Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 22, doc. 124
volume linkZürich/Locarno/Genève 2009
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#1207* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 510 | |
Dossier title | Washington, Politische Berichte und Briefe, Militär- und Sozialberichte, Band 65 (1963–1963) |
dodis.ch/18877 Nassau und europäische Integration von Bonn aus gesehen. Information eines deutschen Diplomaten, früher Kabinettschef von Professor Hallstein, (X)2
Das noch letztes Jahr periodisch geäusserte Misstrauen Bonns über die amerikanische Bereitschaft, im Fall einer massiven Krise für Berlin und sogar für die Bundesrepublik einzustehen, hatte seine Hauptträger in von Brentano und Strauss. Jener war stets auf der Lauer, neue Beweise der amerikanischen Unzuverlässigkeit in Bezug auf die Deutschland-Politik zu entdecken. Dieser widersetzte sich einer Erhöhung der Atomschwelle durch Verstärkung der konventionellen Mittel und forderte ein Mitspracherecht beim Atomwaffen-Einsatz, aus Angst, die USA könnten nach einer entscheidenden Niederlage der in Deutschland stationierten NATO-Truppen ein Arrangement mit der Sowjetunion treffen, wobei der intakte Atom-Deterrent den USA soviel Verhandlungsraum liesse, um den Grossteil Europas, aber nicht die Bundesrepublik, zu retten.
Diese düsteren Perspektiven sind durch die Kuba-Erfahrung entkräftet worden. Es hat sich gezeigt, dass der moderne Krieg nicht durch einen überraschenden Atomschlag gekennzeichnet ist, sondern durch ein subtiles System von Zügen und Gegenzügen, unter Verwendung aller gegebenen diplomatischen und militärisch-konventionellen Mittel, mit der «nuclear force» als «ultima ratio» im Hintergrund. Kuba ist gewonnen worden, weil die USA am Konfliktsort konventionell so stark waren, um das Odium des «first strike» auf den Gegner zu überwälzen, der es aber wegen des zu hohen Risikos nicht auf sich nehmen konnte. Dieser für die Zukunft hoch bedeutsame Vorgang hat wieder zum Bewusstsein gebracht, dass auch der an Mitteln Mächtige seine Macht nur dann verwirklichen kann, wenn er von ihr nicht übermässig Gebrauch macht, sondern sie gleichsam homöopathisch, den Krisenstufen angepasst, appliziert.
Es zeugt für die Folgerichtigkeit der amerikanischen Politik, dass sie nach der höchst eindrucksvollen Demonstration in Kuba nun den Schritt in Nassau getan hat, der die europäische Allianzpolitik auf eine reale Basis stellen soll. Praktisch gesehen sind die heutigen konventionellen Streitkräfte in Mitteleuropa, d. h. die rund 28 in der Bundesrepublik stationierten Divisionen, stark genug, um einem überraschenden sowjetischen Vorstoss aus dem gegenwärtigen Unterkunftsraum in der DDR zu begegnen. Sowjetische Truppenbewegungen aus den übrigen Warschau-Pakt-Ländern würden frühzeitig genug entdeckt, um das diplomatisch-militärische Schachspiel à la Kuba in Gang zu setzen, bevor Kriegshandlungen überhaupt begonnen haben. Trotz dieser an sich günstigen Ausgangslage ist es notwendig, das konventionelle Kräftepotential zu erhöhen, um z. B. im Falle eines sowjetischen Durchbruchs bei Hamburg an die Nordsee – eine besonders verwundbare Stelle – den Rückzug ohne Atomwaffen-Einsatz zu erzwingen. Der amerikanische Atom-Deterrent, der sich heute zum europäischen wie 96: 4 verhält und in Kürze 99: 1 verhalten wird, ist dabei natürlich vollständig genügend, um jeglichem NATO-Schachzug ein apokalyptisches Schwergewicht zu verleihen. Aber die Amerikaner waren weise genug, zu erkennen, wie beruhigend es für die Europäer sein muss, über einen eigenen Deterrent zu verfügen, so klein er im Verhältnis zum ameri kanischen auch ist. – Die noch auf Strauss eingestellten deutschen Generäle haben Mühe, solche Gedankengänge zu akzeptieren, der neue Verteidigungsminister von Hassel wird aber auf die neue Linie einschwenken.
Die USA betreiben nachdrücklich den britischen Beitritt zur EWG, weil sie erkannt haben, dass eine Kongruenz zwischen der Militärallianz der NATO und der wirtschaftlichen Integration notwendig ist, wenn das Fernziel, der politische Zusammenschluss Europas, erreicht werden soll. Dass dieses Fernziel mit dem Beitritt Englands, Dänemarks und Norwegens nicht mehr über die Supranationalitätsideologie der Integrations-Frühzeit realisiert werden kann, ist evident, doch wird damit nur der Weg, nicht das Ziel, verändert. Irland z. B. würde sich sicher der NATO anschliessen müssen, wenn es der EWG beiträte. Jean Monnet hat dies seit längerem eingesehen und sich dementsprechend von der Supranationalität abgewandt. Die Brüsseler Kommission erkennt die Richtigkeit des von USA und Monnet vorgezeichneten Weges, sieht aber auf der andern Seite, dass ihr mit der Verbreiterung der EWG die Hoffnung, einmal auch politisches Zentrum sein zu können, entgleitet und sie zu einem Sekretariat mit wirtschaftspolitischen Kompetenzen wird. Der Widerstand de Gaulle’s gegen den britischen Eintritt3 lässt sich daher kaum durch seine Ablehnung der Supranationalität erklären. Im Gegenteil müsste man sogar annehmen, dass das «l’Europe des Patries» mit der EWG-Verbreiterung eher erreicht würde als im engen Sechser-Kreis. De Gaulle geht es aber offensichtlich um ganz anderes, nämlich um die Ablehnung der NATO und damit des europäischen Zusammenschlusses überhaupt. – Aussenminister Schröder unterstützt Washington in seiner Haltung mit Nachdruck. Adenauers Haltung ist allein durch die Sorge diktiert, die de Gaull’sche Freundschaft zu verlieren.
Die Assoziationsbegehren der europäischen Länder müssen unter dem oben beschriebenen Aspekt im Rahmen der NATO-Konzeption beurteilt werden. So wie Griechenland werden auch die NATO-Staaten Türkei und Portugal Assoziierungsverträge erhalten, so schwierig das wirtschaftlich auch sein mag. Die Assoziation Spaniens hängt von der militärisch-politischen Bedeutung dieses Landes ab. Diese Frage bedarf noch weiterer Klärung, Man kann erwarten, dass die USA sie bald einmal anpacken werden. Die neutralen Länder, so berechtigt ihre wirtschaftlichen Anliegen sind, haben keinen Platz in einer solchen politisch-militärischen Allianz. Die EWG muss mit ihnen Handelsarrangements treffen, die ihnen volle Satisfaktion gibt, ohne sie politisch-militärisch zu binden. Hiermit trägt die EWG im Grunde nur ihrem Neutralitätsstatut Rechnung.