Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
III. SICHERHEITSPOLITIK
1. Internationale Lage und Kriegsgefahr
1.1. Die Lage in West- und Mitteleuropa
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 3, doc. 344
volume linkBern 1986
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2#1000/44#1643* | |
Old classification | CH-BAR E 2(-)1000/44 270 | |
Dossier title | Unterhandlungen mit Frankreich zur Regelung der Detailfragen für eine eventuelle Besetzung des neutralisierten Gebietes Nordsavoyens durch eidgenössische Truppen (1886–1887) | |
File reference archive | B.137.1 |
dodis.ch/42323
Ich hatte im Laufe dieses Winters wiederholt die Empfindung, meine Berichte über die Anschauungen und die Absichten der deutschen Regierung betreffend die politische Situation finden in Bern, in Folge divergirender Meldungen meines Collegen H. Lardy und dann auch auf Grund gelegentlicher «Winke» des H. von Bülow, nicht dasjenige Maass von Vertrauen in die Lauterkeit und die Zuverlässigkeit meiner Quellen, welches ich denselben zugewendet zu sehen gewünscht hätte.
Betreffend die Aufregung, welche sich dort der politischen Kreise und der öffentlichen Meinung bemächtigte, nachdem H. von Bülow, kurz vor Neujahr, H. Präsident Deucher gegenüber confidentiell und, wie er ausdrüklich bemerkte, «ohne Auftrag» sich in der bekannten Weise geäussert,2 habe ich früher bereits meine Ansicht ausgesprochen.3 Jene Ansicht vertrete ich auch heute noch. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass H. v. Bülow damals in der That ohne Auftrag gehandelt hat, wenn er sich wirklich dahin ausgesprochen, man glaube an massgebender Stelle in Berlin an eine akute Kriegsgefahr.
H. von Bülow mag ja in breiten Umrissen den Auftrag erhalten haben, die Unsicherheit der politischen Situation zur Sprache zu bringen – auch ich habe derselben in meinen Berichten stets Ausdruk gegeben – und uns zu veranlassen, bei Zeiten das Nöthige für die Vertheidigung unserer Neutralität vorzubereiten.
Die Nuancen, mit welchen dies geschehen, schreibe ich aber der individuellen Stimmung des H. von Bülow zu. Auch werden Berichte aus der unmittelbaren Umgebung des Kaisers, welch letztem H. von Bülow bekanntlich sehr nahe steht, mitgewirkt haben. Und dass der alte Herr schwarz sah und sehr betrübt war, über die Eventualität, in seinem hohen Alter durch die französische Revanche-Parthei in nicht ferner Zeit zu einem Kriege gezwungen zu werden, ist ja selbstverständlich. Auch mit Rüksicht darauf, dass H. von Bülow eben doch eher eine ängstlich angelegte Natur und Gemüthsmensch ist, kann ich es mir sehr wohl erklären, wie er dazu gekommen, sich in der gedachten, besorgten Weise zu äussern.
In der Nuancirung der Situation war er aber bei dem erwähnten Anlasse gewiss nicht das Sprachrohr des Fürsten Bismark und des Auswärtigen Amtes. Wie hätte letztere Amtsstelle dazu kommen können, durch ihn bei Ihnen das «Hannibal ante portas» in so dringlicher Weise zu vertreten, währenddem man mir, allerdings mit dem Bemerken, auf einen längeren Frieden dürfte bei der Unsicherheit der Situation kaum gehofft werden können, doch immer und immer wieder erklärte, nach diesseitiger Ansicht liege eine akute Kriegsgefahr nicht vor? Wo wäre das Motiv dafür zu suchen, dass man mich über den Ernst der Situation täuschen oder ununterrichtet lassen wollte, währenddem die deutsche Regierung für diesen Fall zweifellos wünschen musste, d. h. also für den Fall eines nahe bevorstehenden Krieges, dass wir sofort und in dem ausgedehntesten Maasse rüsten?
Ich würde für eine solche Zweideutigkeit keinen plausibeln Grund ausfindig machen können.
Doch genug hierüber.
Was mir heute Veranlassung giebt, mich Ihnen gegenüber in aller Offenheit und mit der Bitte um strengste Discretion anzusprechen, ist der andere eben angedeutete Punkt, nämlich der Umstand, dass ich namentlich in den Berichten meines Collegen H. Lardy, über seine Unterredungen mit dem Grafen Münster und mit ändern Mitgliedern der deutschen Botschaft in Paris, den Grund erblike, welchem Ihre und Ihrer H.H. Collegen Zweifel in die Zuverlässigkeit meiner Quellen zuzuschreiben sein dürften.
Ein derartiger Bericht4 (Mittheilungen über eine Conversation zwischen H. Lardy und dem deutschen Militär-Attaché von Huene) war auch der Gegenstand Ihrer neulichen Unterredung mit H. von Claparède, bei welchem Anlasse Sie letzterm den Auftrag ertheilt haben, mich zur Vernehmlassung über die Äusserungen des H..von Huene zu veranlassen.
Der Zufall hat es gefügt, dass ich mich vorgestern über den Werth und die Bedeutung der Mittheilungen, welche Herrn Lardy jeweilen Seitens des Grafen Münster, bezw. aus der deutschen Botschaft in Paris zukommen, bei meinem Ihnen früher schon, anlässlich der Behandlung der Savoyerfrage genannten Gewährsmann nach Wunsch informiren konnte.
Baron v. H.5, welcher mich neulich auf der Strasse ermuntert hatte, ihn gelegentlich wieder zu besuchen und welchen ich dann vorgestern, Abends, im Auswärtigen Amte sprach, ertheilte mir bei diesem Anlasse, unsere Unterredung einleitend, betreffend die Situation im Allgemeinen genau diejenige Auskunft, welche ich Ihnen in meinem letzten Berichte (vom 25. d.M.)6 gegeben habe. «Überall un calme complet», sagte er, «der Ministerkrisis in Paris sehen wir in aller Ruhe zu. Graf Münster ist in seinen Berichten zurükhaltend. Wir haben aber aus anderer, guter Quelle erfahren, dass General Saussier erklärt hat, er stehe für die Zuverlässigkeit der Armee ein, falls die Radikalen versuchen sollten, die Ordnung zu stören. Man kann ziemlich sicher darauf zählen, dass die Parthei der Ordnung sich den Antisemiten und Radikalen gegenüber behaupten wird.
Der Reichskanzler befolgt immer noch die gleiche Politik. Er will keinen Krieg. So hat er z. B. in der Angelegenheit Schnaebele von Anfang an allen Stimmen sein Ohr verschlossen, welche es bei diesem Anlasse auf ernstere Verwiklungen mit Frankreich ankommen lassen wollten. Die bekannte Note an den französischen Botschafter Herbette betreffend Schnaebele hat der Fürst selbst redigirt.
Die Situation ist beständig die gleiche. Ich wüsste Ihnen absolut nichts Neues mitzutheilen.» etc.
Hierauf erwiderte ich, es freue mich, die Richtigkeit meines Urtheils über die Situation durch Baron v. H. bestätigt zu sehen. Bei diesem Anlasse möchte ich ihm jedoch, mit der Bitte, um Beobachtung der strengsten Discretion, die Frage vorlegen, wie es komme, dass sich der Graf Münster gelegentlich so besorgt für die allernächste Zeit ausspreche und zwar nicht etwa nur betreffend die Dinge, wie sie speciell in Paris liegen, sondern auch mit Rüksicht auf deren Beurtheilung durch die deutsche Regierung und auf die Absichten und Besorgnisse der letztem. So glaube ich, unter Anderm, aus einem Berichte unseres Gesandten in Paris, welcher meines Wissens gute Beziehungen zu der dortigen deutschen Botschaft habe, schliessen zu müssen, dass sich Graf Münster nach seiner letzten Rükkehr aus Berlin wieder sehr beunruhigt ausgesprochen und Äusserungen fallen gelassen habe, als könnte die Botschaft schon in den nächsten Wochen in die Lage kommen, in Paris «aufzupaken», und dergleichen mehr. (Von H. von Huene sprach ich absichtlich mit keinem Wort). Es wäre mir – damit schloss ich diese kleine confidentielle Privat-Interpellation – um so erwünschter, von ihm, Baron v. H., vertraulich zu erfahren, was wir von diesen periodischen Äusserungen des Grafen Münster zu halten haben, als ich mich des Eindruks nicht erwehren könne, dieselben haben jeweilen in Bern eine gewisse Unsicherheit in der Beurtheilung der Zuverlässigkeit meiner Berichte aus Berlin zur Folge.
Baron von H. war mit seiner Antwort sofort. «Graf Münster», sagte er, «Sie können das nach Bern melden, wenn Sie mit einem der Herrn des Bundesraths intim stehen und dessen Discretion gewiss sind, Graf Münster ist ein absolut unfähiger Diplomat, der unfähigste den wir besitzen. Wir haben denselben desswegen auch von London abberufen und nach Paris versetzt, allerdings in der stillen Hoffnung, dass er dann ganz abgehen werde. Dass er doch geblieben ist, kann uns indess ganz gleichgültig sein. Die französischen politischen Zustände liegen offen vor uns; es giebt für uns gar keine französische Politik, keine politischen Fragen, welche es uns als erwünscht oder als nothwendig erscheinen lassen könnten, in Paris einen fein beobachtenden und klug operirenden Botschafter zu haben. Was Frankreich gegenüber zu thun ist, können wir von hier aus klar übersehen. Dagegen giebt es für uns in der neuern Zeit allerdings eine englische Politik. Daher haben wir auch in London den unbrauchbaren Graf Münster durch den sehr gewandten Graf Hatzfeldt ersetzt.
Wenn Münster sich gelegentlich so äussert, wie Sie es andeuten, so thut er das aus eignen Stüken und ohne im Geringsten Fühlung mit uns, geschweige denn unsere Ermächtigung oder gar einen Auftrag von uns hiefür zu haben. Kehren Sie sich ganz und gar nicht an diese Äusserungen von Münster. Ich glaube Sie z. B. des Bestimmtesten versichern zu können, dass bei dem letzten Besuche Münsters in Berlin Seitens des Fürsten Bismark und des Staatssekretärs Graf Herbert Bismark ihm, Münster gegenüber, auch nicht ein Wort gefallen ist, welches letztem hätte zu der Annahme führen können, die Situation puncto Stimmung und Absichten an massgebender Stelle in Berlin habe sich irgendwie verändert und lasse auf naheliegende Verwiklungen schliessen.
Lassen Sie sich also in Ihrer Berichterstattung nicht irre machen. Über das, was in Paris vorgeht, können Sie natürlich nicht berichten, sondern muss sich Ihre Regierung selbstverständlich durch Ihren Collegen Lardy informiren lassen. Für die Beurtheilung unserer Auffassung und der Politik, welche vvz'r befolgen, ist aber Paris nicht der geeignete Ort und der Graf Münster im Besondern, wie schon bemerkt, nichts weniger als eine zuverlässige Quelle.»
Ich gebe Ihnen, Herr Bundespräsident, diese Mittheilungen des Baron von H. ohne Randglossen und möchte nur noch die Ansicht äussern, dass bei dieser Sachlage auch gewissen Winken und Äusserungen, welche von ändern Mitgliedern der deutschen Botschaft in Paris herrühren, kaum diejenige Bedeutung beizulegen sein dürfte, welche mein College, H. Lardy – von Obigem jedenfalls nicht unterrichtet – denselben begreiflicherweise zuschreibt. Die Herrn der Botschaft werden eben in der Regel unter dem Eindruke der persönlichen Auffassung des Grafen Münster stehen.
Nur noch eine Bemerkung. Graf Münster ist beim Kaiser persönlich sehr gut angeschrieben, als ehemaliger hannoveranischer Staatsmann, welcher sans phrase in den preussischen Dienst übergetreten ist, und da der Fürst den Kaiser nicht gerne zu Personal-Mutationen veranlasst, welche letzterm Mühe machen, so hat er eben Münster quand-même im Dienste behalten.
Ich darf wohl nochmals die Bitte aussprechen, Sie möchten diese Mittheilungen als sehr confidentiell auffassen.
Baron v. H. hat mir seinerseits betreffend die ihm von mir gemachten Andeutungen ebenfalls die strengste Discretion zugesichert. Somit können wir bestimmt darauf zählen, dass für H. Lardy hieraus keine Ungelegenheiten entstehen, sofern auch wir die Discretion wahren.
Vorliegender Bericht wird von einer Vertrauensperson, welche heute Abend nach der Schweiz reist, morgen, Dienstag Abend, in Basel auf die Post gegeben werden. Für eine gelegentliche Empfangsbescheinigung wäre ich Ihnen zu Dank verpflichtet.7
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