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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1993, doc. 25
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E1100-02#2004/521#582* | |
Dossier title | Visite officielle en Israel d'une délégation de l'Assemblée fédérale suisse présidée par M. Paul Schmidhalter, Président du Conseil National (2-6 aout 1993) (1993–1994) | |
File reference archive | 7 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#6841* | |
Dossier title | Allgemeines (1988–1993) | |
File reference archive | C.41.111.0 • Additional component: Israel |
dodis.ch/65375Gespräche des Direktors der Politischen Direktion des EDA, Staatssekretär Kellenberger, in Jerusalem, Ramallah und Amman1
Offizieller Arbeitsbesuch von Staatssekretär Jakob Kellenberger (KE) in Israel und Jordanien, 15.–20. Mai 1993
In Israel führte K[ellenberger] Gespräche mit Vizeaussenminister Y. Beilin, dem Generaldirektor des AM U. Savir, dem Direktor der Holocaust-Gedenkstätte «Yad Vashem»,2 einem Vertreter des militärischen Nachrichtendienstes,3 Wirtschafts- und Sozialminister S. Shetreet, dem Koordinator für den Libanon U. Lubrani,4 dem stellvertretenden Koordinator für die besetzten Gebiete General F. Zach sowie dem Generaldirektor des Immigrations- und Absorbationsdepartementes der Jewish Agency, A. Mantver.
Die bilateralen Beziehungen kamen in erster Linie im Gespräch mit Vizeaussenminister Y. Beilin (B.) zur Sprache.5 Die israelische Seite gab erneut ihrem Wunsch nach gemeinsamer Entwicklungshilfe in Afrika oder den südlichen GUS-Staaten sowie nach Schaffung eines gemeinsamen Fonds für Forschung und Entwicklung Ausdruck6 und wünschte die schweizerische diplomatische Unterstützung für eine engere Zusammenarbeit Israels mit EUREKA und COST (Frühinformation analog osteuropäische Staaten). Für Israel sehr wichtig ist der Wunsch Yad Vashems nach Einblick in die Schweizer Archive des Zweiten Weltkrieges betreffend abgewiesene Juden.7 Daneben wurde israelischerseits die wenig ausgeglichene Handelsbilanz bedauert («Wir wollen nicht nur Gemüse exportieren!»).8 Nach B[eilin] und seinen Mitarbeitern ist es viel einfacher, technologische Spitzenprodukte nach den USA als nach Europa zu exportieren. Auf die israelischen Begehren reagierte K[ellenberger] wie folgt: Gemeinsame Entwicklungsprojekte können punktuell und im Rahmen der bestehenden DEH-Programme, z. B. in Afrika diskutiert werden. Für einen gemeinsamen R&D-Fonds fehlt unsererseits die finanzielle und institutionelle Grundlage. Die Möglichkeiten eines verbesserten Informationsaustausches im Forschungsbereich sollen aber zwischen den Verantwortlichen diskutiert werden. Betreffend EUREKA bat K[ellenberger] um eine schriftliche Anfrage, welche wohlwollend geprüft würde.9 Was den Archiveinblick Yad Vashem’s betrifft, erwähnte K[ellenberger] technische und Datenschutzprobleme, betonte aber den schweizerischen Willen, eine Lösung zu finden. Betreffend die unausgeglichene Handelsbilanz verwies K[ellenberger] auf das Freihandelsabkommen, welches Diskriminierungen ausschliessen sollte.10 K[ellenberger] gab im weiteren der schweizerischen Besorgnis über die israelische Tendenz zur Abgabe von Zwangslizenzen im Pharmabereich Ausdruck.11 Die israelische Seite, so B[eilin], ist sich dieses Problemes bewusst und arbeitet an einer Verbesserung der Situation. K[ellenberger] betonte im übrigen den Wunsch der schweizerischen Regierung, dass Israel an der für August 1993 geplanten internationalen Konferenz zum Schutz der Kriegsopfer in Genf teilnehme.12 Ausserhalb der formellen Sitzung liess B[eilin] K[ellenberger] wissen, der politische Entscheid gegen eine Teilnahme an der Konferenz im Falle einer Teilnahme der PLO als Beobachter sei praktisch gefallen.13
Was die Friedensverhandlungen anbelangt, erläuterte B[eilin], dass die Rabin-Regierung die besetzten Gebiete als Bürde empfindet und sich ihrer entledigen möchte (Ausnahme: Grossjerusalem). Innenpolitisch muss aber eine derartige Kehrtwendung behutsam «verkauft» werden. Das grösste und kaum lösbare Problem wird Jerusalem sein. Nach B[eilin] soll die neue Regierung der israelischen Inselmentalität ein Ende setzen und sich weltweit stärker engagieren. Deshalb wurden auch Leute ins ehemalige Jugoslawien geschickt.
Während die Gespräche mit Syrien sich gegenwärtig in «byzantinischen» Diskussionen über die Definition des «totalen Rückzugs» und des «totalen Friedens» sowie deren Interdependenz erschöpfen und diejenigen mit den Libanesen deshalb ebenfalls stagnieren, entwickeln sich die Verhandlungen mit den Jordaniern gemäss B[eilin] sehr erfreulich, sind aber letztlich von Erfolg oder Misserfolg derjenigen mit den Palästinensern abhängig. Die israelischen Gesprächspartner beklagen sich über die Inkohärenz und mangelnde Entschlusskraft der palästinensischen Delegation. Diese hätte in der neunten Runde in Washington eine wichtige Chance verpasst.14
Die multilateralen Verhandlungen werden von israelischer Seite als äusserst wichtig angesehen.15 Nach B[eilin] sollten aber keine unmöglichen Projekte entworfen werden wie ein Kanal vom Toten zum Roten Meer. Für ihn gibt es weniger ein Wasser- als ein Geldproblem. Über die Wünschbarkeit und Möglichkeiten eines schweizerischen Beitrags war wenig Konkretes zu vernehmen. Ein Fragezeichen setzte B[eilin] hinter die komplizierte, zeitraubende Struktur des multilateralen Dialogs. So fragte er sich, ob Wasser, Umwelt und Wirtschaft nicht in einer Gruppe behandelt werden könnten.
Was die besetzten Gebiete anbelangt, so gab K[ellenberger] der Bedeutung Ausdruck, welche die Schweiz einer Beachtung der Vierten Genfer Konvention beimisst.16 Die Wahrung der israelischen Sicherheitsbedürfnisse und die Beachtung der Konvention seien durchaus miteinander vereinbar. B[eilin] – welcher persönlich in der Knesset einen Vorstoss zur Anerkennung ihrer Anwendbarkeit gemacht hat – erläuterte die Position der israelischen Regierung, wonach die Souveränitätsfrage dieser Gebiete offen und folglich die Konvention de jure nicht anwendbar sei. Er gab im weiteren zu verstehen, dass die Priorität der Regierung Rabin dahin gehe, sich der besetzten Gebiete zu entledigen. Für die Regierung Rabin sind diese eine Bürde, für die ein zu hoher politischer und moralischer Preis bezahlt wurde. Für den Likud bleiben sie «a main asset».
Die Besichtigung eines israelischen Auffanglagers für Neueinwanderer machte deutlich, mit welcher Dynamik die israelische Gesellschaft diese Frage angeht.
In Begleitung eines UNRWA-Vertreters17 besuchte K[ellenberger] drei Flüchtlingslager im Raum Jerusalem/Ramallah, wo ihm unter anderem mehrere von der israelischen Armee als Strafmassnahme zerstörte oder versiegelte Häuser gezeigt wurden. Der Besuch erlaubte ebenfalls, die starke Ausdehnung der israelischen Siedlungen – auch seit der Machtübernahme Rabins – zu sehen. Ein Mittagessen mit palästinensischen Geschäftsleuten gab letzteren Gelegenheit, die administrativen Schikanen aufzuzeigen, welchen die palästinensische Wirtschaft ausgesetzt sei. Die plötzliche Absperrung der besetzten Gebiete nach einer fünfundzwanzigjährigen Politik der Unterordnung unter die Bedürfnisse der israelischen Wirtschaft habe zu einer wirtschaftlichen und humanitären Katastrophe geführt. Der Gasastreifen ist von der Westbank abgetrennt und letztere wegen Grossjerusalem faktisch zweigeteilt.18
K[ellenberger] traf im weiteren mit Vertretern der palästinensischen Verhandlungsdelegation in Washington zusammen («guidance committee»),19 welche die soeben zu Ende gegangene neunte Runde als Fehlschlag bezeichneten und Israel die Schuld zusprachen.20 Die Palästinenser seien zu sehr ungünstigen Bedingungen in den Friedensprozess eingestiegen in der Hoffnung, dass jener eine Eigendynamik entwickeln und die internationale Staatenwelt auf Israel Druck ausüben würde. Keines sei bisher der Fall gewesen. Die Menschenrechtslage habe sich seit dem Regierungswechsel in Israel sogar verschlechtert, und die Massendeportation im Dezember 199221 sowie die nunmehr siebenwöchige Absperrung der besetzten Gebiete liessen an der israelischen Ernsthaftigkeit zweifeln. Die Durchsetzbarkeit der Resolution 799 (Deportierte) sei ein Testfall für diejenige der Resolutionen 242, 338 und 425 gewesen.22 Israel benütze die Menschenrechtsproblematik als Verhandlungskarte, was nicht akzeptabel sei. Zweck der gegenwärtigen Absperrung der besetzten Gebiete sei es, die Palästinenser in die Knie zu zwingen. In den Verhandlungen könnten die Palästinenser nur eine Lösung akzeptieren, welche zwischen der Übergangsphase und der definitiven Lösung einen verbindlichen Zusammenhang herstelle, die territoriale Ausdehnung des palästinensischen Gebietes definiere (Jerusalem, jüdische Siedlungen) und die Kompetenzen der Autonomiebehörde sowie die israelischen Sicherheitsbedürfnisse klar festlege. Ohne Klärung dieser Fragen würde Israel während der Übergangsphase auf dem Terrain neue «faits accomplis» schaffen, und die Palästinenser würden bei den Verhandlungen über eine endgültige Lösung schlussendlich mit leeren Händen einer neugewählten Likud-Regierung gegenübersitzen.
In Jordanien führte K[ellenberger] Gespräche mit Kronprinz Hassan, Premierminister Ben Shaker, Aussenminister Abu Jaber, Finanzminister Jardaneh, Planungsminister Fariz, dem Generaldirektor des AM Hamami, dem jordanischen Delegationsleiter in Washington Al-Majali sowie dem Direktor für palästinensische Angelegenheiten im AM Rsheid. Was die bilateralen Beziehungen anbelangt,24 so kam die jordanische Dankbarkeit für die überproportionale schweizerische Unterstützungsleistung von 40 Mio US $ nach dem Golfkrieg deutlich zum Ausdruck.25 K[ellenberger] gab die schweizerische Absicht einer Entschuldungsaktion für Jordanien (mit Gegenwertsfonds) bekannt.26 Die jordanische Seite wünscht, den schweizerischen Tourismus nach Jordanien anzukurbeln und die jordanischen Exporte in die Schweiz zu steigern. Jordanien hat sich seit 1989 bisher sehr erfolgreich einer strengen IWF-Austeritätskur unterzogen. Zur Sprache kam ebenfalls der Demokratisierungsprozess in Jordanien, welchen K[ellenberger] sehr begrüsste.
Was den Friedensprozess anbelangt, so zeigten sich die jordanischen Gesprächspartner optimistischer als ihre palästinensischen Kollegen. Es gäbe deutliche Signale aus Israel, welche einen Umdenkungsprozess andeuteten. Dieser müsse aber innenpolitisch verkauft werden und brauche folglich Zeit. Wenn die Taba-Verhandlungen mit Ägypten («just a stupid building») fünf Jahre gebraucht hätten, könne nicht erwartet werden, dass die unendlich komplexeren Fragen, die jetzt zur Diskussion stünden, schnell gelöst würden.27 Die Zeit dränge aber angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen und menschenrechtlichen Lage in den besetzten Gebieten und insbesondere im Gasastreifen. Die israelische Politik der Instrumentalisierung der Menschenrechtsfrage als Verhandlungskarte sei schlicht inakzeptabel und unmenschlich. Die israelischen Klagen über die Inkohärenz der palästinensischen Delegation seien insofern unglaubwürdig, als dies ein von Israel geschaffenes Problem sei, weil die PLO nicht als Verhandlungspartner akzeptiert werde.28 (Arabisches Sprichwort: «Der Mörder ging an das Begräbnis seines Opfers und fragte, warum letzteres gestorben sei»). Die bilateralen Gespräche zwischen Jordanien und Israel, welche in erster Linie die Problemkreise Wasser, Flüchtlinge und Grenzziehung betreffen, kämen gut voran, müssten aber «gebremst» werden, solange die Palästinenser von Israel keine substantiellen Zugeständnisse erhielten. Die multilateralen Gespräche erachtet die jordanische Seite als wichtig, zurzeit aber nicht prioritär und in erster Linie im Interesse Israels.
Die israelische Haltung wird von den einzelnen Gesprächspartnern im übrigen ziemlich unterschiedlich bewertet: tiefes Misstrauen beim Planungs- und Finanzminister, relative Zuversicht in das schlussendliche Gelingen des Friedensprozesses beim Aussenminister und dem Chefunterhändler.
Der Besuch in Israel und Jordanien verfolgte zwei Hauptziele:
1. Erörterung bilateraler Fragen und Fragen gemeinsamen Interesses ausserhalb des bilateralen Rahmens (z. B. Zusammenarbeit mit Israel im Rahmen von EUREKA, Anwendung der vierten Genfer Konvention in den besetzten Gebieten)
2. sich im Gespräch mit drei wichtigen Akteuren (Israeli, Jordanier, Palästinenser) der Verhandlungen ein Bild über Stand und Perspektiven des Nahostfriedensprozesses zu machen. Einblick in die Situation der Palästinenser in den besetzten Gebieten ermöglichten Besuche in drei Flüchtlingslagern (Jalazone, Amari und Shu’fal) in der Westbank.
Eindrücke bezüglich 1.
Trotz sehr unterschiedlicher Ausgangslage sind Gemeinsamkeiten in den Haltungen Israels und Jordaniens festzustellen:
– Interesse an der Annäherung an europäische Zusammenarbeitsstrukturen (Israel: EUREKA/Jordanien EFTA)
– negative Beurteilung der iranischen Rolle in der Region
– ein wohl echtes Interesse an einer friedlichen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit
– Wille, schweizerische Investitionen anzuziehen
– Wille, das Handelsbilanzdefizit durch Förderung der Ausfuhren zu vermindern
Goodwill, den die Schweiz in Jordanien geniesst, ist ausserordentlich. Er ist in hohem Masse, wenn auch nicht ausschliesslich, auf die Unterstützung Jordaniens in der Bewältigung der Folge des Golfkriegs zurückzuführen. Die Bereitschaft der Schweiz, im Herbst über einen Schuldenerlass mit Gegenwertsfonds zu verhandeln, wurde ebenfalls sehr günstig aufgenommen. Diese positive Grundhaltung kombiniert mit der drastischen Verbesserung wichtiger wirtschaftlicher Eckwerte (Reduktion des öffentlichen Haushaltsdefizits von 25% auf 6,4% in 4 Jahren, Inflationserwartung von unter 4% für 1993, intakte starke Wachstumsperspektiven) machen ein verstärktes Engagement der schweizerischen Wirtschaft prüfenswert. Politisch wird die Schweiz vor allem als moralische Autorität in Sachen Menschenrechten wahrgenommen, die auf deren Einhaltung in den besetzten Gebieten pochen sollte.
Auch in Israel ist eine positive Grundhaltung festzustellen. Gleichzeitig spürt man die gemischten Gefühle gegenüber den «Europäern» und den Willen, politische heikle Fragen (Menschenrechte) am liebsten selbst oder, wenn schon, mit den Amerikanern an die Hand zu nehmen. Von den Europäern wird politisch offensichtlich wenig erwartet. Misstrauen und das Gefühl, nicht verstanden zu werden, schwingen mit. Die Europäer erscheinen vor allem als interessante Wirtschaftspartner. Auf die Erklärung der eigenen Standpunkte wird viel Energie verwendet. Der Wille, den Gegenüber von der Richtigkeit der eigenen Haltung zu überzeugen, ist eindrücklich. Die Dynamik der Gesellschaft und der enorme Einsatz für die Aufnahme der neuen Immigranten (vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion und Äthiopien) ist eindrücklich. Die Qualität der Gespräche ist gut, die Behandlung zuvorkommend, die Stimmung selten entspannt.
Der Wille, die Friedensverhandlungen zu einem Erfolg zu führen, war im Gespräch mit allen drei Partnern spürbar. Auffallend war der wiederholte Hinweis auf jordanischer Seite, dass ein Scheitern der Friedensverhandlungen katastrophale Folgen haben könnte, weil dieses Scheitern die extremistisch-fundamentalistischen Kräfte stärken würde. Diese, im Unterschied zu den arabischen Regierungen, wollten den Frieden nicht.
Enorme Unterschiede ergeben sich in der Beurteilung der einzelnen Akteure über ihren eigenen Beitrag zum Friedensprozess. Vergleichsweise gelassen wirken die Jordanier. Alle Gesprächspartner in Amman stellten in den Vordergrund:
– die Palästinenser in den besetzten Gebieten sind gleichwertige Menschen wie die Israeli und müssen als solche behandelt werden. Israelis haben dies noch nicht verstanden.
– der multilaterale Dialog darf nicht ablenken von den wichtigen Fragen der bilateralen Verhandlungen.
– es geht (das Thema Wasser ist das meist zitierte Beispiel)30 zuerst um Rechte, dann um Kooperationen.
Insgesamt überwiegt auf jordanischer Seite eine versöhnliche Stimmung, das Interesse an einer künftigen freundschaftlichen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und das Gefühl, dass Fortschritte (auch im Sprachgebrauch) erzielt wurden, aber noch viel Geduld erforderlich ist. Hauptkritik an der israelischen Haltung: Missachtung der Menschenrechte in den besetzten Gebieten.
Im übrigen spürt man, dass die bilateralen Verhandlungen Israel–Jordanien (die einzigen, die wirklich begonnen haben, in den anderen wird noch immer um einzelne Agendapunkte gerungen!) weit fortgeschritten sind.
Interessant der Wille Ammans, dass Israeli und Palästinenser direkt über die Interimslösung und voraussichtlich endgültige Lösung verhandeln, bevor der Dialog Jordanier–Palästinenser über eine mögliche Föderation aufgenommen wird.
Israel ist der festen Überzeugung, dass es im Friedensprozess grosse Zugeständnisse gemacht und seinen Friedenswillen bewiesen hat: Selbstverwaltung in der Interimsperiode, Beginn der Verhandlungen über die Schlusslösung im 3. Jahr, wo alle Optionen (also auch die eines unabhängigen palästinensischen Staates) offen sein sollen. Die legislativen Befugnisse und der Status von Jerusalem gehören für die Israelis in die 2. Phase. Die von Palästinensern und Jordaniern hart kritisierte Abriegelung der besetzten Gebiete wird mindestens von einem Teil der Gesprächspartner (z. B. General Zach) als vorübergehend bezeichnet. Der palästinensischen Seite wird Maximalismus und uneinheitliche Verhandlungsführung vorgeworfen. Gerne fällt auch der Hinweis, die arabischen Staaten seien nicht der Palästinenser verlässlichste Freunde.
Dem Hinweis auf die negativ wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Schliessung der besetzten Gebiete wird begegnet mit Beschlüssen über verschiedene Massnahmen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze (200 Mio. Shekel Zusatzbudget, teilweise Steuererleichterungen, vereinfachte Verfahren für neue Industrieprojekte, Einrichtung von 8 Industrieparks) in diesen Gebieten.
Dass die Friedensverhandlungen gut oder schlecht verlaufen können, wird nicht verhehlt. Gut tönt es mit Bezug auf Jordanien, misstrauisch mit Bezug auf Syrien, der Libanon wird praktisch als Vasall Syriens dargestellt.
Betont wird immer wieder, dass die Regierung Rabin, im Unterschied zur Regierung Shamir, wirklich einen Erfolg der Friedensverhandlungen will.
Gleichzeitig wird an der knappen Mehrheit in der Knesset und den Inschriften entlang der Strasse von Tel Aviv nach Jerusalem («keine Rückgabe der Golanhöhen») deutlich, dass die Regierung Rabin beschränkten Konzessionsspielraum besitzt. Das harte Vorgehen in den besetzten Gebieten (Palästinenser wie Jordanier finden, die Repression habe unter Rabin zugenommen) wird u. a. mit dem Willen begründet, innenpolitisch in Israel den Friedensprozess zu retten. Die heikle innenpolitische Lage erklärt auch die vorsichtigen Wortwahlen, die weiten Interpretationsspielraum lassen: «retire on Golan» gegen «full peace» und nicht «retire from Golan». Die Syrer beziehen ihrerseits das Ziel des «full peace» auf die ganze Region und nicht das Verhältnis Syrien–Israel. Viele offene Probleme werden mit mehrdeutigen Formeln überdeckt, hüben und drüben. Über kurz oder lang wird eine Seite mit der Erklärung beginnen müssen, was sie unter «Rückzug» (Israel), resp. unter «Friede» (Syrien) versteht.
Die palästinensischen Delegierten gaben sich im Gespräch frustriert und unzufrieden. Die Verhandlungen seien in einer Sackgasse. In fast allen zentralen Fragen (Jerusalem, Vernetzung von Interims- und Schlussphase, Wahlmodalitäten in den besetzten Gebieten, Auslegung Resolution 242) lägen die Standpunkte weit auseinander. Die Abriegelung der besetzten Gebiete und das Gefühl, Israel hätte aus diesen Gebieten viel mehr herausgeholt (800 Mio $) als in diese investiert (was Israeli bestreiten), haben bittere Kommentare zur Folge. Geschäftsleute kritisieren zudem die willkürliche Steuerveranlagungspolitik der sogenannten israelischen Zivilverwaltung in den besetzten Gebeiten. Gerade vor dem Hintergrund der gemachten Vorwürfe ist es allerdings nicht einfach zu verstehen, weshalb das israelische Angebot einer sehr weitgehenden Selbstverwaltung in der Interimsphase so gering geschätzt wird. Die Haltung ist wohl nur mit einem tiefen Misstrauen mit Bezug auf die tatsächlichen Absichten der israelischen Regierung über die definitive Lösung erklärbar. Palästinenser wie Jordanier wünschen sich ein stärkeres Engagement der Europäer, weil die USA nicht als neutraler Sponsor (Russland wird als Co-Sponsor praktisch abgeschrieben), sondern Freund Israels wahrgenommen werden.
Das Beziehungsfeld nahöstlicher Friedensprozess–USA–Europa (lies EG), verdient ein paar besondere Bemerkungen: die Feststellung, dass Russland keine Rolle mehr spielt im Prozess, schein Allgemeingut. Der Wunsch nach verstärktem europäischen Engagement der Araber ist auch nicht neu. Während die Jordanier kaum daran zweifeln, dass die Mitwirkung am Friedensprozess eine aussenpolitische US-Priorität bleiben wird (Öl), sind sich dessen nicht alle israelischen Gesprächspartner sicher. Weitgehende Übereinstimmung herrscht in der Meinung, dass es vor allem vom Ausmass des US-Einsatzes im nahöstlichen Friedensprozess abhängt, ob baldige Lösungen gefunden werden können. Der Befürchtung mangelnder Neutralität auf arabischer Seite steht die Sorge um das amerikanische «arm twisting»-Potential auf israelischer Seite gegenüber.
Der Gefahren eines Scheitern des Friedensprozesses (Stärkung der extremistischen Kräfte) scheint man sich auf allen Seiten bewusst. Dies scheint zwei Konsequenzen zu haben: die Kräfte zugunsten einer Fortsetzung der Friedensverhandlugen sind stark, die Vorbereitungen für Schuldzuweisungen im Falle eines Unter- oder gar Abbruches werden aber auch nicht vernachlässigt. Die Beachtung der Menschenrechte und die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage (Lockerung und Aufhebung der Abriegelung) in den besetzten Gebieten und solide Garantien für die israelischen Sicherheitsbedürfnisse erscheinen als die dringendsten Massnahmen, um den Friedensprozess nicht zu gefährden. Im Menschenrechtsbereich erwarten Jordanier wie Palästinenser auch, dass die Schweiz Stellung bezieht.
Ob die im multilateralen Teil der Friedensverhandlungen bereits diskutierten Projekte je zum Tragen kommen, ist eine offene Frage. Die Antwort kommt von den bilateralen Verhandlungen. Gelingt in den letztgenannten jedoch der Durchbruch, könnten sehr bald umfassende grenzüberschreitende Projekte in Angriff genommen werden. Die Chance, dann dabei zu sein, muss sich die Schweiz durch eine angemessene Mitwirkung in den multilateralen Arbeitsgruppen mindestens wahren.31
- 1
- CH-BAR#E1100-02#2004/521#582* (7). Diese Notiz wurde höchstwahrscheinlich vom für den Nahen Osten zuständigen Mitarbeiter der Politischen Abteilung II des EDA, Martin Aeschbacher, verfasst und höchstwahrscheinlich als Punkt 2 im Wochentelex 21/93 vom 24. Mai 1993 versendet, vgl. dodis.ch/64622. Martin Aeschbacher gehörte zusammen mit dem schweizerischen Botschafter in Tel Aviv, Jean Olivier Quinche, und Botschaftsrat Jean-Daniel Biéler zur Delegation, welche den Direktor der Politischen Direktion des EDA, Staatssekretär Jakob Kellenberger, bei allen Gesprächen begleitete. Der Praktikant im diplomatischen Dienst, Jean-Pierre Reymond, nahm teilweise an den Gesprächen teil und begleitete ebenfalls eine Delegation des Bundesamts für Aussenwirtschaft (BAWI) des EVD, des EVED sowie einiger Wirtschaftsverbände, die gleichzeitig wie Staatssekretär Kellenberger in Israel eine Erkundungsmission für Aufträge zum Ausbau der Infrastruktur durchführte, vgl. dodis.ch/64149 sowie das Dossier CH-BAR#E2200.170#2003/176#13* (331.0). Für die Stichwortprotokolle der Unterredungen vgl. dodis.ch/65337.↩
- 3
- Nicht identifiziert.↩
- 4
- Für das Gespräch mit dem israelischen Koordinator für den Libanon, Uri Lubrani, vgl. dodis.ch/66287.↩
- 5
- Für eine Übersicht über die bilateralen Beziehungen vgl. dodis.ch/66151.↩
- 6
- Diese Anliegen wurden vom israelischen Aussenminister Shimon Peres anlässlich eines Besuchs in Bern beim Vorsteher des EDA, Bundesrat René Felber, am 28. Januar 1993 geäussert, vgl. dodis.ch/64308.↩
- 7
- Vgl. dazu die Zusammenstellung dodis.ch/C2526.↩
- 8
- Für eine Übersicht über die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen vgl. dodis.ch/62084.↩
- 9
- Diese Anfrage wurde anlässlich einer Vorsprache des israelischen Botschafters in Bern, Raphael Gvir, bei Staatssekretär Kellenberger am 8. Juni 1993 überreicht, vgl. dodis.ch/66153.↩
- 10
- Für das Freihandelsabkommen zwischen den EFTA-Staaten und Israel vgl. das BR-Prot. Nr. 1763 vom 16. September 1992, dodis.ch/60904.↩
- 11
- Vgl. hierzu auch die Notiz des Bundesamts für geistiges Eigentum des EJPD vom 30. Oktober 1991, dodis.ch/66272.↩
- 12
- Zur Konferenz vgl. DDS 1993, Dok. 36, dodis.ch/64863, sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C2427.↩
- 13
- An der Konferenz nahmen schliesslich sowohl eine Beobachterdelegation der PLO als auch eine israelische Delegation teil. Zur Teilnahmeproblematik vgl. dodis.ch/65902.↩
- 14
- Für die neunte Nahostfriedensrunde vgl. auch den Politischen Bericht Nr. 31 des schweizerischen Botschafters in Washington, Carlo Jagmetti, vom 19. Mai 1993, dodis.ch/66568.↩
- 15
- Für die multilateralen Verhandlungen, die in Moskau im Januar 1992 gestartet wurden, vgl. die thematische Zusammenstellung Friedensprozess Naher Osten (1991–1995), dodis.ch/T2274.↩
- 16
- Zum Zusammenhang der Vierten Genfer Konvention mit der Menschenrechtslage in den besetzten Gebieten, vgl. dodis.ch/66154.↩
- 17
- Gemäss dem provisorischen Programm vom 12. Mai 1993 traf Staatssekretär Kellenberger am 16. Mai auf die Direktorin für Operationelles des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) in der Westbank, Gun Britt Andersson, vgl. CH-BAR#E2010A#2001/161#1778* (B.15.22.25).↩
- 18
- Vgl. dazu auch die Notiz der schweizerischen Botschaft in Tel Aviv vom 5. Mai 1993, dodis.ch/66157.↩
- 19
- Die Vertreter der Verhandlungsdelegation wurden von ihrem Vorsteher Faisal Husseini angeführt. Für die gesamte Delegationsliste vgl. das Fernschreiben der schweizerischen Botschaft in Tel Aviv vom 12. Mai 1993, CH-BAR#E2010A#2001/161#1778* (B.15.22.25).↩
- 20
- Vgl. Anm. 14.↩
- 21
- Für die schweizerische Beurteilung dazu vgl. dodis.ch/65284.↩
- 22
- Für die Resolutionen Nr. 242, Nr. 338, Nr. 425 und Nr. 799 des UNO-Sicherheitsrats vgl. UN doc. S/RES/242(1967), UN doc. S/RES/338(1973), UN doc. S/RES/425(1978) sowie UN doc. S/RES/799(1992).↩
- 23
- Für eine Analyse des Jordanien-Besuchs durch das BAWI vgl. dodis.ch/64307.↩
- 24
- Für eine Übersicht über die bilateralen Beziehungen vgl. den Schlussbericht des schweizerischen Botschafters in Amman, Dino Sciolli, vom 5. April 1993, dodis.ch/64551.↩
- 25
- Vgl. DDS 1990, Dok. 60, dodis.ch/55703, sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C1781.↩
- 26
- Vgl. das BR-Prot. Nr. 1015 vom 26. Mai 1993, dodis.ch/64014.↩
- 27
- Für die Grenzstreitigkeiten zwischen Ägypten und Israel um Taba vgl. die Zusammenstellung dodis.ch/C2538.↩
- 28
- Israel anerkannte die PLO am 10. September 1993 als Partnerin im Friedensprozess. Zu den Folgen für die Schweiz vgl. das BR-Prot. Nr. 1685 vom 15. September 1993, dodis.ch/64028.↩
- 29
- Dieser Abschnitt folgt in der im Dossier CH-BAR#E1100-02#2004/521#582* (7) abgelegten Notiz unmittelbar auf den Teil zu den Gesprächen von Staatssekretär Kellenberger, weist aber ein unterschiedliches Schriftbild auf, vgl. das Faksimile dodis.ch/65375. Es nicht klar, ob er ebenfalls mit dem Wochentelex 21/93 versendet wurde oder ob er nachträglich erstellt wurde.↩
- 30
- Die Schweiz war 1993 Gastgeberin der Arbeitsgruppe Wasserressourcen im Rahmen des multilateralen Friedensprozesses für den Nahen Osten, vgl. die Zusammenstellung dodis.ch/C2297.↩
- 31
- Für einen Überblick über die Mitwirkung der Schweiz in den fünf Arbeitsgruppen des multilateralen Friedensprozesses Naher Osten vgl. dodis.ch/65343.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/65375 | is part of | http://dodis.ch/64622 |
http://dodis.ch/66153 | refers to | http://dodis.ch/65375 |
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Jordan (General) Palestine (General) Israel (General)