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Öffnung der Archive – Neue Dokumente zur Schweizer Aussenpolitik 1991 

Am 1. Januar 2022 laufen die Schutzfristen für die Bundesakten von 1991 ab. Die neu zugänglichen Dokumente zeigen den kontroversen Abschluss des EWR-Vertrags und die aussenpolitischen Herausforderungen der Schweiz beim Ausbruch des Golfkriegs und der Jugoslawienkriege sowie beim Zerfall der Sowjetunion.

«Europa ist ein Teil von uns, und wir selbst sind ein Teil Europas. So war es immer, und so wird es immer bleiben.» Bundespräsident Flavio Cotti zeigte sich vor zahlreichen in- und ausländischen Gästen, die im Rahmen der 700-Jahrfeier der Eidgenossenschaft im September 1991 nach Sils im Engadin geladen waren, als überzeugter Europäer (Dok. 37, dodis.ch/57668). Die apodiktische Statik seiner Verortung steht allerdings in deutlichem Kontrast zur Dynamik der europapolitischen Entwicklungen des Jahres 1991. «Die Frage nach den zukünftigen Beziehungen zu Europa erschien im Jubiläumsjahr ungewisser und der Bundesrat gespaltener denn je», sagt Sacha Zala, Direktor der Forschungsstelle Dodis, und beruft sich dabei auf den neuen Band der Diplomatischen Dokumente der Schweiz (DDS), der die schweizerische Aussenpolitik des Jahres 1991 anhand ausgewählter Dokumente eingehend dokumentiert. Zahlreiche weitere Zeitzeugnisse, die am 1. Januar 2022 – pünktlich nach Ablauf ihrer gesetzlichen Schutzfrist – nun veröffentlicht werden können, zeichnen das Bild eines ernüchternden Jahres, das insbesondere nach dem hoffnungsvollen Wendejahr 1990 auch für die Schweiz neue Herausforderungen stellte.  

«Satellisierung» durch den EWR?

Die europäische Integration blieb während des gesamten Jahres das vordringliche Thema. Ein Lichtblick war dabei der Abschluss des Transitabkommens mit der Europäischen Gemeinschaft (EG) durch Bundesrat Adolf Ogi (Dok. 51, dodis.ch/58168). Weniger erfolgreich verliefen die Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Erschien der «Mittelweg» des EWR 1990 noch als einzig gangbare Lösung, war sich der Bundesrat 1991 überhaupt nicht mehr einig. Im März unterbreitete Bundespräsident Cotti seinem Bundesratskollegen Jean-Pascal Delamuraz, der das Wirtschaftsdepartement leitete und die Verhandlungen mit der EG zusammen mit Aussenminister René Felber führte, den Vorschlag, die «demütigenden» Verhandlungen über den EWR so rasch wie möglich zu Gunsten eines direkten Beitrittsgesuchs abzubrechen (Dok. 9, dodis.ch/57510). Sinnbildlich für die Uneinigkeit innerhalb des Bundesrates stand auch die kontroverse Diskussion in der Bundesratssitzung vom 17. April 1991: Während Finanzminister Otto Stich überzeugt war, dass «ein schlechter Vertrag nie als ein Schritt in die richtige Richtung» betrachtet werden könne und der zu diesem Zeitpunkt vorliegende EWR «eine Satellisierung der Schweiz» bedeute, hob Aussenminister Felber «die zahlreichen positiven Punkte» und «die sicheren Vorteile» selbst eines für die Schweiz unausgewogenen Abkommens hervor. Für Verteidigungsminister Kaspar Villiger bewegte sich das Land hingegen «auf dem Weg eines Kolonialstaates mit Autonomiestatut» (Dok. 13, dodis.ch/57331).   

Internationaler Druck

In Gesprächen mit den europäischen Partnern versuchten die Bundesräte verschiedentlich, ihren Unmut über den Verlauf der Verhandlungen kundzutun. Der deutsche Aussenminister Genscher entgegnete entschieden, nur als EG-Mitglied könnten «die eigenen nationalen Interessen optimal zur Geltung gebracht werden» (Dok. 16, dodis.ch/57028). Noch kritischer gegenüber dem schweizerischen Abseitsstehen äusserte sich Frankreichs Präsident Mitterrand und rief pointiert ins Bewusstsein, dass Banken allein als Basis für eine Zivilisation nicht ausreichten (Dok. 25, dodis.ch/58092), während EG-Chefunterhändler Krenzler gar von einem «Modernitätsdefizit» der Schweiz sprach, das durch einen schweizerischen Beitritt zur EG, respektive über den Wartsaal EWR «korrigiert» werden könnte (Dok. 27, dodis.ch/58039). Erst unmittelbar vor der Tagung der EG- und EFTA-Minister in Luxemburg, an welcher gemäss schweizerischer Seite «der Durchbruch erzwungen oder aber das Scheitern der Verhandlungen festgestellt werden» sollte (Dok. 44, dodis.ch/58388), fasste der Bundesrat seinen Grundsatzentscheid. Die Bundesräte Felber und Delamuraz akzeptierten in der Nacht auf den 22. Oktober 1991 die Verhandlungsergebnisse über den EWR-Vertrag und erklärten den EG-Beitritt der Schweiz zum strategischen Ziel. Doch: «Die Abstimmung über den EWR-Vertrag ist noch nicht gewonnen», antizipierte die Aussenpolitische Kommission des Ständerats im November nüchtern: «Wir müssen noch eine riesige Arbeit leisten, wenn das Volk diesen Vertrag annehmen soll.» (Dok. 56, dodis.ch/58525).  

Dramatische Entwicklungen in Osteuropa

Ungebremst dynamisch zeigten sich 1991 auch die Entwicklungen im Osten des Kontinents. Unter der «Maxime der solidarischen Mitverantwortung» verabschiedete der Bundesrat einen neuen Osthilfe-Kredit über 800 Mio. CHF. Neu sollten auch Albanien, Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien und die UdSSR von der Schweizer Finanzhilfe profitieren (Dok. 35, dodis.ch/57522). Die Sowjetunion sollte es aber Ende 1991 gar nicht mehr geben: Mit der Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) im Dezember hörte die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken auf zu existieren. Die in Anerkennungsfragen grundsätzlich zurückhaltende Schweiz gehörte bemerkenswerterweise zu den ersten Ländern, welche die Anerkennung der sowjetischen Nachfolgerepubliken verkündeten (Dok. 61, dodis.ch/57514). Die dramatischen Entwicklungen in Jugoslawien wirkten sich in der Schweiz unter anderem auf den Umgang mit der bedeutenden jugoslawischen Migrationsbevölkerung aus. Die Schweiz bemühte sich im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), aber auch mit unilateralen Vermittlungsinitiativen zur Deeskalation auf dem Balkan beizutragen (Dok. 50, dodis.ch/58114).  

«Gute Dienste» in einer neuen Weltordnung

Auch in anderen Weltgegenden versuchte sich die Schweiz beschwichtigend einzubringen. Als sich kurz vor Ausbruch des Golfkriegs im Januar die Aussenminister der USA und des Irak noch einmal zu Gesprächen in Genf trafen, offerierte der Bundesrat zum wiederholten Mal «Gute Dienste» und Unterstützung im Vermittlungsprozess (Dok. 2, dodis.ch/57332). Im Libanonkonflikt setzte sich die Schweizer Diplomatie für die Befreiung von Geiseln und Gefangenen ein (Dok. 33, dodis.ch/58395) und in Afghanistan versuchte sie durch die Schaffung eines neuen Gesprächsrahmens zu einer politischen Lösung der verfahrenen Situation beizutragen (Dok. 29, dodis.ch/57737). «Wie aktiv sich die schweizerische Aussenpolitik 1991 an Seite der Vereinten Nationen, aber durchaus mit eigenen Ambitionen, an der Beilegung oder Verhinderung von Konflikten in ganz unterschiedlichen Weltgegenden beteiligte, ist beachtenswert», sagt Dodis-Direktor Zala. Die Suche der Schweiz nach ihrem Platz in der neuen Weltordnung ging mit einer wachsenden Partizipation in multilateralen Gremien einher. So genehmigte das Parlament in der Herbstsession den Beitritt der Schweiz zu den Institutionen von Bretton Woods (Dok. 40, dodis.ch/58258).  

Wirtschaftsbeziehungen und Entwicklungshilfe

Mit Reisen in und Besuchen aus wirtschaftlich dynamischen Regionen ausserhalb von Europa sollte vermieden werden, dass sich die Schweiz zu einseitig auf die europäische Integration fokussierte. Bei Bundesrat Delamuraz’ Visite in Südkorea und Singapur standen ökonomische Themen genauso im Zentrum (Dok. 10, dodis.ch/57647), wie bei Bundesrat Felbers Reise nach Indien (Dok. 47, dodis.ch/57398), Staatssekretär Jacobis Besuch in Beijing (Dok. 21, dodis.ch/57590) oder dem Empfang des argentinischen Aussenministers Di Tella in Bern (Dok. 12, dodis.ch/58462). Ein neues Leitbild der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe legte die Basis für den Dialog mit den Partnern in den Entwicklungsländern (Dok. 28, dodis.ch/58718). Ausgehend von einer Petition der Hilfswerke fand die Entwicklungszusammenarbeit ausserdem prominenten Eingang in die 700-Jahrfeier der Eidgenossenschaft. Mit symbolträchtigen 700 Mio. CHF wollte der Bundesrat einerseits Entschuldungsmassnahmen zugunsten ärmerer Entwicklungsländer finanzieren und andererseits einen Beitrag zu Umweltprogrammen und -projekten von globaler Bedeutung leisten (Dok. 59, dodis.ch/57999). 

Jugendsession fordert eine «solidarische Schweiz»

Eine solidarische Schweiz forderten schliesslich auch die Teilnehmenden der ersten eidgenössischen Jugendsession, die im Rahmen der 700-Jahrfeier stattfand. «Holzschnittartig entwarfen die Jugendlichen ein aussenpolitisches Aktionsprogramm, das den Zeitgeist der Öffnung und des Aufbruchs atmete», führt Dodis-Direktor Zala aus. Für die gegenwärtige und zukünftige schweizerische Aussenpolitik forderten sie von der Schweiz eine weltweite Vorreiterrolle und rasches Handeln, denn: «Es ist uns nicht egal, was in den anderen Ländern dieser Welt passiert» (Dok. 43, dodis.ch/58000).

01. 01. 2022