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Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 15, Dok. 30
volume linkBern 1992
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2001D#1968/74#316* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2001(D)1968/74 13 | |
Dossiertitel | Kriegsflüchtlinge (Zivilpersonen). Allgemeines (1942–1945) | |
Aktenzeichen Archiv | B.55.45.00 |
dodis.ch/47634
PROTOKOLL
EINER BESPRECHUNG ÜBER DIE FLÜCHTLINGSFRAGE AM 29. OKTOBER 1943, 10.00 H. IM SITZUNGSZIMMER DES BUNDESRATES.
Vorsitz: Minister Bonna. Anwesend:
Dr. Rothmund, Chef der Polizeiabteilung,
Fürsprecher Schürch, von der Polizeiabteilung,
Professor Keller, Handelsabteilung,
Dr. Saxer, Direktor des Kriegsfürsorge-Amtes,
Oberstleutnant Chauvet, Kommissariat für Internierung,
Herr Walther, Büro des Herrn von Haller,
Legationsrat Wagnière, Abteilung für Auswärtiges,
Dr. Reichenau, Abteilung für Auswärtiges,
Dr. Gmür, Abteilung für Auswärtiges.
Minister Bonna: (eröffnet die Sitzung, verliest das Memorandum der Gesandtschaft der Vereinigten Staaten sowie unsere Antwort vom 25. Oktober3).Gegenstand der Konferenz ist das Sammeln der Desiderata der verschiedenen interessierten Verwaltungszweige, um eine zweite Note an die Britische und Amerikanische Gesandtschaft vorzubereiten. Es gilt, das Flüchtlingsproblem in seiner Ganzheit und im Zusammenhang mit unserer gesamten Aussenpolitik zu betrachten und sich nicht auf Einzelheiten zu beschränken.
Die Flüchtlinge kämen in eine üble Lage, wenn die Schweiz in den Krieg einbezogen werden sollte. Herr Bundesrat Pilet möchte daher vor allem betont wissen, wie wichtig in diesem Zusammenhang die peinliche Wahrung unserer Neutralität vor allem von Seiten der angelsächsischen Mächte sich darstellt. Unser Vertrauen in den unumstösslichen Willen der amerikanischen und britischen Regierung, unsere Neutralität zu respektieren, ist durch die verschiedenen Überfliegungen etwas erschüttert worden. Ich eröffne die Diskussion und darf Herrn Dr. Rothmund bitten, sich zunächst vernehmen zu lassen.
Dr. Rothmund: Die Frage der Hilfeleistung des Auslandes an die Schweiz wird im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage nicht zum ersten Mal aufgeworfen. Wir haben bisher immer den Standpunkt vertreten, dass wir uns nicht zu sehr auf fremde Hilfe verlassen dürfen. Herr von Haller hat sich immer wieder gegen eine Hilfe des Auslandes zur Wehr gesetzt, denn wer zahlt befiehlt.
Ein zweiter Grund, der uns zur Zurückhaltung zwingt, ist der folgende:
Wenn in einem Lande wie Amerika in der Öffentlichkeit eine Sammlung zugunsten der Flüchtlinge in der Schweiz veranstaltet würde, nähmen sich unsere eigenen Bemühungen demgegenüber voraussichtlich reichlich gering aus und der moralische und politische Erfolg bliebe für uns null. Bei den Juden war es schon ganz ähnlich, denn die Schweizer Juden erhielten für ihre Unterstützungsbeiträge finanzielle Hilfe aus Amerika. Herr Bundesrat von Steiger hat nicht so grosse Bedenken wie ich.
Nach der Respektierung der Neutralität sollte in erster Linie die Frage nach dem Abfluss der Flüchtlinge nach dem Kriege gestellt werden. Es handelt sich nicht um die Mittel, sondern allein darum, dass wir sie tatsächlich wegbringen. Die Polizeiabteilung hat sich seit langem gegen die Überfremdung gewehrt. Vor allem stellt sich diese Frage bei den Juden und es ist zu erwarten, dass das Hauptkontingent der Flüchtlinge aus Italien immer mehr aus Juden bestehen wird. Es liegt bereits ein Versprechen der holländischen Regierung vor, wonach sie sich verpflichtet, die in ihrem Lande ansässig gewesenen Flüchtlinge wieder zurückzunehmen.
Minister Bonna: (dankt für die Ausführungen und gibt das Wort Herrn Direktor Saxer.)
Direktor Saxer: Wir beschäftigen uns zurzeit nur in beschränktem Umfange mit der Flüchtlingsfrage. Was die Kosten anbetrifft, hatten wir mit Frankreich keinerlei Anstände. Alles wurde anstandslos bezahlt. Nur mit einer Frage haben wir zu tun - im übrigen ist die Polizeiabteilung zuständig - nämlich mit der Versorgung mit Kleidern, Schuhen etc. Was geschieht, wenn wir nicht mehr über genügend Vorräte in diesen Artikeln verfügen? Die gegenwärtig im Gang befindliche Sammlung verspricht gute Resultate. Unter Umständen müssen wir aber das Volkstuchlager angreifen, denn wir brauchen 15 000 Paar Männerhosen für die Flüchtlinge. Wir geben diese natürlich nur ab, wenn wir sie ersetzt erhalten. Eine prekäre Situation ist zurzeit allerdings nicht vorhanden. Wir kommen mit unsern Mitteln noch aus. Sollte aber noch eine wesentlich grössere Anzahl von Flüchtlingen eintreffen, so würde es allerdings anders. Ich bin ebenfalls der Ansicht, dass wir, wenn möglich, nichts vom Ausland annehmen sollen, es sei denn, unsere Bevölkerung selbst müsse Not leiden.
Minister Bonna: So lange wie möglich wollen wir keine Almosen annehmen. Hingegen müssen wir versuchen, neue Vorräte anzulegen. Bevor wir unsere Reserven antasten, müssen wir die Sicherheit haben, dass wir sie wieder auffüllen können. Das ist gegenwärtig die dringendste Frage. Es würde mich interessieren, die Auffassung von Herrn Professor Keller zu vernehmen.
Professor Keller: Die Wirtschaftskommission hat sich bisher an die Weisung von Herrn Bundesrat Pilet-Golaz gehalten, wonach die humanitären Werke der Schweiz mit der Handelspolitik nicht verknüpft werden sollen. Es bleibt uns auf diese Weise immer noch die Möglichkeit, im gegebenen Moment unsere Leistungen auf diesem Gebiet in irgendeiner Weise und eventuell auch kommerziell auszuwerten. Dasselbe gilt auch für die Leistungen des Roten Kreuzes. Im wesentlichen bleibt es eine Frage des Masses, wann und in welchem Umfang wir gewisse Forderungen an die angelsächsischen Mächte stellen wollen. Die Angelegenheit hat aber auch ein innenpolitisches Gesicht. Z. B. ist jetzt die Kondensmilch in der Schweiz kontingentiert worden. Zugleich führen wir durch das I.R.K. Kondensmilch nach dem Ausland aus. Wenn im Volk die beiden Tatsachen bekannt werden, so ist es verständlich, dass man sie miteinander in Verbindung bringt, was zu einer Misstimmung führen könnte. Es schiene mir keine Bettelei zu sein, wenn wir den Amerikanern und Engländern die Frage von Zusatzkontingenten auf die normale Einfuhr vorlegen, denn man hat die Zufuhren auf Grund der schweizerischen Wohnbevölkerung errechnet, sodass wir ruhig mehr verlangen können, nachdem die Bevölkerung sich um ca. 60000 Seelen erhöht hat. Auf alle Fälle werden wir alles bezahlen, was wir erhalten. Es handelt sich also nicht um ein Geschenk. Die Frage ist lediglich eine technische, denn es soll nur die Einfuhrquote erhöht werden. Dies erscheint den Engländern vielleicht als Entgegenkommen, aber als Geschenk wird es uns nicht ausgelegt werden können.
Wenn ich richtig verstanden habe, sollen die humanitären Werke der Schweiz auf einer höhern Ebene zugunsten unserer Neutralität eingesetzt werden. Ob es sich unter diesem Gesichtspunkt machen lässt, ein einzelnes Sonderproblem herauszugreifen und in den grössern Zusammenhang zu stellen, möchte ich allerdings bezweifeln. Unser grösster Wunsch wäre eine Erleichterung auf dem Gebiete der Warenversorgung und der schwarzen Liste. Das diesbezügliche Vorgehen der Engländer hat jedoch seine eigenen Quellen (Wirtschaftskrieg), an die wir auch bei Ausnützung der humanitären Werke nicht herankommen können. Es ist uns schon jetzt der Vorwurf gemacht worden, wir werteten unsere humanitären Leistungen kommerziell aus. Auf der ändern Seite sind wir froh, nach den vielen Vorwürfen, die wir haben entgegennehmen müssen, wieder einmal ein Wort oder einen Akt der Anerkennung zu erhalten. Ich möchte daher vorschlagen, das Ersatzbegehren lediglich von der ökonomischen Seite her zu stellen, es aber nicht mit der Humanität zu verbinden.
Minister Bonna: Ich danke für die aufschlussreichen Darlegungen des Herrn Vorredners. Es wird im wesentlichen eine Frage des Masses sein, wie weit wir gehen können. Herr Bundesrat Pilet möchte Garantien in folgender Hinsicht:
1. Anerkennung unserer Neutralität,
2. Sicherheit und Ruhe im Innern. Den Flüchtlingen soll Arbeit in dem Masse verschafft werden, als es sich mit Rücksicht auf den Arbeitsmarkt verantworten lässt. Es darf in unserem Lande wegen der Flüchtlinglingsfrage keine Arbeitslosigkeit entstehen.
3. Auffüllen unserer Vorräte. Wir wollen keine Geschenke für uns, sondern möchten alles bezahlen was zusätzlich geliefert wird. Dafür benötigen wir die entsprechenden navicerts sowie die Freigabe von blockierten Geldern zum Kaufe der nötigen Lebensmittel und ändern Artikel. Glaubt Herr Professor Keller, dass dies gehen würde?
Professor Keller: Ich glaube kaum, denn wir können mit Erfolg nur auf den Gebieten weitergehen, auf denen bereits Zufuhren bestehen. Wir müssen dabei technisch unterscheiden zwischen der Einfuhr von Lebensmitteln und derjenigen von Industrierohstoffen.
Zufolge4 des Flüchtlingszustroms hat die Kriegswirtschaft bereits das Begehren um Zusatzquoten für die Übersee-Zufuhren gestellt. Wir werden diese Frage weiter verfolgen5.
Was die Industrierohstoffe anbetrifft, sollte hingegen das Begehren um Bewilligung neuer, bisher nicht vorhandener Zufuhren nicht gestellt werden, solange nicht ganz allgemein neue Quellen geöffnet sind. Es würde sich also darum handeln, die Kontingente zu erhöhen, denn es ginge nicht an, für die Fremden etwas zu erhalten, was wir nicht einmal für unsere Armee bekommen.
Minister Bonna: Ich gehe ganz einig damit, nicht in Details einzutreten. Vielleicht wird in diesem Zusammenhang Herr Oberstleutnant Chauvet noch einiges beizufügen haben.
Oberstleutnant Chauvet: Ca. 30000 der aufgenommenen Flüchtlinge waren ohne Kleider und Schuhe. Für die entwichenen Kriegsgefangenen erhielten wir Bekleidungsstücke vom Roten Kreuz6. Uniformen und Schuhe jedoch haben wir keine7. Ich frage mich, ob man sich nicht auch in dieser Hinsicht an das Rote Kreuz8 wenden könnte.
Minister Bonna: Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, dass wir uns an das Ausland wenden. Es soll den Anschein haben, dass wir selbst das Erforderliche aufbringen; dagegen müssen wir unsere eigenen Vorräte zu ersetzen suchen.
Direktor Saxer: Wenn die Herstellung von Uniformen unmöglich ist, sollte man versuchen, den Militärpersonen Armbinden abzugeben und sie im übrigen in Zivilkleider zu stecken.
Minister Bonna: Wir dürfen unsere Politik nicht an Fragen der Kleidung anketten. Es ginge daher kaum an, in unserer Note zu sagen, es fehlten uns vor allem Uniformen, ganz abgesehen davon, dass es sehr schwierig wäre, überhaupt welche zu erhalten. Die Lösung mit der Armbinde scheint mir gut. Die Hauptsache ist, dass die Leute nicht frieren.
Oberstleutnant Chauvet: Wir haben bereits mit der Abgabe von Armbinden begonnen.
Direktor Saxer: (antwortet auf das Votum von Professor Keller): Die Engländer könnten, wenn wir zusätzliche Lebensmittelquoten verlangen, darauf hinweisen, dass die Coupon-Sammlung des Roten Kreuzes eine Reserve geschaffen habe, auf die zugunsten der Flüchtlinge gegriffen werden könnte. Ich möchte Herrn Professor Keller jetzt schon darauf hinweisen, dass dies nicht angängig wäre, denn die Coupon-Sammlung wurde nur zugunsten der Kinder durchgeführt und gegebenenfalls kommt sie auch noch den Schweizern im Ausland zugute. Ausländische Erwachsene und Militärpersonen profitieren hingegen keinesfalls davon. Das Ergebnis der Coupon-Sammlung ist in runden Zahlen etwa das folgende:
Wir erhielten Coupons für: ca. 5 Millionen Kg. Lebensmittel,
1 Million Textileinheiten,
25 Millionen Schuheinheiten,
190 Millionen Seifeneinheiten.
Wenn die genauen Zahlen bekannt sein werden, werde ich sie Ihnen mitteilen. Zur Zeit sind keine Kinder in der Schweiz. Wir haben eine Reserve, die wir für die Bedürfnisse des Dienstes des Herrn Scheim brauchen.
Minister Bonna: Sehr wahrscheinlich werden bald wieder Kinder einreisen. Englischerseits beschäfigt man sich intensiv mit dieser Frage. Heute wollen wir allerdings nicht zu sehr schon darauf zu sprechen kommen. Jedenfalls sollte über den Erfolg der Coupon-Sammlung nichts veröffentlicht werden.
Professor Keller: Ich möchte Gewicht darauf legen, dass insbesondere das Resultat der Sammlung von Seifencoupons geheim bleibt, denn wir bemühen uns in London ständig, mehr Seife und Fettstoffe zu erhalten unter dem Hinweis auf den Mangel, der bei uns besteht. Das Bekanntwerden der Sammlung würde daher ausserordentlich schlechten Eindruck machen und unsere Situation verschlechtern.
Wir werden mit dem Antrag auf Erhöhung der Lebensmittelquote zuwarten, bis die in Aussicht genommene Note weg ist. Rein technisch gesehen dürfen wir nicht zuerst vorgehen.
Minister Bonna: Wir hoffen im Laufe der nächsten Woche so weit zu sein, dass wir jede einzelne der interessierten Stellen nochmals begrüssen können, bevor wir die Note abschicken.
Herr Wagnière: Man sollte vielleicht noch die Kostenfrage aufwerfen.
Minister Bonna: Die Versorgung der Flüchtlinge kommt uns sehr teuer zu stehen. Vielleicht hat Herr Dr. Reichenau bereits einige Zahlen.
Dr. Reichenau: Über genaue Ziffern verfüge ich nicht, dagegen wurden mir einige Richtzahlen bekanntgegeben. Ein Internierter kostet im Tag Fr. 5.50. Wenn er im Arbeitslager ist Fr. 8.–. Die Kosten für die Insassen der Auffanglager betragen täglich Fr. 4.–.
Dr. Rothmund: Der Grund für diese Unterschiede liegt darin, dass die Arbeitslager besser ausgebaut werden müssen und die Leute Sold erhalten. Allerdings wird das Resultat der Arbeit von den aufgewendeten Kosten nachher noch abzuziehen sein.
Minister Bonna: Es wäre nützlich, wenn wir den ungefähren Betrag des bisher aufgewandeten Geldes angeben könnten. Wenn das nicht möglich sein sollte, lassen wir das ganze Problem lieber beiseite. Ich bitte Herrn Dr. Reichenau, sich mit Herrn Oberstleutnant Chauvet noch wegen den Kosten der Internierung in Verbindung zu setzen.
- 1
- Ce procès-verbal a été rédigé par F. Gmür, du Département politique, qui adresse ce document à H. Walther, collaborateur du Délégué du Conseil fédéral aux œuvres d’entraide internationale pour son information et avec prière de traiter ce procès-verbal comme strictement confidentiel. Il a été fait pour usage interne seulement.↩
- 2
- (Copie): E 2001 (D) 1968/74/3. Paraphe: KX.↩
- 3
- Cf. E 2001 (D) 3/275.↩
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Internierte und Kriegsgefangene (1939–1946)