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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 27, doc. 100
volume linkZürich/Locarno/Genève 2022
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001E-01#1988/16#5697* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(E)-01/1988/16 1029 | |
Dossier title | Beziehungen der Schweiz zu anderen Staaten (1976–1978) | |
File reference archive | B.15.21 • Additional component: Tschechoslowakei |
dodis.ch/49249Der schweizerische Botschafter in Prag, W. Jaeggi, an den Generalsekretär des Politischen Departements, A. Weitnauer1
Während meiner Ferienabwesenheit legte der tschechoslowakische Aussenminister2 dem Parlament am 25. Oktober einen Rechenschaftsbericht über die Tätigkeit seines Ministeriums während der zwei letzten Jahre vor. Mein Stellvertreter, Herr von Salis, hatte Ihnen hierüber mit PB Nr. 33 vom 31. Oktober 19773 berichtet. In diesem Bericht wird erwähnt, dass unser Land, angeblich aus Versehen, bei der Aufzählung der Länder, mit welchen die ČSSR bilaterale Beziehungen unterhält, «übergangen» worden war. Diese dem Schweizerischen Geschäftsträger a. i. von Chňoupek gegebene Erläuterung hat weder mich noch manchen meiner Kollegen restlos überzeugt. In einem sozialistischen Lande wird nichts dem Zufall überlassen. Dass die Schweiz einfach mit Stillschweigen bedacht wird, ist erstaunlich, nachdem im Laufe des Jahres der Generalsekretär des EPD während dreier Tage in Prag einen offiziellen Besuch abstattete4, eine von Botschafter Sommaruga geleitete Handelsdelegation hier weilte5, der Verwaltungsdirektor Botschafter Janner nach Prag reiste und der Ausquartierung aus dem Palais Schwarzenberg zustimmte6 und erstmals in der Geschichte der ČSSR eine siebenköpfige schweizerische parlamentarische Delegation eine Woche lang auf offizielle Einladung hin das Land bereiste7. Ferner hat die Firma Sulzer eine Handelsniederlassung eröffnet8. Das Stillschweigen lässt sich somit nicht mit «Vergesslichkeit» begründen.
Nun meldete mir gestern mein erster Mitarbeiter9, er habe unabhängig voneinander aus italienischer und portugiesischer Quelle vernommen, Aussenminister Chňoupek hätte anlässlich seiner kürzlichen Gespräche in Ankara, wo er vom 12. bis 16. November 1977 auf offiziellem Besuch weilte, sich seinem türkischen Kollegen10 gegenüber beim Tour d'horizon über die bilateralen Beziehungen der UDSSR mit Drittländern dahin geäussert, diese könnten mit zwei Ländern, nämlich Italien und der Schweiz, besser sein. Um mich über den genauen Sachverhalt unterrichten zu lassen, sprach ich heute bei meinem türkischen Kollegen11 vor. Dieser empfing mich in seinem Arbeitszimmer, wo er mit Blick zur Decke erklärte, in den Gesprächen in Ankara sei die Schweiz nicht erwähnt worden. Chňoupek habe lediglich wiederholt, was er bereits vor dem Parlament über die bilateralen Beziehungen gesagt hat. Beim Verabschieden führte mich der türkische Botschafter noch in den Residenzgarten. Dort bestätigte er mir, das Chňoupek in der Tat und ohne hiefür eine Erläuterung abzugeben, wörtlich erklärt habe, «avec l'Italie et la Suisse les relations pourraient être meilleures».
Im Verhältnis zu Italien kann es für diese Äusserung vielerlei Gründe geben, vom Eurokommunismus12 bis zum abgesprungenen ehemaligen Radio- und Fernsehredaktor Pelikan, der von Rom aus die Vorgänge in seiner früheren Heimat kommentiert.
Was die Schweiz anbetrifft, ist die Tatsache, dass wir nahezu 16'000 tschechoslowakische Flüchtlinge beherbergen13, den hiesigen Gewalthabern gewiss ein Dorn im Auge. Die schweizerische Haltung in Sachen Menschenrechte mag ebenfalls missfallen14. Der tiefere Grund für eine allfällige Missstimmung des Aussenministers der Schweiz gegenüber liegt m. E. jedoch in der Tatsache, dass Sie, Herr Generalsekretär, anlässlich Ihres Besuches in Prag weder Vizeminister Dušan Spačil noch den Aussenminister zu einem offiziellen Besuch der Schweiz eingeladen haben, obschon Ihr Gesprächspartner deutlich gesagt hat, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern könnten durch gegenseitige Besuche der Aussenminister noch verbessert werden. Diese Bemerkung übergingen Sie bekanntlich mit Stillschweigen.
Bereits früher hatte ich das Departement wissen lassen (vide m[einen] Bericht über die Antrittsvisite beim Aussenminister vom 21.10.7615), Ing. Bohuslav Chňoupek möchte gerne der Schweiz einen offiziellen Besuch abstatten. Als Chňoupek im Laufe des Jahres einmal in Bern war, soll Bundesrat Graber eine kurzfristige Einladung auf die ČSSR-Botschaft in Bern abgelehnt haben16. Kontaktnahmen mit ausländischen Kollegen liegen Chňoupek offenbar sehr am Herzen. Sein Bestreben geht ganz offensichtlich dahin, von möglichst vielen Aussenministern zu einem Besuch eingeladen zu werden oder mit ihnen in Prag Gespräche zu führen. Davon verspricht er sich, das Ansehen der ČSSR in den Augen der Welt zu fördern.
Der italienische Aussenminister17, der anfangs des Jahres eingeladen worden war, auf einem Flug Moskau-Rom in Prag Zwischenhalt zu machen, lehnte im letzten Moment ab, angeblich weil er unpässlich war. Vis-à-vis Italien könnte diese Absage ebenfalls der eigentliche Grund für die Äusserung Chňoupeks in Ankara sein.
Schliesslich bleibe nicht unerwähnt, dass der Besuch des tschechoslowakischen Aussenministers in der Türkei nicht auf eine Initiative der Türkei hin erfolgt ist. Chňoupek habe bei einem Gespräch in der UNO in New York seinen türkischen Kollegen um eine entsprechende Einladung ersucht. Da die Türkei ein gastfreundliches Land sei, habe man seinem Wunsch (ohne grosse Begeisterung in Ankara) entsprochen.
Zwischen der Tschechoslowakei und der Schweiz gibt es zur Zeit keine Probleme18. Der schweizerische Botschafter wird hier überall mit grosser Zuvorkommenheit empfangen und behandelt. Anlässlich zweier kürzlichen Begegnungen mit Chňoupek war dieser mir und meiner Frau19 gegenüber äusserst jovial und freundlich. Die vom Aussenminister der ČSSR in der Türkei gemachte Äusserung ist m. E. somit fehl am Platz, selbst wenn aus dessen Sicht die gegenseitigen Beziehungen durch einen offiziellen Besuch der Schweiz noch eine Aufwertung erfahren könnten.
- 1
- Schreiben: CH-BAR#E2001E-01#1988/16#5697* (B.15.21). Visiert von A. Greber, A. Weitnauer, A. Maillard, A. Hegner und K. O. Wyss. Handschriftliche Marginalie: noté. Kopie an A. Maillard.↩
- 2
- B. Chňoupek.↩
- 3
- Vgl. Doss. CH-BAR#E2300-01#1988/91#159* (A.21.31).↩
- 4
- Vgl. dazu die Notiz von A. Weitnauer und H. Renk vom 2. Juni 1977, dodis.ch/48198.↩
- 5
- Vgl. dazu den Bericht von L. Roches vom 6. Juli 1977, dodis.ch/49250. Vgl. ferner die Notiz von I. Pawloff vom 16. Oktober 1978, dodis.ch/49251.↩
- 6
- Vgl. dazu Doss. CH-BAR#E2004B#1990/219#6942* (a.632.11).↩
- 7
- Vgl. dazu das Schreiben von W. Jaeggi an A. Weitnauer vom 17. Septmber 1977, dodis.ch/49252.↩
- 8
- Vgl. dazu das Schreiben von W. Jaeggi an die Handelsabteilung des Volkswirtschaftsdepartemnts vom 22. November 1977, CH-BAR#E7110#1988/12#1164* (821).↩
- 9
- G. von Salis.↩
- 10
- İ. S. Çağlayangil.↩
- 11
- H. Sayınsoy.↩
- 12
- Vgl. dazu die Notiz von J. C. Bucher und S. Michl-Keller vom 28. Juli 1977, dodis.ch/50561 sowie das Referat von P. Graber vom 24. August 1977 für die Sitzung vom 30./31. August 1977 der Kommission für Auswärtige Angelegenheiten des Nationalrats, dodis.ch/48328.↩
- 13
- Zu den tschechoslowakischen Flüchtlingen vgl. DDS, Bd. 24, Dok. 108, dodis.ch/33048; DDS, Bd. 25, Dok. 19, dodis.ch/35677; die Notiz von C. Caratsch an A. Weitnauer vom 10. Mai 1977, dodis.ch/49254; die Notiz von H.-P. Schöni vom 8. September 1977, dodis.ch/49264 sowie den Bericht von W. Glarner vom 26. April 1978, dodis.ch/49255.↩
- 14
- Für eine Intervention der schweizerischen Delegation beim Belgrader Treffen der KSZE zu Gunsten der Einhaltung von Menschenrechten in der UdSSR vgl. DDS, Bd. 27, Dok. 96, dodis.ch/48698. Vgl. auch die schweizerische Intervention im Arbeitsorgan H vom 18. Oktober 1977, dodis.ch/53032. Zur Frage der Entwicklung einer schweizerischen Menschenrechtspolitik vgl. DDS, Bd. 27, Dok. 114, dodis.ch/49960.↩
- 15
- Schreiben von W. Jaeggi an A. Weitnauer vom 21. Oktober 1976, dodis.ch/49253.↩
- 16
- Zu den Kontakten zwischen P. Graber und B. Chňoupek anlässlich der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki 1975 vgl. DDS, Bd. 26, Dok. 160, dodis.ch/38322, Punkt 6.↩
- 17
- A. Forlani.↩
- 18
- Allgemein zu den bilateralen Beziehungen vgl. die Schlussberichte von J.-D. Grandjean an A. Janner vom 18. Juni 1976, dodis.ch/49262 und von W. Jaeggi an A. Janner vom 24. Oktober 1978, dodis.ch/49263. Vgl. auch DDS, Bd. 27, Dok. 179, dodis.ch/49256.↩
- 19
- M. Jaeggi-Kaenzig.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/49253 | is mentionned in | http://dodis.ch/49249 |
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Czechoslovakia (Economy) Czechoslovakia (Politics) Diplomacy of official visits