, welche eher auf allgemein politischem Gebiete zu suchen wären.
Diese Ihre Andeutung hat mich keineswegs überrascht. Auch ich hatte gelegentlich Momente, in denen ich mich eines gewissen Gefühl’s des Misstrauens in der von Ihnen ins Auge gefassten Richtung nicht erwehren konnte. Bei ruhigem Nachdenken bin ich dann aber doch immer wieder zu dem Schlüsse gelangt, dass jenes Misstrauen kaum begründet sein dürfte. Hiebei liess ich mich von folgenden Gesichtspunkten und Wahrnehmungen leiten:
Die deutsche Regierung hat sich von jeher in der bestimmtesten Weise dahin vernehmen lassen, dass sie die Neutralität der Schweiz als in Deutschlands Interesse liegend auffasst. Sie erinnern sich wohl, dass u. A. Graf Bismark im Laufe des letzten Jahres mir gegenüber geäussert hat, es sei so selbstverständlich, dass die Kaiserl. Regierung für den Fall eines Krieges unsere Neutralität unbedingt anerkennen und respectiren würde, dass er jeden Augenblik bereit wäre, mir von sich aus eine bezügl. offizielle Erklärung auszustellen, «jetzt schon, diesen Augenblik, wenn Sie wollen», fügte er damals bei. Auch seither, und zwar selbst anlässlich der Erörterungen der Differenzen in der Sozialistenfrage, äusserte man sich im Auswärtigen Amte mir gegenüber wiederholt dahin, die bisherigen guten politischen Beziehungen der deutschen Regierung zu uns seien ja im Übrigen gar nicht in Frage, und im Besondern auch nicht die Neutralität der Schweiz.
Stellen wir diesen Versicherungen gegenüber, gleichsam als Gegenprobe, die Frage, ob nicht Deutschland mit Rüksicht auf gewisse Kriegseventualitäten zur Zeit doch ein Interesse daran haben könnte, der Anerkennung unserer Neutralität entbunden zu werden und in den dermaligen Differenzen mit uns hiefür einen Vorwand zu suchen, so haben wir nach dieser Richtung wohl einzig das deutsch-italienische Bündniss und in Verbindung mit demselben die Savoyerfrage in’s Auge zu fassen.
Das deutsch-italienische, bezw. das deutsch-österreichisch-italienische Bündniss betreffend, ist nun vorerst hervorzuheben, dass Deutschland den Hauptwerth derselben zweifellos in der Garantie der Dekung des Rükens von Ostreich für den Fall eines Krieges im Osten findet.
Bei dieser Combination kommen wir jedenfalls nicht in Frage und haben wir uns daher einzig mit der Bedeutung und der Tragweite des gedachten Bündniss für den Fall kriegerischer Verwiklungen im Westen zu befassen.
Zugegeben auch, dass es im letzten Falle für Deutschland unter Umständen erwünscht sein könnte, auch abgesehen von Savoyen, bei Verwerthung des Bündnisses mit Italien durch die Anerkennung unserer Neutralität nicht länger gehindert zu sein, so darf dem doch wieder entgegengehalten werden, dass die Vortheile, welche Deutschland Frankreich gegenüber in anderer Richtung aus der Neutralität der Schweiz zieht, auch nach deutscher Auffassung so schwer in’s Gewicht fallen, dass obige Eventualität uns kaum Veranlassung zu ernsten Bersorgnissen betreffend Gefährdung unserer Neutralität durch das deutsch-italienische Bündnis und betreffend diesbezüglicher geheimer Combinationen Deutschlands geben dürfte.
So viel über dieses Bündniss betreffend seine mehr allgemeine Bedeutung für uns.
Aber auch speziell in der Savoyerfrage vermag ich, so wie die Verhältnisse heute liegen, einen Anhaltspunkt dafür nicht zu finden, dass Deutschland sich veranlasst sehen könnte, eine Combination zu suchen, welche seiner bisherigen Politik gegenüber zuwiderlaufen würde.
Allerdings wissen wir von Berlin her und (über Paris) von Rom her, dass es der deutschen und der italienischen Regierung unerwünscht wäre, wenn wir im gegebenen Falle von dem Rechte der Besetzung Gebrauch machen würden, es wäre denn, hiess es damals, «dass wir mit dem animus possidendi hingehen sollten».4 Es ist uns sogar unter der Hand angedeutet worden, in Berlin würde die temporäre Besetzung Savoyens durch uns als ein unfreundlicher Akt gegenüber Deutschland, als ein Frankreich gewährter Vortheil aufgefasst, besonders nachdem wir 1870/1871 von einer Besetzung Umgang genommen haben.
Ferner will ich nicht unerwähnt lassen, dass ich bei der Rükkehr aus meinem letzten Sommerurlaub, anlässlich einer Privat-Conversation mit einem mir näher bekannten, höhern Beamten des Auswärtigen Amtes, den Eindruk erhalten habe, man stehe hier, trotz der auf Grund Ihrer Mittheilungen5 von H. v. Bülow erstatteten Berichte, den Zeitungsnachrichten vom letzten Jahr, betreffend Verhandlungen in Paris über die Savoyerfrage, eher misstrauisch gegenüber und es sei das Auswärtige Amt durch seine Quellen in Paris mit Mittheilungen über den Hergang der Sache versehen worden.
Diesen Andeutungen gegenüber berief ich mich dann einfach auf die H. v. Bülow bekannt gegebene Mittheilung des Bundesrathes an die französische Regierung, hob hervor, dass Verhandlungen mit Frankreich betreffend unser Recht der Besetzung Savoyens im Kriegsfälle und betreffend die Frage, ob wir eventuell die Besetzung vornehmen würden, schon desshalb nicht haben stattfinden können, weil es sich hiebei für uns um wohl erworbene, allgemein anerkannte Rechte handelt, über welche wir überhaupt gar nicht mehr zu unterhandeln brauchen und dass, wenn etwa Seitens unsers Gesandten in Paris die Savoyerfrage gelegentlich und mündlich zur Sprache gebracht worden sein sollte – wovon ich indess nichts wisse –, es hiebei sich nur um diejenigen Punkte habe handeln können, welche in der bundesräthlichen Mittheilung an die franz. Regierung behandelt worden seien.
Mehr als ein gewisses, unbestimmtes Misstrauen der deutschen offiziellen Kreise betreffend unsere Absichten in der Frage der eventuellen Besetzung Savoyens lag aber damals nicht vor. Seither habe ich hierüber gar nicht mehr sprechen hören.
Daran, dass die Savoyer-Frage anlässlich der Verhandlungen über das deutschitalienische Bündniss zur Sprache gekommen, ist freilich nicht mehr zu zweifeln. Auch das steht für mich fest, dass die Besetzung Savoyens durch unsere Truppen im Kriegsfälle eventuell zu Differenzen zwischen uns und Deutschland und Italien führen würden und dass wir allen Grund haben, die Consequenzen unsers diesbezüglichen Verhaltens rechtzeitig aufs Sorgfältigste zu erwägen.
Zur Zeit aber liegt ja durchaus nichts vor, was Deutschland zu der Annahme bringen könnte, dass es wirklich unsere Absicht ist, eventuell von dem Rechte der Besetzung ohne Weiteres Gebrauch zu machen.
Mithin kann ich, wie schon angedeutet, auch in der Savoyer-Frage kein Motiv dafür finden, dass die deutsche Regierung bei ihrer jetzigen Haltung uns gegenüber andere Ziele im Auge habe, als diejenigen, welche bei den verschiedenen Beschwerden direkt und offen zum Ausdruk gelangt sind.
Ich neige mich also bei der Beurtheilung der derzeitigen Situation unbedingt der Ansicht zu, dass die Veranlassung der gedachten Schritte der Kaiserlichen Regierung wirklich ausschliesslich in der Sozialistenfrage zu suchen ist und behalte mir vor, mich Ihnen gegenüber hierüber morgen oder übermorgen noch weiter auszusprechen.6 Neues werde ich Ihnen bei diesem Anlasse indess nicht zu melden haben.
- 1
- Bericht: E 2/1644.↩
- 2
- Nicht ermittelt.↩
- 3
- Nicht ermittelt.↩
- 4
- Laut Schreiben von Rothan Droz vom 7. 4.1887hatte der Erste Vortragende Rat im Auswärtigen Amt, von Holstein, erklärt: dass [...] mit Rüksicht auf unser Verhältniss zu Italien, für den Fall eines Krieges mit Frankreich für uns die Besetzung Savoyens durch schweizerische Truppen nicht erwünscht wäre. [...]. [Ausser], setzte Holstein laut Schreiben von Roth vom 22. 4,1887 hinzu, [...] wenn wir Savoyen alsdann nicht nur momentan, sondern die Besetzung mit dem animus possidendi vornehmen würden, d. h. also um Savoyen definitiv für die Schweiz zu erwerben. /.../Für Deutschland wäre der Vortheil, dass Savoyen in den soliden Besitz der Schweiz übergehen würde, schwerwiegender als der momentane Nachtheil, welche die Besetzung durch uns [Schweizer]vom strategischen Standpunkte aus für Deutschland und Italien bilden würde (E 2/1643). Vgl. auch Nr. 336.↩
- 5
- Vgl. Nr. 348.↩
- 6
- Vgl. Nr. 372.↩
Tags
Reich allemand (Autres)
Affaire Haupt Schröder (1888)