Classement thématique série 1848–1945:
IV. POLITIQUE ET ACTIVITÉS ÉCONOMIQUES
1. Situation générale, principes et neutralité économique
1.3. Neutralité économique
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 13, doc. 162
volume linkBern 1991
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E27#1000/721#12954* | |
Old classification | CH-BAR E 27(-)1000/721 2636 | |
Dossier title | Bemerkungen von Oberst Schindler zur Frage der wirtschaftlichen Neutralität (1939–1939) | |
File reference archive | 06.E.2.c |
dodis.ch/46919
Le Professeur de droit international à l'Université de Zurich, D. Schindler, en tant que Lieutenant-Colonel à l’Etat-Major Général de l’Armée1
BEMERKUNGEN ZUR FRAGE DER WIRTSCHAFTLICHEN NEUTRALITÄT
1) Nach der Mitteilung des Deutschen Nachrichtenbureaus, die im «Bund» vom 13. Sept. unter dem Titel «Deutschland und die wirtschaftliche Neutralität» veröffentlicht wurde, geht die Auffassung der deutschen Regierung dahin, dass «wirtschaftliche Neutralität die Fortsetzung des normalen Warenaustausches und Warentransites bedeutet». Die deutsche Regierung habe «als eine unneutrale Haltung klargestellt, wenn die neutralen Staaten sich von ändern Staaten tatsächliche Einschränkungen auf drängen Hessen, die gegen die Fortsetzung des normalen Warenaustausches und Warentransits der neutralen Staaten mit Deutschland gerichtet sind».
Solche Einschränkungen und Kontrollen haben bekanntlich während des Krieges 1914-1918 bestanden. M[eines Wf/ssm?] sind sie damals von Deutschland nicht als neutralitätswidrig betrachtet worden. Vielmehr hat Deutschland selbst die Schaffung solcher Organisationen in neutralen Ländern gefordert, wie z. B. der «Treuhandstelle» in der Schweiz2.
Es trifft nicht zu, dass die deutsche Regierung mit ihrer jetzigen Haltung sich im «Einklang mit der allgemeinen Auffassung des Völkerrechts» befinde. Jedoch ist es ihr gelungen, in den Nichtangriffsverträgen mit Dänemark, Estland und Lettland vom 1. resp. 7. Juni 1939, Bestimmungen aufnehmen zu lassen, welche ihrem heutigen Standpunkt entsprechen. Ich habe schon in meinem Referat am Rapport der Justizoffiziere am 5. Juni auf die Gefahr dieser Bestimmungen hingewiesen. (Vgl. den Text in der Beilage 13.)Diese Pakte gehen in der Tat sehr weit, indem sie nicht nur den normalen Warenaustausch, sondern sogar den normalen Transitverkehr fördern. Freilich ist zu bemerken, dass diese Verträge dem Kriegführenden keinen Anspruch auf den normalen Warenverkehr mit dem Neutralen geben, sondern lediglich bestimmen, dass der Neutrale diesen Verkehr mit dem ändern Kriegführenden aufrechterhalten kann, ohne seine Neutralitätspflichten gegenüber dem ersten zu verletzen.
Jedoch handelt es sich hier um drei neuere Partikularverträge, die für nicht beteiligte Staaten in keiner Weise verbindlich sind, trotzdem der Wortlaut so gewählt wurde, dass die Bestimmungen über Warenaustausch als Ausfluss der «allgemeinen Regeln der Neutralität» erscheinen.
2) Das auf den Landkrieg bezügliche Neutralitätsrecht enthält über den allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr der Neutralen mit den Kriegführenden keine Bestimmungen (sh. aber unter 4)). Die Schweiz hat sich auch immer auf den Standpunkt gestellt, dass sich im Gebiete der wirtschaftlichen Beziehungen aus der Neutralität keine bestimmten Verpflichtungen ergeben. Am entschiedensten ist das geschehen in der Botschaft über den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund, zwecks Rechtfertigung der «differentiellen Neutralität»4. Wenn auch die integrale Neutralität am 14. Mai 1938 wieder hergestellt wurde, so bedeutet das doch nicht die Anerkennung von eigentlichen Neutralitätspflichten in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern lediglich die Befreiung von der Verpflichtung zur Ergreifung wirtschaftlicher Zwangsmassnahmen5.
3) Bezeichnend ist, dass selbst die neuesten Kodifikationen des Neutralitätsrechts den Grundsatz der allgemeinen wirtschaftlichen Neutralität nicht kennen. Das gilt einmal für das italienische Neutralitätsgesetz vom 8. Juli 1938, dessen einschlägige Bestimmungen im Anhang II wiedergegeben werden. Die Tatsachen, dass nach diesem Gesetz nur ganz bestimmte wirtschaftliche Handlungen verboten werden können, beweist, dass das übrige wirtschaftliche Leben vom Neutralitätsrecht nicht eingeschränkt ist.
Auch die am 27. Mai 1938 von Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden aufgestellten gleichartigen Neutralitätsregeln enthalten keine Vorschriften über den allgemeinen Warenverkehr zwischen Neutralen und Kriegführenden.
4) Das Neutralitätsabkommen vom 18. Okt. 1907 entält zwei Artikel, die für die vorliegende Frage von Bedeutung sind, Art. 7 und 9 Abs. 1.
«Art. 7. Eine neutrale Macht ist nicht verpflichtet, die für Rechnung des einen oder des ändern Kriegführenden erfolgende Ausfuhr oder Durchfuhr von Waffen, Munition und überhaupt von allem, was für ein Heer oder eine Flotte nützlich sein kann, zu verhindern.»
«Art. 9 Abs. 1. Alle Beschränkungen oder Verbote, die von einer neutralen Macht in Ansehung der in den Art. 7 und 8 erwähnten Gegenstände angeordnet werden, sind von ihr auf die Kriegführenden gleichmässig anzuwenden.»
Art. 7 bezieht sich auf «alles, was für ein Heer oder eine Flotte nützlich sein kann». Durch diese Formulierung wird bei der heutigen Art der Kriegführung viel mehr umfasst, als 1907. In der Tat gehören heute fast sämtliche Wirtschaftsprodukte dazu. Die kürzlich veröffentlichte englische Konterbandeliste ist zwar für den Landkrieg nicht massgebend, zeigt aber doch, welche Gegenstände als für die Kriegführung notwendig oder nützlich erachtet werden.
Aus den Art. 7 und 9 des Neutralitätsabkommens ergibt sich daher, bei der heutigen Bedeutung der Wirtschaft für die gesamte Kriegführung, eine Pflicht zur Gleichbehandlung der Kriegführenden beinahe im ganzen Gebiet der Wirtschaft. Man kann also doch von einer Art von wirtschaftlicher Neutralität sprechen. Die schweizerische Regierung hat das m.E. nie anerkannt und zwar mit Recht. Ich möchte bemerken, dass ich selbst in öffentlichen, schriftlichen oder mündlichen Äusserungen, die Neutralität immer als eine rein militärische Angelegenheit erklärt habe. Jedoch scheint es mir notwendig, in diesem rein für den internen Gebrauch bestimmten Schriftstück auf die Konsequenzen aufmerksam zu machen, die sich aus den Art. 7 & 9 ergeben.
5) Immerhin ist folgendes zu bemerken: Art. 9 schreibt lediglich eine Gleichbehandlung bei Erlass von Beschränkungen und Verboten vor. Es ergibt sich aus Art. 9 keinerlei Recht eines Kriegführenden, bestimmte Lieferungen von einem Neutralen zu erhalten. Es ist zudem selbstverständlich, dass der Neutrale alle zum Schutze seines eigenen Wirtschaftslebens notwendigen Massnahmen treffen kann. Auch im militärischen Gebiet ist die Selbstverteidigung dem Neutralen nicht nur gestattet, sondern sie ist die notwendige Voraussetzung der Neutralität. Das muss analog für das Wirtschaftsleben gelten. In den meisten Staatsverträgen wirtschaftlicher Art dürften sich die Staaten zwecks Ergreifung der notwendigen Massnahmen im Kriegsfall - sei es dass sie in den Krieg verwickelt werden oder neutral bleiben - freie Hand Vorbehalten haben. Wenn ein solcher Vorbehalt nicht ausdrücklich gemacht wurde, so ist er doch stillschweigend in solchen Verträgen enthalten.
Die Gleichbehandlung nach Art. 9 kann nur eine formelle, nicht eine materielle sein (so auch der Kommentar zu den Staats Verträgen betr. Landkrieg), d.h. es genügt, dass gegenüber beiden Kriegführenden die gleichen Verbote bestehen, es ist gleichgültig, wenn damit der eine mehr betroffen wird als der andere.
Überdies kann selbst die formelle Gleichbehandlung nur hinsichtlich des Waffen- und Munitionsausfuhrverbots usw. gelten, nicht aber hinsichtlich der übrigen Wirtschaftsbeziehungen. Im Bereich der Wirtschaftsbeziehungen handelt es sich eben nicht nur darum - wie in der Sphäre der rein militärischen Angelegenheiten - Verbote aufzustellen, die gegenüber allen gleich sein können, sondern es muss eine positive Regelung des Warenaustausches getroffen werden. Damit uns der Kriegführende A bestimmte Waren liefert, werden wir die Verpflichtung übernehmen müssen, zu seinen Gunsten bestimmte Exporte zuzulassen, während wir zu Gunsten des Kriegführenden B, der uns andere Waren als A liefert, andere Artikel ausführen müssen. Das ergibt notwending eine sachliche Verschiedenheit der für den Wirtschaftsverkehr mit A und B geltenden Bestimmungen, also ein Abweichen vom Erfordernis der formellen Gleichbehandlung. Art. 9 des Neutralitätsabkommens ist auf rein militärische Verhältnisse zugeschnitten und auf die wirtschaftlichen Beziehungen nicht nach seinem starren Wortlaut anwendbar. Es ist übrigens darauf aufmerksam zu machen, dass die deutsche Kundgebung nur die Fortsetzung des normalen Warenaustausches und Transits verlangt (d.h. also wohl des bisherigen); darin liegt eine Anerkennung des Zulässigkeit der individuellen Unterschiede im Warenverkehr zwischen dem Neutralen und dem einen und ändern Kriegführenden.
6) Wenn jene Kundgebung es als eine unneutrale Haltung bezeichnet, wenn die Neutralen sich von ändern Staaten «tatsächliche Einschränkungen aufdrängen lassen» so ist dies ein rechtlich völlig unhaltbarer Standpunkt. Der Neutrale kann selbstverständlich nicht für Einschränkungen verantwortlich gemacht werden, die von seinem Willen unabhängig sind. Diese Einschränkungen sind eine Folge der Blockade kraft Seekriegsrecht, deren Zulässigkeit von Deutschland grundsätzlich nie bestritten wurde und die Deutschland gegenüber England selbst anwendet (ob formelle Blockadeerklärungen bisher ergangen sind, ist mir nicht bekannt). Wenn England die neutralen Länder in das blockierte Gebiet in der Weise einbezieht, dass diese die als Kriegskonterbande erklärten Artikel, die ihnen geliefert werden, nicht nach Deutschland ausführen können, so hat vielleicht England seine Rechte gegenüber den Neutralen überschritten, aber es ist schlechthin ausgeschlossen, daraus eine Neutralitätsverletzung der Neutralen gegenüber Deutschland abzuleiten. Gewiss darf sich der Neutrale eine Neutralitätsverletzung durch einen Kriegführenden nicht gefallen lassen, ohne sich selbst einer Neutralitätsverletzung gegenüber dem ändern Kriegführenden schuldig zu machen. Aber, ganz abgesehen davon, dass die Einbeziehung neutraler Staaten in das blockierte Gebiet in der angegebenen Art kaum eine Verletzung ihrer neutralen Rechte bedeutet, kann jedenfalls ein Neutraler von einem Kriegführenden nicht für Neutralitätsverletzungen des ändern verantwortlich gemacht werden, die zu hindern ihm völlig unmöglich ist. (Dieser Grundsatz wäre auch bei Überfliegung neutralen Gebietes in sehr grosser Höhe anzuwenden.) Was die Blockade anbetrifft, so ist überdies auf Art. 5 Abs. 2 des Neutr. Abkommens zu verweisen: keine Verantwortlichkeit für Handlungen ausserhalb des Gebietes des Neutralen.
7) Heikler ist die Sache, wenn, wie sich die deutsche Kundgebung ausdrückt, die Neutralen sich «formelle Kontrollen» aufdrängen lassen. Gemeint sind wohl Fälle, in denen auf Grund einer Willenseinigung zwischen dem einen Kriegführenden und dem Neutralen Organisationen ähnlich der SSS geschaffen werden. In diesem Fall hat der Neutrale formell seine Zustimmung zu einer einschränkenden Massnahme gegeben.
Um eine möglichst weitgehende Gleichbehandlung der beiden Kriegführenden zu erreichen wäre es notwendig, mit beiden Abkommen solcher Art zu treffen, wie das die Schweiz 1915 getan hat. Dadurch, dass der Bundesrat am 2. Sept. 1939 ein allgemeines Ausfuhrverbot erlassen hat, hat er eine für alle Kriegführenden formell gleiche Massnahme getroffen. Damit ist die Grundlage für solche Abkommen geschaffen worden.
- 1
- Rapport: E 27/12954. Annotation manuscrite en haut du document: Abschr [(/?]an Polit [isr/ies] Departement).↩
- 2
- 2. Cf. DDS, vol. 6, en particulier Nos 131, dodis.ch/43406 et 141, dodis.ch/43416.↩
- 3
- Non reproduit.↩
- 4
- Cf. DDS, vol. 7.1, No 178, dodis.ch/43923, annexe.↩
- 5
- Cf. E 2001 (D) 3/299 et E 2001 (D) 4/ 1 et 2.↩
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