Besprechung mit dem sowjetischen Unterhändler Wicharew: Austausch von russischen Internierten gegen schweizerische Diplomaten. Der BR nimmt den sowjetischen Gegenvorschlag an.
Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 16, Dok. 51
volume linkZürich/Locarno/Genève 1997
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2001E#1000/1571#1309* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2001(E)1000/99 102 | |
Dossiertitel | Ausschreitungen russischer Internierter gegen Schweizerbürger. Austausch verurteilter Russen etc. gegen verhaftete Schweizerbürger in Russland (1945–1958) | |
Aktenzeichen Archiv | B.51.13.51.1.4.3 • Zusatzkomponente: Russland |
Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2801#1967/77#86* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2801(-)1967/77 3 | |
Dossiertitel | Sowjetunion (1944–1946) | |
Aktenzeichen Archiv | 05 |
dodis.ch/53
Interne Notiz des Politischen Departements1
NOTIZ ÜBER DIE LETZTE BESPRECHUNG MIT GENERALMAJOR WICHAREW VOR SEINER ABREISE NACH MOSKAU, VOM 28. 12. 1945, 15.15 UHR
Kurz vor 15 Uhr ruft Wicharew mich an mit der Bitte, ihn so schnell wie möglich aufzusuchen. Die Besprechung beginnt um 15.15 Uhr. Anwesend sind Oberstdivisionär Flückiger und Hptm. Schaerer.
Der General ist in ausgezeichneter Stimmung, sieht aber aus, als hätte er die Nacht vorher schwer gezecht. Er eröffnet die Sitzung mit einigen scherzhaften Bemerkungen: die schweizerische Regierung wolle nicht mehr, dass er bleibt, also müsse er vor Jahresende abreisen; ich hätte ihn in den letzten vier Wochen nicht mehr sehen wollen, also habe er die Initiative zu einer Besprechung ergreifen müssen usw.! Endlich habe er jetzt das langersehnte Telegramm aus Moskau erhalten, das Stellung nimmt zu unserem abschliessenden Schreiben vom 6. Dezember2 und insbesondere zu dem darin enthaltenen Austauschvorschlag. Die Antwort Moskaus übertreffe alle Erwartungen des Generals, sie stelle in der Tat die vorbehaltlose Annahme der schweizerischen Vorschläge dar. Der General habe nie die Hoffnung gehegt, dass Moskau so weit entgegenkommen werde. Am besten sei es wohl, wenn er den Wortlaut des Moskauer Telegramms vorlese.
Einleitend möchte er bemerken, dass die Verzögerung der telegraphischen Antwort durch die Konferenz der Aussenminister in Moskau bedingt war. Es gehe aus dem Telegramm einwandfrei hervor, dass Molotow persönlich sich mit der schweizerischen Frage befasst habe. Das Telegramm ist von Molotow visiert («einverstanden Molotow») und von seinem ersten Mitarbeiter Herrn Dekanosow unterschrieben. Es handelt sich also um das Wort der Sowjetregierung. Das Telegramm lautet:
«Die Sowjetregierung ist einverstanden, unverzüglich die schweizerischen diplomatischen und konsularischen Beamten, nämlich: die Herren Feller und Meier der ehemaligen Schweizerischen Gesandtschaft in Budapest3 und den Konsularagenten Boris Bryner aus Kharbin4 der Schweiz zurückzugeben sowie das Personal des ehemaligen Schweizerischen Konsulats in Elbing5, für welches bereits der Repatriierungsbefehl erteilt worden ist, heimzuschaffen, wenn die Schweiz die in ihrem Vorschlag namentlich erwähnten sechs russischen Internierten, welche für gemeine Verbrechen Freiheitsstrafen in der Schweiz absitzen6, heimschafft sowie Nowikoff und Kotschetoff7 unverzüglich Generalmajor Wicharew ausliefert.»
Ich bestätige die schweizerische Bereitschaft, die sechs erwähnten Internierten und Kotschetoff gegen die ebenfalls erwähnten schweizerischen Beamten auszutauschen, erkläre aber, dass die Auslieferung Nowikoffs aus den von uns wiederholt dargelegten Gründen nicht möglich erscheint. Die Antwort Moskaus sei nach meinem Dafürhalten keineswegs eine Annahme der schweizerischen Vorschläge, sondern stelle einen Versuch dar, gestützt auf den schweizerischen Vorschlag, den Fall Nowikoff so geregelt zu sehen, wie es Moskau stets wollte. Nachdem der Bundesrat den Fall Nowikoff schon vor zwei Monaten behandelt und beschlossen hatte, ihn nicht ausliefern zu können, so bedarf es für einen neuen Entscheid einer nochmaligen Behandlung durch den Bundesrat. Wann wolle denn der General die Antwort haben?
Der General antwortet, er verreise am 29. Dezember ab Dübendorf um 11 Uhr und werde heute noch um 17 Uhr durch Herrn Bundesrat Petitpierre empfangen werden. Damit Nowikoff und Kotschetoff mit ihm fliegen können, sollte er die Antwort anlässlich der Audienz bei Herrn Bundesrat Petitpierre bekommen können.
Abgesehen vom grundsätzlichen Bedenken, antworte ich, glaube ich nicht, dass die Sache zeitlich durchzuführen sein wird. Die nächste Bundesratssitzung finde erst nach Neujahr statt, und nur der Gesamtbundesrat könne hier eine Entscheidung treffen.
Der General insistiert. Er macht darauf aufmerksam, dass er für seinen persönlichen Gebrauch noch ein anderes Telegramm aus Moskau erhalten habe, in welchem es heisst, wenn die schweizerische Regierung im Falle Nowikoff ihre grundsätzlichen Bedenken aufrechterhalten sollte, Feller und Meier nicht heimgeschafft werden würden. Ich protestierte energisch.
Inzwischen hat Oberstdivisionär Flückiger das Zimmer verlassen mit der Bemerkung, er müsse sich noch umziehen für die Audienz bei Herrn Bundesrat Petitpierre. Herr Schaerer greift hier in die Diskussion ein und erklärt, ihn gehe die Sache weiter nichts an, er glaube aber, dass die schweizerische Regierung vor einen schweren Entscheid gestellt werde, denn welchen Entschluss sie auch fassen werde, ist eine heftige Reaktion der öffentlichen Meinung unvermeidlich. Jedermann würde es verstehen, dass die schweizerische Regierung zur Rettung des Lebens ihrer eigenen Beamten im Auslande in einem an sich schlechten Falle einen asylsuchenden Russen preisgeben würde, kein Mensch würde es aber verstehen, wenn man aus grundsätzlichen Erwägungen das Leben von Schweizern aufs Spiel setzt. Der General bestätigt mit lebhaftem Kopfnicken die Bemerkung Schaerers.
Ich mache den General darauf aufmerksam, dass es nicht gerade sehr elegant sei, Nowikoff von uns zu erpressen, indem uns das Schicksal, das Feller und Meier erwartet, in düsteren Farben vorgemalt wird. Ich sei nicht in der Lage, ihm eine Antwort zu geben, es sei denn eine negative; jedenfalls müsse ich aber die Angelegenheit meinen Vorgesetzten unterbreiten. Wann könne denn, im Falle der Annahme des Vorschlages, mit der Rückkehr unserer Beamten gerechnet werden?
General Wicharew meint, dass er am frühen Morgen des 30. Dezember in Moskau sein werde; er werde vermutlich zum Bericht zu Molotow zitiert werden. Er werde persönlich dafür besorgt sein, dass die schweizerischen Beamten, es bleiben ja eigentlich nur Feller, Meier und Bryner, sofort mit dem Flugzeug repatriiert werden. Brandenberg und Felber seien ja bereits auf dem Heimwege in die Schweiz8.
Ich nehme Abschied und begebe mich sofort zu Herrn Minister Stucki. Herr Minister Stucki ist der Auffassung, dass der Vorschlag der Russen «gemein» sei und abgelehnt werden sollte. In seinem Auftrage solle ich mich sofort ins Wattenwyl-Haus begeben, wo die Herren Bundesräte wahrscheinlich noch versammelt seien, und Herrn Bundesrat Petitpierre die Angelegenheit unterbreiten.
Ich treffe im Wattenwyl-Haus um 16.30 Uhr ein und berichte Herrn Bundesrat Petitpierre auftragsgemäss über die Besprechung mit dem General und die Bedenken von Herrn Minister Stucki. Ich versuche insbesondere so objektiv wie möglich die drei Seiten des Problems zu beleuchten (die rechtliche – die Auslieferung Nowikoffs ist nicht angängig, weil er ein militärpolitisches Delikt begangen hat; die menschliche – unsere Pflicht, nichts zu unterlassen, um das Leben von Schweizern, welches offenbar bedroht ist, zu retten; und die politische – die Verwerfung des russischen Vorschlages könnte allenfalls die Bereitschaft der Sowjetunion, die diplomatischen Beziehungen mit der Schweiz aufzunehmen9, im ungünstigen Sinne beeinflussen).
Es wird eine Sitzung des Bundesrates abgehalten10 und um 16.50 Uhr der Entscheid bekanntgegeben: einstimmig beschlossen, den russischen Gegenvorschlag anzunehmen.
Daraufhin empfängt Herr Bundesrat Petitpierre Generalmajor Wicharew zur Abschiedsaudienz um 17 Uhr11.
- 1
- E 2801/1967/77/9. Paraphe: YG. Diese Notiz wurde von A. Zehnder erstellt und unterschrieben.↩
- 2
- Vgl. das Schreiben des Politischen Departements an A. I. Wicharew vom 6. Dezember 1945, E 2001 (E) 1/100.↩
- 3
- Zum Fall H. Feller und M. Meier in Budapest siehe E 2001 (D) 7/16, E 2001 (E) 1/103, 104 sowie E 2801/1967/77/3.↩
- 5
- Zum Fall Ch. Brandenberg und H. Felber in Elbing siehe E 2001 (D) 7/20.↩
- 6
- Siehe E 2001 (E) 1/102.↩
- 7
- Zum Fall W. Nowikow und G. Kočetow siehe E 2001 (E) 1/103 sowie E 2801/1967/77/3.↩
- 8
- Siehe Anm. 4.↩
- 9
- Zur Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen der Schweiz und der Sowjetunion am 18. März 1946 siehe E 2001 (E) 3/1, DDS, Bd. 16, Dok. 64, dodis.ch/50, Dok. 14, dodis.ch/1914 sowie Thematisches Verzeichnis in diesem Band: UdSSR – Politische Beziehungen.↩
- 10
- Siehe BR-Prot. Nr. 3326 vom 28. Dezember 1945, E 1004.1 1/464.↩
- 11
- Siehe E 2801/1967/77/3.↩
Verknüpfungen mit anderen Dokumenten
http://dodis.ch/53 | ist Ergänzung zu | http://dodis.ch/1914 |
http://dodis.ch/53 | ist Ergänzung zu | http://dodis.ch/50 |
Tags
Internierte und Kriegsgefangene (1939–1946)