Zur Frage der Verlängerung des Aufenthaltes des ehemaligen deutschen Gesandten Köcher in Bern; dessen Bitte um einen Geleitschein für seine Rückkehr nach Deutschland.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 16, doc. 10
volume linkZürich/Locarno/Genève 1997
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2801#1967/77#118* | |
Old classification | CH-BAR E 2801(-)1967/77 5 | |
Dossier title | Deutschland (1945–1946) | |
File reference archive | 081 |
dodis.ch/21
Der Chef der Abteilung für Auswärtiges, W. Stucki, an den Vorsteher des Politischen Departements, M. Petitpierre1
Auf meinen Wunsch besucht mich Herr Dr. OttoKöcher, früherer deutscher Gesandter in der Schweiz. Er ist ausserordentlich bedrückt und auch entrüstet über die Angriffe, denen er in einem grossen Teil der schweizerischen Presse ausgesetzt ist. Mit Bitterkeit äussert er sich darüber, dass seine immer freundschaftliche Einstellung zu unserm Lande und die nicht unwesentlichen Dienste, die er ihm in schwierigsten Verhältnissen geleistet hat, nun derart belohnt werden. Er ist auch enttäuscht darüber, dass der Bundesrat, der ihm ohne Frist Asyl zugesichert hat2, nun offenbar unter dem Druck der Presse seine Haltung ändern wolle3.
Herr Köcher hält sich gegenwärtig mit seiner Frau im Hotel Schweizerhof in Luzern auf. Polizeilich ist er dort nicht angemeldet, da er bei seiner Ankunft noch im Besitz der diplomatischen Privilegien war. Diese bestehen seit dem 8. Juni nicht mehr4. Er hatte die Absicht, in Vitznau ein kleines Häuschen zu mieten. Durch seinen Anwalt hatte er beim luzernischen Polizeidirektor5 sondieren lassen, ob ihm der Kanton Luzern den Aufenthalt gestatten würde. Die Antwort lautete, wenn der Bundesrat dem Regierungsrat des Kantons Luzern eine Empfehlung im Sinne der Äusserungen, die der Herr Bundespräsident der Presse gegenüber gemacht hatte6, zukommen liesse, so würde der Entscheid voraussichtlich positiv lauten. Unterdessen habe nun aber heute die Luzerner Regierung öffentlich erklärt, sie verweigere ihm den Aufenthalt7. Damit sei für ihn das Projekt Vitznau natürlich erledigt. Er möchte wissen, wie er nun seine polizeiliche Situation zu regeln habe.
Ich habe zunächst versucht, Herrn Köcher die Haltung der öffentlichen Meinung zu erklären. Man müsse sie betrachten als eine explosionsartige Reaktion und Auslösung von Gefühlen, die eben jahrelang vorhanden waren und sich nicht äussern durften. Dazu komme die Erregung über die Greueltaten in den deutschen Konzentrationslagern und die Erwägung, es sei ungerecht, zahlreiche untergeordnete Beamte auszuweisen, während er als verantwortlicher Chef hier bleiben könne. Was seine polizeiliche Situation anbelange, könne ich mich dazu nicht äussern, er möchte sie zunächst mit dem Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei besprechen8.
Was nun die Haltung des Bundesrates anbelangt, führte ich weiter aus, stehe er heute noch auf dem Standpunkt, dass ihm, Köcher, eine Aufenthaltsbewilligung für 2–3 Monate gewährt werden könne, und dass diese eventuell auf Gesuch hin zu verlängern wäre. Mit dieser Haltung stehe der Bundesrat zweifellos in schroffem Widerspruch mit weiten Kreisen der öffentlichen Meinung, und es sei nicht anzunehmen, dass diese Bewegung abflauen werde. Dazu komme, dass der Bundesrat keine Kantonsregierung zwingen könne, ihm den Aufenthalt zu bewilligen und dass das Beispiel von Luzern Schule machen könnte. Die ganze, äusserst peinliche Angelegenheit würde für den Bundesrat erleichtert, wenn Köcher sich bereit erklären würde, innert einer bestimmten, relativ kurzen Frist nach Bayern auszureisen.
Köcher antwortet hierauf, dass er gewiss dem Bundesrat seine sehr schwierige Stellung nicht unnötig erschweren möchte. Es sei aber sicher, dass er bei Überschreitung der Grenze sofort verhaftet würde und dann mindestens monatelang im Gefängnis sitzen müsste. Er glaube Anspruch darauf zu haben, dass ihn der Bundesrat vor einem solchen Schicksal bewahre. Dies könnte vielleicht dadurch geschehen, dass man bei den Alliierten, insbesondere bei den Amerikanern, für ihn die Zusicherung freien Geleites bis zu seinem Hofe in Ober-Wössen, Bezirk Braunstein, in Ober-Bayern, sowie das Versprechen, ihn dort unbehelligt zu lassen, verlange und erwirke. Unter dieser Bedingung sei er bereit, die Schweiz dann sofort zu verlassen9. Ohne eine solche Sicherung könne er eine solche Erklärung nicht abgeben und müsste sich eben schlimmstenfalls durch Gewalt an die Grenze stellen lassen. Er nehme an, fügte er noch bei, dass in jedem Falle seine Frau unbehelligt in der Schweiz bleiben dürfe.
Ich antwortete, dass wir die Frage des sichern Geleites sofort prüfen würden, dass aber jedenfalls eine verbindliche Erklärung, ihn in Ober-Bayern unbehelligt zu lassen, kaum erreichbar sein dürfte10.
Schliesslich macht Köcher noch darauf aufmerksam, dass auch die übrigen deutschen Diplomaten, die nicht als besonders belastet ausgewiesen worden sind, doch unmöglich nach Ablauf der Aufenthaltsdauer in der Schweiz einfach an die Grenze gestellt werden könnten, wo sie ja sofort verhaftet würden11. Man sollte auch für sie eine Art Visum oder Geleitschein zu erwirken versuchen.
Ich sichere auch die Prüfung dieser Frage zu.
- 1
- (Kopie): E 2801/1967/77/5.↩
- 2
- Gemäss einer fremdenpolizeilichen Weisung aus der zweiten Hälfte des Monats Mai wurde O. Köcher und jene ehemaligen Mitgliedern der deutschen Gesandtschaft, welche nicht bereits aufgrund von Art. 70 BV aus der Schweiz ausgewiesen worden waren, eine Ausreisefrist von zwei bis drei Monaten zugestanden und zudem die Möglichkeit eingeräumt, diese Frist gegebenenfalls zu verlängern. Siehe die Notiz von P. Baechtold vom 23. Juni 1945, E 4001 (C) 1/39.↩
- 3
- Laut dem BR-Prot. Nr. 1189 vom 1. Juni 1945 betrachtete der Bundesrat die Pressekampagne gegen O. Köcher als nicht gerechtfertigt, E 1004.1 1/458.↩
- 4
- Entgegen dem Bundesratsbeschluss vom 8. Mai 1945, wonach die diplomatischen Vorrechte nach drei Tagen dahinfallen sollten, wurde auf Drängen des EPD bei O. Köcher eine Ausnahme gemacht. Vgl. DDS, Bd. 15, Dok. 441, dodis.ch/48045.↩
- 7
- Siehe hierzu den Brief des Militär- und Polizeidepartements des Kantons Luzern an die schweizerische Bundesanwaltschaft vom 4. Juni 1945, E 2801/1967/77/5.↩
- 8
- In einem Gespräch vom 21. Juni 1945 informierte P. BaechtoldO. Köcher, dass die Ausreisefrist auf den 31. Juli festgelegt worden sei. Siehe Schreiben des EJPD an M. Petitpierre vom 11. Juli 1945, E 2001 (E) 1967/113/185 oder dodis.ch/2349.↩
- 9
- Petitpierre hat die Frage des freien Geleites mit dem französischen und dem amerikanischen Gesandten in Bern besprochen. Siehe den Brief von M. Petitpierre an E. von Steiger vom 12. Juli 1945, E 4001 (C) 1/39.↩
- 10
- Im September 1945 hat das EPD vom amerikanischen Gesandten in Bern L. Harrison nur ungenaue Angaben über den Aufenthaltsort und die Art der Anklage in Erfahrung bringen können. Siehe Schreiben von M. Petitpierre an E. von Steiger vom 20. September 1945, Gemäss einer Aktennotiz von W. Balsiger an E. von Steiger vom 9. Januar 1946 hat O. Köcher Ende 1945 in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager Selbstmord begangen, ebd.↩
- 11
- In der Bundesratssitzung vom 8. Mai 1945 wurde beschlossen, 25 besonders belastete deutsche diplomatische und konsularische Vertreter auszuweisen. Diese Ausweisungen wurden noch im Mai durchgeführt; vgl. das BR-Prot. Nr. 1023 vom 8. Mai 1945, E 1004.1 1/457.Der Bundesrat hat schliesslich im Hinblick auf die Washingtoner Verhandlungen beschlossen, 280 Beamten der ehemaligen deutschen Vertretungen – Familienangehörige eingeschlossen – zurückzuschaffen. Vgl. das BR-Prot. Nr. 742 vom 18. März 1946, vgl. auch E 1004.1 1/467.Ausser O. Köcher war bis dahin kein Beamter innerhalb der Ende Mai beschlossenen zwei- bis dreimonatigen Frist ausgereist. Im Mai 1946 wurde mit der Ausschaffung begonnen. Vgl. die Listen der Ausgereisten, E 4001 (C) 1/38.↩
Relations to other documents
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