Wichtigster Diskussionspunkt zwischen der deutschen und der schweizerischen Delegation ist die Frage der Rücknahmepflicht für Drittausländer.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 19, doc. 132
volume linkZürich/Locarno/Genève 2003
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2200.161-02#1968/134#136* | |
Old classification | CH-BAR E 2200.161-02(-)1968/134 14 | |
Dossier title | Uebernahme von Personen an der Grenze (1952–1955) | |
File reference archive | G.31.33.1 |
dodis.ch/9507 Interner Bericht des Justiz- und Polizeidepartements1
BERICHT ÜBER DIE VERHANDLUNGEN MIT EINER DEUTSCHEN DELEGATION ÜBER DIE ÜBERNAHME VON PERSONEN AN DER GRENZE
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung vom 19. Oktober 1954 auf Antrag des Justiz- und Polizeidepartementes2 beschlossen, es seien Verhandlungen mit Deutschland über die Übernahme von Personen an der Grenze zu führen.
[…]3
Die Verhandlungen fanden vom 21. bis 23. Oktober 1954 in Basel und am 25. Oktober 1954 in Bern statt4.
Um die Stellungnahme der an Deutschland grenzenden Kantone kennen zu lernen, fand am 18. Oktober 1954 in Basel eine Vorbesprechung mit Vertretern der Kantone Zürich, Basel-Stadt, Baselland, Schaffhausen, Aargau und Thurgau statt. Die Vertreter dieser Kantone begrüssten ausnahmslos die Verhandlungen und den Abschluss eines Vertrages mit Deutschland. Die bestehende Praxis gebe zwar zu keinen besonderen Klagen Anlass. Die Beziehungen zwischen den schweizerisch-deutschen Grenzbehörden seien gut, doch bedürfe diese Praxis einer vertraglichen Abmachung.
Das Justiz- und Polizeidepartement legte von Anfang an grossen Wert auf die Teilnahme von Vertretern aus den Grenzgebieten, da es sich weitgehend auch um praktische Fragen handelt. Als deutsche Vertreter waren nur zwei Herren aus Bonn gemeldet worden. Durch wiederholte Interventionen des schweizerischen Delegationschefs bei der Gesandtschaft der Bundesrepublik Deutschland in Bern und direkt beim Vertreter des Bundesministeriums des Innern in Bonn wurde die deutsche Delegation durch Vertreter aus den Grenzgebieten ergänzt. Es kann gesagt werden, dass sich diese Zusammensetzung der Delegationen für dieses Sachgebiet als vorteilhaft erwiesen hat. Die gleiche Erfahrung war bereits bei den Verhandlungen mit Österreich vom Sommer dieses Jahres gemacht worden.
Für die schweizerische Delegation galt als Verhandlungsgrundlage das am 2. Juli 1954 in Luzern mit Österreich abgeschlossene Übereinkommen über die Übernahme von Personen an der Grenze, das der Bundesrat am 16. Juli 1954 genehmigt hat5. Dieses Abkommen regelt
1) Die Übernahme von Angehörigen der vertragsschliessenden Staaten,
2) Die Ausschaffung und Rückübernahme von Drittausländern,
3) Die Durchbeförderung von Drittausländern.
In diesem Übereinkommen sind zwei Grundsätze enthalten. Jeder Staat verpflichtet sich, keine Ausschaffungen ausserhalb der offiziellen Grenzübergangsstellen vorzunehmen. Jeder Staat verpflichtet sich weiter, innert einer gewissen Frist Drittausländer, die rechtswidrig aus seinem Gebiet in dasjenige des andern Teiles eingereist sind, zurückzunehmen.
Für die deutsche Delegation galten als Grundlage die Verträge mit Belgien (10. Februar 1953), Dänemark, Norwegen und Schweden (15. Mai/22. Juni 1954). In diesen Verträgen wurde die Übernahme von Angehörigen der vertragschliessenden Staaten, sowie die Ausschaffung und Rückübernahme von Drittausländern geregelt. Über die Durchbeförderung von Drittausländern ist nichts gesagt. Auch in diesen Verträgen ist der Grundsatz enthalten, dass Ausschaffungen nur an bestimmten Grenzübergangsstellen vorgenommen werden dürfen. Dagegen besteht nicht eine unbedingte Rücknahmepflicht für Drittausländer, die rechtswidrig aus dem einen Gebiet in das andere eingereist sind. Solche Ausländer müssen nur dann zurückgenommen werden, wenn
a) Der Antrag innert sechs Monaten seit Grenzübertritt gestellt wird,
b) Der Ausländer sich mehr als vierzehn Tage in dem Staat, aus welchem er illegal in den anderen Staat reiste, aufgehalten hat.
Die unter b) erwähnte Bedingung erfährt insoweit eine Einschränkung, als die Rückgabe möglich ist, wenn der Ausländer innerhalb von sieben Tagen nach dem Grenzübertritt aufgegriffen wird, auch wenn er sich im anderen Staat nicht vierzehn Tage aufgehalten hat.
Der schweizerische Delegationschef gab bereits bei der ersten Sitzung mit aller Deutlichkeit bekannt, dass die Schweiz auf einer unbedingten Rücknahmepflicht für Drittausländer, die widerrechtlich aus Deutschland in die Schweiz eingereist sind, beharren müsse, auch in den Fällen, bei denen der Drittausländer sich weniger als vierzehn Tage auf Bundesgebiet aufgehalten habe. Die Vertreter der deutschen Delegation lehnten eine solche allgemeine Pflicht ab. Sie wiesen darauf hin, dass nach Völkerrecht kein Staat verpflichtet sei, einen Drittausländer, der widerrechtlich in das Gebiet des anderen Staates gereist sei, zurückzunehmen; es gelte vielmehr der Grundsatz «Wer hat, der hat». Deutschland habe nicht die Absicht, alle Drittausländer, die nicht mehr in ihre Heimat abgeschoben werden könnten, in die Schweiz zu schicken. Deutschland könne aber nicht verpflichtet werden, alles Oststaatsangehörigen, die Deutschland nur transitierten, weil sie eben in die Schweiz kommen wollten, zurückzunehmen6. Es könne Deutschland nicht zugemutet werden, alle Flüchtlinge Europas bei sich aufzunehmen.
Der schweizerische Delegationschef gab zur Antwort, es könne noch viel weniger die Aufgabe eines kleinen Landes ohne Zugang zum Meer sein, das Sammelbecken von Flüchtlingen aus allen Ländern, auch aus «westeuropäischen», zu werden. Die Schweiz habe ihre Erfahrungen während des letzten Krieges gemacht, als durch die deutsche Politik zehntausende und zehntausende von Flüchtlingen in unser Land kamen und bis nach Kriegsschluss nicht weiterwandern konnten. Die Schweiz müsse von ihren Nachbarn grundsätzlich verlangen, dass sie Drittausländer, die widerrechtlich eingereist seien, wieder zurücknehmen. Dies bedeute nicht, dass die Schweiz jeden illegal eingereisten Ausländer zurückstellen werde. Wenn ein solcher in die Schweiz komme und als Flüchtling anerkannt werde, so stelle sich die Frage der Rückschaffung überhaupt nicht. Weiter sei die Schweiz bereit, auf die Rückschaffung illegal eingereister Ausländer, die sich mehr als sechs Monate seit Grenzübertritt im Lande aufhalten würden, zu verzichten. Die schweizerische Delegation sei sogar bereit, über diese Frist zu diskutieren und die im Abkommen mit Österreich vorgesehenen kürzeren Fristen zu übernehmen. Ebenfalls sei sie bereit, wie im Abkommen mit Österreich, eine Bestimmung aufzunehmen, die Deutschland in jedem Fall das Recht gebe, vor einer Rückschaffung Gründe geltend zu machen, die geeignet sein könnten, den Entscheid in einem anderen Sinne zu beeinflussen. Die schweizerische Delegation müsse es aber ablehnen, über das grundsätzliche Recht der Schweiz zu diskutieren, illegal eingereiste Drittausländer wieder ausschaffen zu dürfen.
Die deutsche Delegation versuchte hartnäckig, unsere Delegation von diesem Standpunkt abzubringen. Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich nur um eine kleine Anzahl von Fällen handle, bei denen das Recht zur Rückschaffung von deutscher Seite nicht anerkannt werde. Es seien nämlich wenige, die sich weniger als vierzehn Tage in Deutschland aufgehalten hätten. Mit wenigen Ausnahmen würden solche Leute zudem in der Schweiz innert sieben Tagen aufgegriffen werden können, sodass die Voraussetzung für die Rückschaffung auch hier gegeben sei. Da die schweizerische Bevölkerung mit der Polizei und nicht, wie in Deutschland, gegen diese arbeite, dürfte es in der Regel möglich sein, die Anwesenheit eines illegal eingereisten Ausländers innert sieben Tagen festzustellen. Dies werde durch die Erfahrungen der letzten Jahre bestätigt.
Von der schweizerischen Delegation wurde darauf erklärt, dass heute allerdings die meisten illegal eingereisten Ausländer innert sieben Tagen seit Grenzübertritt polizeilich einvernommen werden könnten, aber nicht wegen der Mitwirkung der eigenen Bevölkerung, sondern weil sich diese Ausländer selber bei der Polizei meldeten. Sie wüssten eben, dass dies für sie die beste Lösung sei. Wenn aber bekannt würde, dass die Rückschaffung nach sieben Tagen nicht ohne weiteres möglich wäre, dann würden sich verhältnismässig viele während sieben Tagen verstecken und erst am achten Tag der Polizei stellen. Wenn auch zuzugeben sei, dass es sich heute um eine verhältnismässig kleine Anzahl von Personen handle, die nach dem deutschen Vorschlag nicht mehr zurückgeschafft werden könnten, so gehe es doch um den Grundsatz, dass sich jeder Staat, aus dessen Gebiet ein Ausländer widerrechtlich in das Gebiet eines anderen Staates gereist sei, zur Rücknahme verpflichten müsse. Diese verhältnismässig kleine Zahl könne übrigens je nach der politischen Entwicklung sehr gross werden. Es sei nicht die Schuld der Schweiz, wenn es verhältnismässig oft möglich sei, dass Drittausländer durch Deutschland reisen können, ohne von der Polizei festgestellt zu werden. Für diese Unvollkommenheit der deutschen Polizei könne die Schweiz nichts. Würde die deutsche Polizei diese Leute besser kontrollieren, dann wäre ein einfacher Transit in verhältnismässig kurzer Zeit überhaupt nicht möglich. Wenn übrigens einer der beiden Staaten durch die heutigen politischen Verhältnisse in eine unangenehme Lage gekommen sei, so sei es an Deutschland, die unbequemen Konsequenzen daraus zu tragen, nicht an der Schweiz. Wir hätten während des Dritten Reiches die schwersten Unzukömmlichkeiten auf uns nehmen müssen, weil uns Flüchtlinge sogar rechtswidrig zugeschoben worden seien durch die Gestapo.
Der deutschen Delegation blieb zum Schluss nur noch das Argument, sie könne mit der Schweiz nicht einen weniger vorteilhaften Vertrag abschliessen als mit Belgien, Dänemark, Norwegen und Schweden.
Wenn die deutsche Delegation auch nicht dazu gebracht werden konnte, den schweizerischen Standpunkt voll anzuerkennen, so gelang es nach langwierigen Verhandlungen doch, einen Abschluss herbeizuführen, der als Grundsatz die schweizerische These übernimmt. Die in Abschnitt A, Ziff. 2, al. 2, vorgesehene Fassung des Textes des schweizerisch/deutschen Abkommens wird es Deutschland jedoch ermöglichen, den anderen Staaten gegenüber hervorzuheben, dass mit der Schweiz ein etwas umständlicheres Verfahren vereinbart worden sei als mit ihnen.
Danach ist die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, Drittausländer, die rechtswidrig aus ihrem Gebiet in die Schweiz eingereist sind, zurückzunehmen, wenn die schweizerischen Behörden dies innerhalb von sechs Monaten seit Grenzübertritt verlangen. Personen, die innerhalb von sieben Tagen nach dem Grenzübertritt in der Schweiz aufgegriffen werden, können den deutschen Grenzbehörden sofort übergeben werden. Für andere Personen ist dem deutschen Passkontrollamt vor der Rückstellung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Wenn dieses begründete Bedenken gegen die Übernahme geltend macht, wird der Fall der Polizeiabteilung unterbreitet, die mit dem Bundesministerium des Innern die Frage der Übernahme endgültig abklärt.
Die schlussendlich getroffene Regelung des heikelsten Punktes des Abkommens darf als befriedigend für die Schweiz bezeichnet werden. Die schweizerische Delegation hat trotzdem ein deutsches Begehren auf Vereinbarung einer verlängerten Kündigungsfrist abgelehnt, sodass das Abkommen jederzeit mit einer Frist von drei Monaten wird gekündigt werden können. Es wollte damit der deutschen Delegation zu verstehen gegeben werden, dass wir fest entschlossen sind, den dargelegten schweizerischen Grundsatz in der künftigen Praxis anzuwenden. Für die übrigen Bestimmungen verweisen wir auf den Text des Abkommens. Es ist nur noch auf Ziff. 2 des Abschnitts C hinzuweisen, der die Schlussbestimmungen enthält. Dort sind die Verpflichtungen aus den zwischenstaatlichen Verträgen über die Auslieferung und Durchlieferung sowie über die Niederlassung vorbehalten. Diese Bestimmung ist besonders wichtig im Hinblick auf Art. 7, Abs. 2, des schweizerisch/deutschen Niederlassungsvertrages, wonach auch frühere Angehörige eines Teiles im Falle der Ausweisung durch den anderen Teil zurückgenommen werden müssen, solange sie nicht Angehörige des anderen Teiles oder eines dritten Staates geworden sind (siehe Abschnitte A und B, je Ziff. 1, Abs. 4, des Abkommens)7.
Zum Schluss sei noch darauf hingewiesen, dass verschiedene Einladungen nicht unwesentlich zur Entspannung der zum Teil etwas hart verlaufenen Verhandlungen beigetragen haben. Die schweizerische Delegation hat im Zunfthaus zum Schlüssel ein Abendessen geboten, bei dem der Chef der Delegation die Grüsse des Bundesrates überbrachte. Die deutsche Delegation hat diese Einladung mit einer solchen zum Mittagessen im Kasino beantwortet. Herr Regierungsrat Brechbühl hat die Delegationen im Auftrag der Basler Regierung zweimal zum Mittagessen eingeladen. Ferner lud er die deutschen Delegierten an einem Abend zu einer Aufführung in der «Komödie» ein und zugleich die schweizerischen Delegierten zu einem Nachtessen in seinem Hause. Die Beiziehung von Vertretern von drei Grenzkantonen in die schweizerische Delegation wird sich bei der Durchführung des Abkommens sehr nützlich auswirken.
- 1
- E 2200.161(-)1968/134/14. Der Bericht wurde vom schweizerischen Delegationschef, H. Rothmund, verfasst.↩
- 2
- Vgl. BR-Prot. Nr. 1730 vom 19. Oktober 1954, E 1004.1(-)-/1/570.↩
- 3
- Anwesend waren: Die schweizerische Delegation bestand aus H. Rothmund, Chef der Polizeiabteilung, F. Brechbühl, Polizeidirektor des Kantons Basel-Stadt, O. Schürch, Polizeiabteilung, E. Haudenschild, Polizeikommandant des Kantons Thurgau, R. Tschäppät, Polizeiabteilung, P. A. Nussbaumer, EPD, Marthaler, Polizeikommando des Kantons Zürich. Die deutsche Delegation setzte sich zusammen aus: A. Török vom Auswärtigen Amt, Delegationsleiter, Ministerialrat K. Breull vom Bundesministerium des Innern, Konsul Dr. W. v. Borries, Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Basel, Regierungsdirektor Schütz, Leiter der Passkontrolldirektion in Koblenz, Regierungsrat Wöhrle, Landratsamt Konstanz, Regierungsamtmann E. Weidner, Vorsteher des Passkontrollamtes in Lörrach, R. Gruchalla, Vorsteher des Passkontrollamtes in Konstanz.↩
- 4
- Vgl. das Abkommen zwischen dem Schweizerischen Bundesrat und der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über die Übernahme von Personen an der Grenze, AS, 1955, S. 25–28.↩
- 5
- Vgl. BR-Prot. Nr. 1219 vom 16. Juli 1954, E 1004.1(-)-/1/567.Vgl. auch E 2001(E)1970/ 217/68.↩
- 6
- Zu den Ostflüchtlingen vgl. DDS, Bd. 19, Dok. 64, dodis.ch/9273.↩
- 7
- Am 26. Januar 1954 genehmigte der Bundesrat folgende drei mit der Bundesrepublik Deutschland abgeschlossenen Abkommen vgl. BR-Prot. Nr. 162 vom 26. Januar 1954, E 1004.1(-)-/1/561: Abkommen über die Aufhebung des Visumszwanges vom 19. November 1953, Niederschrift des Ergebnisses der schweizerisch-deutschen Besprechungen über Niederlassungsfragen vom 19. Dezember 1953 und Vereinbarung vom 15. Dezember 1953 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über die Verlängerung der Vereinbarung vom 14. Juli 1952 über die Fürsorge für Hilfsbedürftige, wobei nur das letzte Abkommen der Genehmigung der eidgenössischen Räte bedurfte. Vgl. die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Verlängerung der Fürsorgevereinbarung zwischen der schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland (vom 26. Januar 1954), BBl, 1954, Bd. 106, I, S. 201–205. Zum Bericht über die Verhandlungen mit der Bundesrepublik Deutschland über die gegenseitigen Niederlassungsverhältnisse und Verlängerung des Fürsorgevertrages von H. Rothmund vom 13. Januar 1954 vgl. E 2001(E)1969/121/136 (dodis.ch/7900).↩
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